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Jörn Etzold

GRENZEN DER REPRÄSENTATION Die Ruhrtriennale und BDS

Christoph Marthaler, „Nach den letzten Tagen. Ein Spätabend“, Ruhrtriennale, 2019

Christoph Marthaler, „Nach den letzten Tagen. Ein Spätabend“, Ruhrtriennale, 2019

Die Tatsache, dass Geschichte umkämpft ist, zeigt, dass Erinnerung selbst eine Kultur ist: eine Praxis des Hervorbringens und Aushandelns von Bedeutung. Mehr noch hat die Kultur des Erinnerns selbst eine Geschichte. So wurde etwa in Deutschland die Erinnerung an den Holocaust lange Zeit verdrängt; die Auseinandersetzung mit der Shoah setzte nicht nur zögerlich ein, sondern drückte sich in der BRD und der DDR auch unterschiedlich aus. Dass sie heute Teil deutscher Staatsräson ist, ist zweifellos eine Errungenschaft. Sich vorschnell mit dem Erreichten zufriedenzugeben, wäre jedoch angesichts der alarmierenden Zunahme antisemitischer Diskriminierungen fahrlässig. Der Theaterwissenschaftler Jörn Etzold nimmt den Fall Mbembe zum Anlass, Deutschland als Ort des Sprechens über die eigene historische Verantwortung – die antifaschistische ebenso wie die dekoloniale – zu problematisieren.

Am 22. April verschickte die Ruhrtriennale – das internationale Festival, das seit seiner Gründung 2002 vor allem die für die Extraktion von Rohstoffen unnütz gewordenen Maschinen-, Gebläse- und Turbinenhallen des Ruhrgebietes mit Tanz- und Musiktheater, mit Konzerten und manchmal auch mit Schauspiel bespielt – eine Pressemitteilung, der zufolge die Ausgabe von 2020 „wegen Corona-Pandemie nicht stattfinden“ könne: „Gesundheit des Publikums, der Künstlerinnen und Künstler sowie der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hat absolute Priorität“, hieß es. Ein internationales Festival in großen Hallen kann natürlich zu einem Infektionsherd werden; Großveranstaltungen in Deutschland waren zum Zeitpunkt der Absage bis zum 31. August verboten, und das Festival sollte vom 14. August bis zum 20. September stattfinden. Allerdings arbeitete die künstlerische Leitung um Stefanie Carp – wie fast alle anderen Festivals und Häuser auch – bereits an einem Plan B, mit dem eine veränderte oder auch verkleinerte Version des Festivals hätte möglich werden sollen, die den Hygieneanforderungen in Zeiten der Pandemie entsprochen hätte.

Gemeinsam mit Kolleg*innen der Medienwissenschaft hatten wir vom Institut für Theaterwissenschaft der Ruhr-Universität im vorigen Jahr eine Tagung in Kooperation mit dem Festival organisiert und die Vorgänge dort sehr genau beobachtet. Daher kam ich wie andere Beobachter*innen der Szene nicht umhin zu vermuten, dass die ersatzlose Absage in Zusammenhang mit den scharfen Diskussionen um die Einladung für die Eröffnungsrede stand. Halten sollte die Rede der Philosoph Achille Mbembe, der mit seiner Critique de la raison nègre (2013) – ins Deutsche offenbar lieber als Kritik der schwarzen Vernunft übersetzt – ein viel gelesenes Werk der postkolonialen Theorie vorgelegt hat. Mbembe erklärt dort, der erst von der Moderne als solcher produzierte „Nègre“ sei „in der Ordnung der Modernität, der einzige von allen Menschen, dessen Fleisch zum Ding und dessen Geist zur Ware gemacht wurde, die lebende Krypta des Kapitals“. Und dennoch oder deswegen gebe es die Hoffnung, durch ihn könne „die Natur oder die Totalität des Lebens ein neues Gesicht, eine neue Stimme, eine neue Bewegung finden“. [1] Letztlich plädiert er für eine universalistische Perspektive und eine „Reparatur“ der Welt. [2]

