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Aram Lintzel

WARUM ISRAEL Über die Kampagne Boycott, Divestment and Sanctions (BDS)

Rita Ostrovska, „Aufnahmezusage“ aus der Serie „Meine Emigration“, 2002

Rita Ostrovska, „Aufnahmezusage“ aus der Serie „Meine Emigration“, 2002

Historisch war der „Judenboykott“ eine Vorstufe zur Massenvernichtung. Seine Aktualisierung vernachlässigt empathielos die jüdische Erfahrung der Shoah. Derart stellt auch die Boykottstrategie der antiisraelischen Kampagne BDS, die besonders im Kunst- und Kulturbetrieb starken Zulauf erfährt, eine ethische Verfehlung dar, mit der ihre Unterstützer*innen konfrontiert werden müssen, so Aram Lintzel. Dabei fällt vor allem die Destruktivität der Forderungen von BDS ins Auge: Explizite Bekenntnisse zur Zweistaatenlösung sucht man hier vergeblich. Stattdessen weicht die legitime Solidarisierung mit palästinensischen Anliegen einer systematischen Delegitimierung des jüdischen Staates. Wo also endet berechtigte ‚Israelkritik‘ und wo beginnt (antizionistischer) Antisemitismus? Ein Plädoyer für mögliche Auswege aus einer aporetischen Konstellation.

Es war das Jahr 2019, in dem die Israel-Boykottbewegung Boycott, Divestment and Sanctions (BDS) mehr denn je ins Zentrum der Aufmerksamkeit geriet. Die Kontroverse um angebliche BDS-Affi­nitäten am Jüdischen Museum Berlin, die im Rücktritt des Direktors Peter Schäfer gipfelte, ein vom Deutschen Bundestag beschlossener Antrag, der die „Argumentationsmuster und Methoden“ von BDS als antisemitisch einstufte, [1] außerdem der Streit um die geplante Verleihung des Nelly-Sachs-Preises an die BDS-Unterstützerin Kamila Shamsie sorgten für Aufruhr und Publizität. Verteidiger*innen forderten im Namen der Meinungsfreiheit ein „Recht auf Boykott“, so die Überschrift einer der diversen öffentlichen Stellungnahmen, [2] oder machten gar einen „neuen McCarthyismus“ [3] unter den BDS-Kritiker*innen aus. In vielen Solidaritätsadressen wurde BDS als Menschenrechtsbewegung dargestellt, deren Ziele nicht nur völkerrechtskonform, sondern – das gelte es zu honorieren – gewaltfrei verfolgt würden.

Selbstredend ist die BDS-Kampagne angesichts der verzweifelten Situation vieler Palästinenser*innen besser als Intifada oder Hamas-Terror. Friedlich ist sie aber nur, wenn man einen ziemlich engen Begriff von Gewalt hat. Sie lebt von israelfeindlicher hate speech, Mobbing und Psychoterror gegen Israelis und Menschen, die in Israel Konzerte spielen, Geschäfte machen oder Vorträge halten wollen. Bei einer Diskussionsveranstaltung mit der israelischen Autorin Lizzie Doron im Rahmen des wegen eines kleinen finanziellen Zuschusses durch die israelische Botschaft von BDS ins Visier genommenen Berliner Musikfestivals Pop-Kultur wurde ich vor zwei Jahren selbst Zeuge von totalitärem Gebrüll und anderen Drohgebärden. Dass Doron sich überaus kritisch mit der Besatzungspolitik auseinandersetzt, war den Störenfrieden egal. Die BDS-Campaigner nehmen unterschiedslos alle Israelis in Kollektivhaftung für die Politik ihres Landes. „Sie alle werden für etwas abgestraft, was mit ihrer persönlichen Haltung und Person nichts zu tun hat“, schreibt der Politikwissenschaftler Samuel Salzborn und spricht deshalb von einem „völkischen Verständnis von Strafrecht“. [4]