Als die Einladung bekannt wurde, wandte sich der Landtagsabgeordnete Lorenz Deutsch, Mitglied der FDP-Fraktion, in einem offenen Brief an Carp und bat sie, seiner großen „Vorfreude“ auf das Festival zum Trotz, „dringend, die ausgesprochene Einladung zu überdenken“, denn Mbembe sei „Unterzeichner des BDS-Aufrufs zum akademischen Boykott Israels“. Deutsch zitierte Passagen aus Politiques de l’inimitié (2011) (Politik der Feindschaft [3] ), in denen Mbembe das südafrikanische Apartheidsregime und die israelische Besatzung einander gegenüberstellte: „Doch die Metapher der Apartheid reicht nicht aus, um das israelische Trennungsprojekt zu erfassen“, schrieb Mbembe dort: „Zunächst einmal ruht dieses Projekt auf einem recht einzigartigen metaphysischen und existenziellen Sockel. Die darunterliegenden apokalyptischen Ressourcen und Kata­strophen sind weitaus komplexer und geschichtlich viel tiefer verwurzelt als alles, was den südafrikanischen Calvinismus möglich machte.“ [4]

Dagegen lässt sich einwenden, dass nicht allein das israelische „Projekt“ – wenn man es denn so nennen möchte – sich aus tieferliegenden Ressourcen speist, sondern die gesamte komplexe Situation im Nahen Osten, wo sich Ängste, Ansprüche und Heilserwartungen von drei Monotheismen überlagern und konfrontieren. Wenig später bringt Mbembe dann die israelische Besatzung überhistorisch mit anderen „Ausrottungsphantasien“ [5] in Zusammenhang, die man auch im Handeln der Regierung Netanjahu selbst beim schlechtesten Willen nicht erkennen kann. Es scheint Mbembe auch nicht zu interessieren, dass der Nationalstaat Israel der sichere Hafen für jüdische Minderheiten in aller Welt ist.

Robert Siodmak, Edgar G. Ulmer, „Menschen am Sonntag“, 1930, Filmstill

Robert Siodmak, Edgar G. Ulmer, „Menschen am Sonntag“, 1930, Filmstill

Die Debatte nahm Fahrt auf. Dabei kam heraus, dass Mbembe nicht nur 2015 ein Vorwort für den Band Apartheid Israel verfasst, sondern noch 2018 aktiv an der Ausladung der israelischen Friedens- und Konfliktforscherin Shifra Sagy von einer Tagung aktiv mitgewirkt hatte (deren palästinensische Projektpartner wiederum von BDS-Unterstützer*innen beschimpft wurden). Die Frankfurter Allgemeine Zeitung und Die Welt aufseiten der Mbembe-Kritiker*innen einerseits, Deutschlandfunk Kultur aufseiten der Mbembe-­Verteidiger*innen andererseits überschlugen sich mit immer neuen Beiträgen (zwischen den Fronten verblieb u. a. die taz). Mbembe forderte eine Entschuldigung des Antisemitismusbeauftragten des Bundes, Felix Klein, der ihm eine Verharmlosung des Holocaust vorwarf, und drohte mit gerichtlichen Schritten. Der Aufsichtsrat der Kultur Ruhr GmbH berief eine Sondersitzung ein, auch der Oberbürgermeister von Bochum meldete sich zu Wort und erklärte, BDS dürfe in seiner Stadt keinen Platz haben. Mbembe erklärte in einem Artikel in der Zeit vom 23. April, dass er das Existenzrecht Israels als „grundlegend für das Gleichgewicht der Welt“ [6] ansehe.