Nebulöse Forderungen

Die Geburtsstunde der BDS-Bewegung, so die These des Politikwissenschaftlers Florian Markl, war die von zahlreichen NGOs organisierte Weltkonferenz gegen Rassismus in Durban 2001. [5] In deren Abschlusserklärung wurde Israel als „rassistischer Apartheidstaat“ bezeichnet und des Genozids beschuldigt. [6] Im Juli 2005 veröffentlichte dann eine Koalition von über 170 palästinensischen Nichtregierungsorganisationen den ersten BDS-Aufruf, in dem es heißt: „Inspiriert vom Kampf der Südafrikaner gegen die Apartheid, und im Sinne der internationalen Solidarität, moralischer Standfestigkeit und des Widerstands gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung, rufen wir, RepräsentantInnen der palästinensischen Zivilgesellschaft, internationale Organisationen und alle rechtschaffenen Menschen auf der ganzen Welt auf, weitgreifend Boykott und Investitionsentzug gegen Israel durchzusetzen, ähnlich der [sic] Maßnahmen gegen Südafrika während der Apartheid.“ [7] Vor allem die Bereiche Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft sollten Gegenstand der – O-Ton – „Strafmaßnahmen“ sein, „rechtschaffene Menschen“ fanden sich in den darauffolgenden Jahren allerdings weniger in globalen Unternehmen als in angloamerikanischen Kultur- und Akademiakreisen; prominente Unterstützer*innen wie die Gendertheoretikerin Judith Butler oder der Ambientmusiker Brian Eno dienen der vor Namedropping strotzenden PR dabei als Vignetten der Integrität.

Besonders in Großbritannien hat BDS viele Unterstützer*innen – „wann immer es eine Petition des BDS zu unterzeichnen gibt, Großbritanniens Künstler sind dabei“, stellte die Schriftstellerin Sibylle Berg fest. [8] Dies dürfte nicht zuletzt daran liegen, dass die Anti-Apartheid-Bewegung gerade in Großbritannien sehr stark war. Der Kampfbegriff Apartheid hatte neben der moralischen Appellation den mobilisierenden Nebeneffekt, Aktivist*innen, die auf der Suche nach neuen Handlungsfeldern waren, mit einem passenden Gegner zu versorgen: Israel, so das nahegelegte Narrativ, ist nichts anderes als eine Neuauflage der Apartheidpolitik und kann damit als Codewort für Rassismus, Kolonialismus, Unterdrückung etc. fungieren.

„Bust of Judith by Ezekiel (no. 52)“, Alfred Stieglitz/Georgia O’Keeffe Archive, Yale Collection of American Literature, Beinecke Rare Book and Manuscript Library.

„Bust of Judith by Ezekiel (no. 52)“, Alfred Stieglitz/Georgia O’Keeffe Archive, Yale Collection of American Literature, Beinecke Rare Book and Manuscript Library.

In dem Aufruf von 2005 werden drei Ziele benannt, nämlich dass Israel „die Besetzung und Kolonisierung allen arabischen Landes beendet und die Mauer abreißt, das Grundrecht der arabisch-palästinensischen BürgerInnen Israels auf völlige Gleichheit anerkennt und die Rechte der palästinensischen Flüchtlinge, in ihre Heimat und zu ihrem Eigentum zurückzukehren, wie es in der UN Resolution 194 vereinbart wurde, respektiert, schützt und fördert“. [9] Während die Anti-Apartheid-Bewegung eindeutige Ziele artikulierte („Free Nelson Mandela!“, „Stop Apartheid Now!“), fällt an den Forderungen von BDS ihre Nebulösität auf. Unklar bleibt, was denn mit der Formulierung „allen arabischen Landes“ gemeint ist: das mit der Gründung Israels 1948 oder das nach dem Sechstagekrieg 1967 ‚besetzte‘ Territorium? Auch fehlt eine Antwort auf die Frage, wie man sich das Szenario nach der Rückkehr von aktuell etwa fünf Millionen Palästinenser*innen mit Flüchtlingsstatus in das heutige Israel vorzustellen hat. De facto würde dies das Ende eines jüdischen und demokratischen Israels bedeuten. [10] Mit bemerkenswerter Konzilianz sehen die offene Briefe schreibenden BDS-Versteher*innen, die natürlich nicht automatisch hartgesottene BDS-Unterstützer*innen sein müssen, darüber hinweg, dass BDS kein Format für eine friedliche Konfliktregelung anbietet, in dem das Existenzrecht Israels gleichberechtigt Platz findet.

Dabei ist diese Unklarheit eine rhetorisch gewollte, wie Ulrich Gutmair in der taz feststellte: „Sie dient dazu, Linksliberale, die sich nicht die Mühe machen, genau hinzuschauen, auf ihre Seite zu ziehen.“ [11] Je nach Lesart ist das BDS-Portfolio anschlussfähig für pragmatische Kräfte, die einen Rückzug Israels aus den 1967 besetzten Gebieten fordern, oder für radikale Positionen, die das ganze Land und einen Nahen Osten ohne jüdischen Staat wollen. Der rhetorische Nebel ermöglicht es, den Aufruf je nach Kontext und Publikum passend zu machen. So behauptet die Gruppierung Artists for Palestine UK in einem Papier mit dem Titel „The Case for a Cultural Boycott of Israel“, BDS fordere, Israel solle sich „von dem gesamten nach 1967 besetzten Gebiet, inklusive Ost-Jerusalem, zurückziehen und seine illegalen Siedlungen beseitigen“. [12] So klar, moderat und akzeptabel steht das im ursprünglichen BDS-Aufruf definitiv nicht. Aber egal, in welche Richtung BDS-Botschaften blinken: Auffällig ist das selektive Verhältnis zu internationalem Recht, welches eben nicht allein das palästinensische Selbstbestimmungsrecht, sondern genauso das des jüdischen Volkes verbürgt. Explizite Bekenntnisse zur Zweistaatenlösung sucht man im BDS-Aufruf jedenfalls vergeblich.

Die jüdische Unverfrorenheit

Seit dem erwähnten Bundestagsantrag gab es aufgeregte Debatten über die Frage, ob BDS antisemitisch zu nennen ist oder nicht. Wo endet legitime ‚Israelkritik‘ und wo beginnt (antizionistischer) Antisemitismus? Viele BDS-Kritiker*innen beziehen sich auf den 3-D-Test für Antisemitismus, der 2003 vom damaligen israelischen Minister für soziale Fragen, Natan Scharanski, entwickelt wurde und später Eingang in die „Arbeitsdefinition von Antisemitismus“ der Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (EUMC) fand. Mit dem Test soll als ‚Israelkritik‘ getarnter Antisemitismus von legitimer Kritik an israelischer Regierungspolitik unterschieden werden können. Der Test nennt drei Kriterien: Wenn Aussagen Israel dämonisieren, delegitimieren oder doppelte Standards anlegen, dann sind sie antisemitisch. Kritisiert werden die drei D vor allem, weil sie angeblich einer „Entgrenzung“ [13] des Antisemitismusbegriffs Vorschub leisteten und der rechten israelischen Regierung als Immunisierung gegen Kritik von links dienten. Schauplatz erbitterter Deutungskämpfe ist das in dem Test enthaltene Konzept des „israelbezogenen Antisemitismus“. Angeblich mache diese Kopplung jede Kritik an israelischer Realpolitik unmöglich und etabliere eine Hermeneutik des Verdachts: In jedem wohlmeinenden Israelkritiker wittere man den Antisemiten.

Es lässt sich nicht leugnen, dass die Netanjahu-Regierung in ihrem mitunter paranoiden Kampf gegen linke Gruppierungen und NGOs den Antisemitismusvorwurf überdehnt hat und die israelische Linke in Kollektivhaftung für jede Stellungnahme aus dem BDS-Kontext genommen und damit ihrerseits Kritik an der aktuellen Siedlungspolitik zu delegitimieren versucht hat. Gleichwohl bildet die durchaus missbrauchsanfällige Unschärfe im Begriff des „israelbezogenen Antisemitismus“ die sanften, meist unscheinbaren Übergänge zwischen Antizionismus, Israelfeindlichkeit und Antisemitismus ab. Antisemitismus hat, so formulierte es Dan Diner, die perfide Eigenschaft „als Fragment oder Residuum kaum noch erkennbar zu sein“ [14] . Das „toxische Misstrauen“, das Judith Butler an den BDS-Kritiker*innen beklagt, erscheint deshalb heuristisch angemessen. [15]