Die Sache hatte bekanntlich eine Vorgeschichte: Im Jahr 2018 hatte die Einladung der Band Young Fathers, der eine Ausladung, Wiedereinladung und schließlich eine Absage der Band folgten, das Festival bereits an den Rand der Existenz gebracht. Die Young Fathers hatten ihre offene Unterstützung für BDS kundgetan. Insbesondere hatten sie im Jahr 2017 ihre Teilnahme am Berliner Pop-Kultur-Festival abgesagt, weil die israelische Botschaft einer eingeladenen israelischen Künstlerin 500 € (!) an Reisekostenzuschuss gezahlt hatte und deswegen als Kooperationspartner ausgewiesen war. Armin Laschet sagte seine Teilnahme an der Eröffnung ab. Insbesondere der Journalist Stefan Laurin, der auch im Fall Mbembe den Abgeordneteten Deutsch auf die Einladung aufmerksam gemacht hatte, griff Carp über die Internetplattform Ruhrbarone scharf an. Malca Goldstein-Wolf schrieb einen Protestbrief.

Die Durchführung der Ruhrtriennale wurde für das Team zu einer Belastungsprobe, in Mails und sozialen Medien war das emotional aufgeladene Thema sehr präsent. Das Festival zeigte dann Arbeiten von Christoph Marthaler, Sasha Waltz und das großartige Stück No President des New Yorker Nature Theater of Oklahoma; Laurie Anderson trat in der Lichtburg in Essen auf.

Im folgenden Jahr – 2019 – wurden wir dann als Institut für Theaterwissenschaft von der Kanzlerin der Ruhr-Universität angefragt, ob wir die geplante Neueinrichtung von Marthalers Stück Letzte Tage. Ein Vorabend im riesenhaften Audimax der Universität – nun unter dem Titel Nach den letzten Tagen. Ein Spätabend – in der Lehre begleiten möchten. Im Stück, das dann am 21. August zur Eröffnung des Festivals aufgeführt wurde, tagt ein fiktives Parlament in ferner Zukunft und feiert die Aufnahme des europäischen Rassismus in das Weltkulturerbe. Der brutalistische Bau des Audimax, dessen Inneneinrichtung von Anna Viebrock stammen könnte, diente als Weltparlament. Ungerührt tragen die Darsteller*innen Reden des Wiener Bürgermeisters Karl Lueger von 1894 und der FPÖ-Politikerin Susanne Winter von 2007 vor. Luigi Nonos „Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz“ erklingt, während die Darsteller*innen weit verstreut auf den Stühlen des leeren Auditoriums sitzen, die Münder aufgerissen zu stummen Schreien. Am Ende ziehen sie mit Felix Mendelssohns „Wer bis an das Ende beharrt, wird selig“ aus, die Töne verklingen langsam, während der Chor in den unsichtbaren Gängen des Gebäudes verschwindet.

WestEastern Divan Orchestra mit Daniel Barenboim, 2018

WestEastern Divan Orchestra mit Daniel Barenboim, 2018

Im Vorfeld dieser Aufführung nahmen wir die Kooperation mit der Ruhrtriennale auf. Ich hatte ohnehin eine Vorlesung zu „Repräsentation“ geplant, weitere Veranstaltungen behandelten die „Erscheinungsräume des Politischen“ nach Hannah Arendt oder postkoloniale Konstellationen. In Gesprächen mit dem Team um Carp vereinbarten wir zudem, dass die Ruhrtriennale ein Symposium mit eingeladenen Gästen ausrichtet, bei dem auch Studierende wissenschaftliche Arbeiten präsentieren, die aus den Veranstaltungen hervorgehen sollten. Astrid Deuber-Mankowsky, Leon Gabriel und ich programmierten das Symposium, die Dramaturgin Julia Naunin begleitete es; es trug den Titel Grenzen der Repräsentation, und die Ruhrtriennale fügte noch Krise der Demokratie hinzu. Als kurz vor der Tagung Jacques Schuster in der Welt verbreitete, der von uns eingeladenen ehemaligen Kuratorin des Jüdischen Museums Berlin, Cilly Kugelmann, würden „Mitarbeiter im Museum nachsagen, sie stehe einigen Ideen der antiisraelischen Boykottbewegung BDS nahe“ [7] , bereiteten wir uns auf verschiedene Szenarien vor. Doch es kamen fast nur unsere Studierenden, Kolleg*innen aus den anderen Fächern und einige kulturinteressierte Bochumer*innen.