Leonard Baskin, „Soutine“, 1962–1963

Leonard Baskin, „Soutine“, 1962–1963

Denn ‚Delegitimierung‘ ist selbstverständlich etwas anderes als bloße Kritik an dieser oder jener Aktivität der israelischen Regierung. Sie stellt offen oder zwischen den Zeilen das Existenzrecht Israels infrage oder knüpft es an exorbitante moralische Vorleistungen. Schriften aus BDS-­Zusammenhängen sind voll mit Behauptungen, in denen sich Delegitimierung und Dämonisierung Israels amalgamieren. In dem Buch Boykott – Desinvestment – Sanktionen. Die weltweite Kampagne gegen Israels Apartheid und die völkerrechtswidrige Besatzung Palästinas [16] des BDS-Mitbegründers und -Vordenkers Omar Barghouti ist von „Genozid“, „ethnischen Säuberungen“, „Kolonialisierung“ und „Faschismus“ die Rede. Schon allein der Apartheidvorwurf leugnet die israelische Realität. Dass es in Israel keine ‚Rassentrennung‘ in Schulen, auf Parkbänken oder in Bussen gibt und arabische Parteien in der Knesset vertreten sind, ficht BDS aber nicht an. Abgesehen davon, dass man sich darüber wundern darf, dass Barghouti als Palästinenser in einem rassistischen ‚Apartheidstaat‘ studieren konnte, denkt man angesichts seiner Zerrbilder an Léon Poliakovs berühmtes Bonmot, wonach Israel „der Jude der Staatenwelt“ sei: ein Nationalstaat wie viele andere auch, aber doch irgendwie anders. Oder wie die französische Rabbinerin Delphine Horvilleur in ihrem kürzlich auf Deutsch erschienenen Buch Überlegungen zur Frage des Antisemitismus schreibt: „Die Juden sind immer ein bisschen zu ähnlich und immer ein bisschen zu anders. Sie sind so unverfroren, sich stets assimilieren zu wollen oder woanders ihre Souveränität einzufordern; nicht gehen oder nicht bleiben zu wollen.“ [17] Die BDS-typischen Delegitimierungen des jüdischen Staates gehen einen kommunikativen Umweg, adressiert wird Israel, gemeint sind die Juden. Horvilleur zielt genau in jene Zone, in der Antisemitismus und Antizionismus ununterscheidbar werden, wenn sie – zugegeben etwas überspitzt – fragt: „Wie kann es sein, dass die Forderung nach territorialer Souveränität, nach einer politischen oder kulturellen Autonomie bei jeder ethnischen Minderheit, nur nicht bei den Juden, als berechtigt gilt?“ [18]

Das koloniale Böse

BDS steht in der Tradition eines antizionistischen Antiimperialismus, der die Welt in gute, unterdrückte Völker und böse, unterdrückerische Eliten aufteilt. Während es vor dem Sechstagekrieg in der globalen Linken noch Solidarität mit dem Staat der Shoah-Überlebenden und den sozialistischen Lebensformen der Kibbuzim gab, kippte die Stimmung nach 1967. Nunmehr wurde die binäre Matrix auf den Nahen Osten projiziert, weshalb der jüdische Staat nicht mehr als legitimer Ausdruck von Selbstbestimmung eines jahrhundertelang diskriminierten Volkes galt, sondern als Manifestation anmaßender Unterdrückung. Der Weltfriede ist im Reduktionismus der BDS-Aktivist*innen allein mit dem Ende des Nahostkonflikts zu erreichen, weshalb Israel das Urübel ist, das nicht nur den Nahen Osten, sondern das Zusammenleben aller Völker vergiftet. „Damit die Welt in Frieden leben kann, muss sie das von den Juden verkörperte Trennende loswerden“ [19] , schreibt Horvilleur über diese Obsession. Auf Komponenten eines israelbezogenen Antisemitismus stößt man in BDS-Texten immer wieder: uralte jüd*innenfeindliche Klischees, Stigmatisierungen der Jüd*innen als „Kontaminationsquelle“ [20] und die Umkehr von Täter*innen und Opfern.

So wird das alte Phantasma des verborgenen jüdischen ‚Einflusses‘ aufgerufen, wenn Barghouti den Gegner als „Israel und seine finanziell bestens ausgestatteten Lobby-Gruppen“ benennt. [21] Außerdem wirft er Israel geschicktes „Branding“ vor, mit dem es sich der verblendeten Weltgemeinschaft als liberales, kulturaffines, queerfreundliches und diverses Land verkaufe. Die Juden beherrschen – so will es das Stereotyp – die kapitalistische Manipulation so perfekt und perfide wie niemand sonst. Und wenn Barghouti Israel einen „allmählichen Genozid in Palästina“ [22] unterstellt, ist unschwer die antisemitische Trope der jüdischen Heimtücke zu erkennen. Juden und Israel sind in der BDS-Rhetorik nicht Opfer von Nazis oder islamistischem Terror, sondern Täter; mit beispiellosem Trickstertum haben sie sich zu Machthabern emporgearbeitet. Während aber Gleichsetzungen Israels mit dem nationalsozialistischen Deutschland lediglich in – durchaus sympto­matischen – Exzessen hergestellt werden, etwa wenn bei einer Kampagne gegen den Eurovision Song Contest in Israel das ESC-Logo mit einer SS-Rune versehen wird, ist die „Projektion des israelischen Staats als neokoloniale Supermacht“ [23] für den BDS-Diskurs prägend. Bei jeder Gelegenheit wird Israel zum gleichsam letzten Update des Kolonialismus dämonisiert. Denn: „Früher kolonisierten sie [die Juden, A. L.] das Denken, heute die Erde“, wie Horvilleur diese Sichtweise auf den Punkt bringt. [24]