Unser erklärtes Ziel war es, keine Stellvertreter*innenkriege auf der Bühne zu führen – weder Stellvertreter*innenkriege wie BDS noch um BDS. In der Gebläsehalle der Jahrhunderthalle Bochum wollten wir, einem Maschinenraum angemessen, untersuchen, wie Repräsentationen produziert werden, wer die Bühne der Repräsentation überhaupt erst betreten kann und wer nicht, welche ausschließende oder normierende Funktion Repräsentationen haben, warum sie aber wohl dennoch unverzichtbar sind. Die Anthropologin Rosalind Morris aus New York hielt einen fulminanten Vortrag mit dem Titel „Notes from the Anticolonial South“ und machte die Hörenden mit Ishmael Reeds The Terrible Twos und Black Sunlight von Dambudzo Marechera bekannt, Cilly Kugelmann erklärte in einer Podiumsdiskussion höchst differenziert ihre Arbeit im Jüdischen Museum. Weitere Vorträge behandelten Walter Benjamins Kritik der Gewalt (Deuber-Mankowsky), Arendts Kapitel zu den Rechtlosen aus Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (Bettine Menke) und die Rolle der Demagogen in der athenischen Polis (Julia Stenzel). Mit Stefanie Carp sprach ich über die Auswahl der Texte für Nach den letzten Tagen und über die Neue Rechte.

Später fand der von Philipp Schulte geleitete Festivalcampus der Ruhrtriennale statt, der in jedem Jahr internationale Studierende zusammenbringt. In jenem Jahr gab es durch eine Kooperation mit Nikolaus Müller-Schöll von der Goethe-Universität Frankfurt besondere Mittel für die Ausrichtung eines Doktorand*innenworkshops über die Grenzen Europas hinaus. So nahmen auch Doktorand*innen der University of Chicago unter der Leitung von David Levin und von der Universität Tel Aviv unter der Leitung von Daphna Ben-Shaul und Dror Harari teil. Ben-Shaul besuchte uns dann noch einmal im Wintersemester am Institut für Theaterwissenschaft und hielt einen Vortrag über die israelische Staatsgründung, ausgehend von Jacques Derridas Declaration of Independence, sowie über Reenactments dieser Gründung durch die Performancegruppe Public Movement aus Tel Aviv und das Duo Sala-Manca aus Jerusalem, die Installationen entwickelten. Wir hatten intensive Diskussionen, unter anderem über die möglicherweise doch zu unterscheidenden Konzepte des sich in der Gründung erst konstituierenden amerikanischen und des jüdischen „Volks“. Eine im Anschluss an den Besuch geplante Exkursion des Instituts nach Tel Aviv wurde wegen der Pandemie nur verschoben.

In der Debatte um Mbembe kochten dann die unversöhnlichen Fronten wieder hoch. Ich habe mich immer gefragt, woher der Fokus der BDS-Aktivist*innen auf Israel rührt. Während ich mir bei jüdischen Intellektuellen wie Judith Butler und Eyal Weizman kein Urteil anmaßen möchte – hier gehen die Auseinandersetzungen über Rolle und Funktion des jüdischen ­Staates tiefer, die Verbindungen und persönlichen Prägungen sind komplex und jeweils in ihrer Singularität ernst zu nehmen –, ist mir immer sehr unklar gewesen, warum Philosoph*innen, Literaturwissenschaftler*innen, aber auch Musiker*innen und Künstler*innen weniger Interesse an der Zerstörung ganzer Lebensräume durch globale Extraktion, an sklavenähnlichen Arbeitsverhältnissen in den arabischen Ländern oder an von der westlichen Welt vollkommen vergessenen Zonen wie Zentralafrika zeigen als an einer Demokratie, in der auch eine seit über zehn Jahren regierende rechtsnationale Regierung trotz aller Gängelungen noch nicht die Repräsentation der arabischen Israelis in der Knesset hat abschaffen können.