Yva (Else Neuländer-Simon), „Ohne Titel (Ell’ Dura)“, ca. 1930

Yva (Else Neuländer-Simon), „Ohne Titel (Ell’ Dura)“, ca. 1930

Das „Kolonial-Framing“ [25] verwischt, wie schon der Begriff „Apartheid“, grundsätzliche historische Unterschiede. Die jüdische Besiedlung Palästinas ging nicht von einem kolonialistischen ‚Mutterland‘ aus, vielmehr suchten Jüdinnen und Juden hier ihr Refugium als Schutzort vor antisemitischer Verfolgung. Insbesondere hinter dem Appeal von BDS in Großbritannien vermutet Florian Markl in der Markierung Israels als Kolonialmacht einen „Entlastungsantisemitismus“, der die koloniale Schuld der eigenen Vorfahren relativieren soll. [26] Aber wie sähe ein ‚dekolonisiertes‘ Israel eigentlich aus? Fragt man im persönlichen Gespräch palästinensische BDS-Befürworter*innen, wie sie sich das Zusammenleben mit einer jüdischen Minderheit nach der Rückkehr von Millionen Palästinenser*innen ins ‚besetzte arabische Land‘ vorstellen, wird gern das Bild eines vorkolonialen Naturzustands gezeichnet: Araber*innen hätten früher ja immer friedlich mit Jüd*innen zusammengelebt. Allerdings muss man nur das Buch Die Juden der arabischen Welt. Die Verbotene Frage von Georges Bensoussan über antijüdische Pogrome in arabischen Ländern vor der Gründung Israels lesen, um darin eine geschichtsklitternde Pseudoidylle auszumachen. [27]

Humanismus ohne Empathie

Die Bezugnahme auf Menschenrechte ist selektiv und betreibt ein singling out Israels: Israel ist die Ausnahme, der man nichts durchgehen lassen will. Nicht nur werden andere Besatzungen und Menschenrechtsverletzungen auf der Welt unterschlagen, auch wird die Hamas nicht dazu aufgefordert, die Raketenangriffe auf Israel zu unterlassen. Und wenn ein besseres Leben für Palästinenser*innen tatsächlich das Hauptanliegen ist, warum wird dann nicht ausgesprochen, unter welch inhumanen Bedingungen viele von ihnen in den Flüchtlingslagern arabischer Länder leben, ohne dass ihnen die Staatsangehörigkeit des jeweiligen Landes zuerkannt würde?

BDS ignoriert das verständliche Sicherheitsbedürfnis der in Israel lebenden Juden, wenn der Abbau von Schutzvorrichtungen gefordert und die Mauer zwischen Israel und besetzten Gebieten als „Apartheid-Mauer“ bezeichnet wird – ganz so, als habe deren Bau nicht die Zahl der Selbstmord­attentate reduziert. Die wahren Terroristen, das sind die Israelis, weshalb denn auch die Bedrohung durch den Iran und seine Protegés Hisbollah und Hamas in BDS-Verlautbarungen kein Thema ist. Die Israel-Frage ist eine idée fixe, und dieser Tunnelblick führt zu einem eklatanten Mangel an Empathie gegenüber der (post-)traumatischen Lage des Judentums. 2017 brachten es BDS-Aktivist*innen fertig, eine Veranstaltung mit der 82-jährigen Holocaust-Überlebenden Deborah Weinstein an der Humboldt-Uni Berlin niederzuschreien. Dass der nationalsozialistische Boykott jüdischer Geschäfte ein erster Schritt zur Vernichtungspolitik war und ihre Boykottaufrufe somit das Trauma der Shoah triggern können, kümmert BDS nicht.