Fast ebenso sehr verstört mich jedoch die eigentümlich selbstgewisse deutsche Haltung gegenüber postkolonialen Stimmen, die der Antisemitismusforscher Felix Axster in einem sehr lesenswerten Artikel im Freitag zu Recht als „provinziell“ [8] bezeichnete. Klein, der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, lief direkt nach seiner Ernennung beim „Marsch des Lebens“ der TOS-Dienste Deutschland mit – einer fundamental-evangelikalen Vereinigung, die alle Jüd*innen zur Rückkehr ins Heilige Land auffordert, auf dass Christus ein zweites Mal erscheine und sie endlich bekehren möge. [9] Nun erklärte derselbe Klein in einem Interview mit der Zeit, eine Frage müsse noch einmal ganz neu gestellt werden: „Nämlich die Frage, wie es um das Verhältnis der postcolonial studies zum Antisemitismus bestellt ist.“ Und Klein weiter: „Ganz offensichtlich kollidieren manche dieser Theorien mit unserer Erinnerungskultur, die ich als Errungenschaft ansehe.“ [10] Sicherlich ist es absolut richtig, dass, wie Axster schreibt, „Kolonialismus und Nazismus nicht ineinander aufgehen“ [11] . Um es auf Mbembe zu beziehen: Der „Nègre“ ist nicht der „einzige von allen Menschen“, dessen Fleisch zum Ding gemacht wurde. [12] Die verschiedenen Formen der Gewalterfahrung lassen sich also keineswegs gleichsetzen, aber es ist notwendig, die Diskurse, die das Leid rechtfertigten und erzeugten, zu differenzieren. Dann könne man entweder, so Axsters Hoffnung, „feststellen, dass sich ein Raum auftut, der die Möglichkeit bereithält, jeweils spezifische traumatische Gewalt­erfahrungen zueinander in Beziehung zu setzen, bestenfalls in empathischer und solidarischer Weise“ – oder man könne, wie Axster es nennt, „die Tür zuknallen“ [13] .

Kleins Bezeichnung der – nicht abschließbaren – Durcharbeitung des Holocaust als „unsere[r] Erinnerungskultur“ aber verweist auf die Probleme im Inneren seiner Argumentation. Wenn „unsere Erinnerungskultur“ als „Errungenschaft“ gefeiert wird, besteht die Gefahr einer gewissen Zufriedenheit mit dem Erreichten, die jede weitere Kritik unnötig macht. Die historische Verantwortung angesichts der ‚Endlösung der Judenfrage‘ ist tatsächlich gewaltig und historisch einzigartig. Doch auch in Afrika hatte Deutschland eine sehr gewaltsame Rolle gespielt, so in Ruanda durch die wirkungsmächtige Einführung der Rassenlehre und in Namibia beim Völkermord an den Herero und Nama oder auch als Gastgeber der Berliner Kongokonferenz von 1884. Wie gesagt: Es kann nicht um die Vergleichbarkeit von Gewalterfahrungen gehen, und es ist sicherlich nicht an den Nachfahren der Täter*innen zu entscheiden, ob jene emphatisch miteinander in Beziehung gesetzt werden können. Die Entscheidung darüber, ob dies möglich ist, obliegt den Opfern und ihren Nachkommen. Doch sollten sich gerade Deutsche nicht dazu aufschwingen, zwischen Israel, Palästina und den Vertreter*innen postkolonialer Diskurse eindeutig zu richten. Ich unterstütze dahingehend Angela Merkel, dass sie 2008 die Sicherheit Israels als „nicht verhandelbar“ [14] bezeichnet hat. Ich vertrete das auch immer in Diskussionen. Ansonsten versuche ich, Demut und Vorsicht zu üben und zuzuhören. Wie immer man auch zu den Ein-und Ausladungen stehen mag: In ihren starken Momenten, so etwa in den Diskussionen beim Festivalcampus, im Third Space oder bei Faustin Linyekulas Congo (2019), war die Ruhrtriennale ein solcher Ort des Zuhörens.

Die Ruhrtriennale wird in diesem Jahr ausfallen. Im kommenden Jahr beginnt dann ein neuer Drei-Jahres-Zyklus unter neuer Intendanz. Das Festival, das seit seiner Gründung von dem in sich bereits problematischen landespolitischen Vorhaben getragen ist, die Knochenmühlen der Extraktion in „Kathedralen der Industriekultur“ zu verwandeln, ist in die offensichtlich aporetischen Diskussionen von Religion und Politik des Nahen Ostens geraten. Ich selbst möchte mich weiterhin mit Denker*innen aus Israel, den USA, Europa, aber endlich auch mehr Teilnehmer*innen aus Afrika und Asien in den Maschinenraum begeben, mit Demut und Neugierde, zuhörend und fragend. Dazu kann man Mbembe lesen und kritisieren, man kann ihn auch einladen und persönlich befragen – die von Mbembe selbst boykottierte Shifra Sagy plädierte interessanterweise genau hierfür. [15] Lesen sollte man sicher immer wieder auch Karl Marx; Michel Foucault und Gilles Deleuze; Jacques Derrida und Gayatri Spivak; W. E. B. DuBois, Aimé Césaire, Stuart Hall und Frantz Fanon; Silvia Federici, Angela Davis, bell hooks und Saidiya Hartman; Freddie Rokem, Daphna Ben-Shaul und Dror Harari; ebenso Felwine Sarr und Judith Butler. In jedem Fall aber sollten wir versuchen, im Gespräch zu bleiben.

Anmerkungen

[1]Achille Mbembe, Critique de la raison nègre, Paris 2013, S. 18f. (Übersetzung des Autors).
[2]Vgl. ebd., S. 259-263. Mbembe spielt mehrfach mit der Doppelbedeutung von „réparation“ als „Reparatur“ und „Entschädigung“.
[3]Deutsch zitiert eine online veröffentlichte englische Übersetzung des zweiten Kapitels des Buchs:  „Society of Enmity“, siehe https://www.radicalphilosophy.com/article/the-society-of-enmity.
[4]Achille Mbembe, Politik der Feindschaft, Frankfurt/M. 2017, S. 85.
[5]Ebd., S. 87.
[6]Achille Mbembe: „Die Welt reparieren“, in: Die Zeit, 18/2020, 23.4.2020.
[7]Jacques Schuster: „Sinnbild und Opfer eines deutschen Missstands“, in: Die Welt, 28.06.2019, https://www.welt.de/debatte/kommentare/article196058637/Juedisches-Museum-Sinnbild-und-Opfer-eines-deutschen-Missstands.html.
[8]Felix Axster, „War doch nicht so schlimm“, in: Der Freitag, 22/2020, https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/war-doch-nicht-so-schlimm.
[9]Vgl. Armin Langer, „Der Antisemitismusbeauftragte unter Judenfeinden?“, in: Die Zeit online, https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-06/felix-klein-antisemitismusbeauftragter-bundesregierung-demo-evangelikale.
[10]Adam Soboczynski, „Für eine Entschuldigung sehe ich keinen Anlass. Ein Gespräch mit Felix Klein“, in: Die Zeit, 19.5.2020, https://www.zeit.de/2020/22/felix-klein-holocaust-achille-mbembe-proteste.
[11]Axster: „War doch nicht so schlimm“.
[12]Eine differenzierte und Mbembe gegenüber kritische Übersicht über das Verhältnis von Postkolonialsmus und jüdischem Denken liefert Caspar Battegay: „Postkolonialismus und jüdisches Denken. Anmerkungen zur Debatte um Achille Mbembe“, in: Geschichte der Gegenwart, 13.5.2020, https://geschichtedergegenwart.ch/postkolonialismus-und-juedisches-denken-anmerkungen-zur-debatte-um-achille-mbembe/.
[13]Axster: „War doch nicht so schlimm“.
[14]„Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel vor der Knesset am 18. März 2008 in Jerusalem“, https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/bulletin/rede-von-bundeskanzlerin-dr-angela-merkel-796170.
[15]Christine Kensche, „Mbembe sollte nicht so behandelt werden, wie er uns behandelt hat“, in: Die Welt, 14.5.2020, https://www.welt.de/politik/ausland/article207972035/Antisemitismus-Vorwuerfe-Professorin-Shifra-Sagy-ueber-den-Fall-Mbembe.html.