Vielmehr unbeirrbar agitieren die BDS-Aktivist*innen, weil sie sich auf der Seite von Universalismus und Humanismus wähnen und immer schon zu wissen meinen, wer den globalen Frieden sabotiert. Von höherer Warte starren sie auf den unverfrorenen jüdischen Partikularismus, während ihr Universalismus doch ganz offensichtlich die partikularistische Feindseligkeit gegen genau diesen Staat (und keinen anderen) ideologisch kaschiert. Hinzu kommt: Auch wenn etwa Judith Butler die Tradition eines diasporisch-jüdischen Universalismus revitalisieren möchte, [28] ist es doch allzu verständlich, dass viele Jüd*innen den Menschenrechtsuniversalismus beargwöhnen; schließlich konnte er Verfolgung und Massenvernichtung nicht verhindern. Anstatt in den Zwängen der antiisraelischen Obsession zu verharren und mit Freund-/Feind-Unterscheidungen die Fronten zu verhärten, wäre es deshalb angebracht, die „aporetische Konstellation zwischen universellen und jüdischen Perzeptionen“ [29] erst einmal auszuhalten und in dieser Sackgasse against all odds nach Auswegen zu suchen. Die politischen Bewegungen dorthin hätten – anders als die Methoden der BDS-Campaigner und ihrer Gefolgschaft – dialogisch, verhalten und skrupulös zu sein.

Anmerkungen

[1]Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom 15.5.2019, „Der BDS-Bewegung entschlossen entgegentreten – Antisemitismus bekämpfen“, siehe: https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/101/1910191.pdf.
[2]„The Right to Boycott. An Open Letter“, siehe: https://www.lrb.co.uk/contributors/an-open-letter.
[3]Micha Brumlik, „Unter BDS-Verdacht: Der neue McCarthyismus“, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, August, 2019, siehe: https://www.blaetter.de/ausgabe/2019/august/unter-bds-verdacht-der-neue-mccarthyismus.
[4]Samuel Salzborn, „Antiisraelischer Antisemitismus“, in: Europäische Rundschau, 1/2019, 47. Jg., S. 47–52, hier: S. 51.
[5]Siehe: Florian Markl, „Der Ursprung der Israel-Boykottbewegung“, in: sans phrase, Zeitschrift für Ideologiekritik, 11, 2017, S. 49–55.
[6]Siehe World Conference Against Racism, NGO Forum Declaration: http://i-p-o.org/racism-ngo-decl.htm (übers. von A. L.).
[7]Aufruf der palästinensischen Zivilgesellschaft zu BDS, siehe: http://bds-kampagne.de/aufruf/aufruf-der-palstinensischen-zivilgesellschaft.
[8]Siehe: https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/selbstueberschaetzung-ein-wort-und-jeder-weiss-bescheid-kolumne-a-1163345.html.
[9]Aufruf der palästinensischen Zivilgesellschaft zu BDS.
[10]Schließlich lassen sich von den drei Dingen – Staat mit jüdischer Mehrheit, Demokratie sowie Staat zwischen Mittelmeer und Jordan – immer nur jeweils zwei zusammen verwirklichen. Entweder man hat einen demokratischen Staat mit jüdischer Mehrheit, der aber kleiner ist als vom Mittelmeer zum Jordan; oder einen demokratischen Staat vom Mittelmeer zum Jordan, der aber keine jüdische Mehrheit hat; oder einen Staat zwischen Mittelmeer und Jordan, der sich als jüdisch bezeichnet, in dem Juden mehr Rechte haben als Palästinenser und der deswegen keine Demokratie mehr ist. (Für diesen Hinweis Dank an Jörn Böhme!)
[11]Ulrich Gutmair, „Es geht um 1948, nicht um 1967“, in: taz, 3.8.2019, S. 11.
[12]Artists for Palestine UK, „The Case for a Cultural Boycott of Israel“, 2015, S. 8 (übers. von A. L.) siehe: https://artistsforpalestineblog.files.wordpress.com/2016/05/case_for_cultural_boycott_interactive-for-webpdf-copy.pdf.
[13]Lothar Zechlin, „Israelkritik gleich Antisemitismus? Wie der Bundestag durch Verfälschung Begriffspolitik betreibt“, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 2/2020, S. 103–111, hier: S. 111.
[14]Dan Diner, „Der Sarkophag zeigt Risse: Über Israel, Palästina und die Frage eines ‚neuen Antisemitismus‘“, in: Christian Heilbronn/Doron Rabinovici/Natan Sznaider (Hg.), Neuer Antisemitismus? Fortsetzung einer globalen Debatte, 2. Aufl., Frankfurt/M. 2019, S. 459–488, hier: S. 485.
[15]Judith Butler, „Antisemitismus und Rassismus: Für eine Allianz der sozialen Gerechtigkeit“, in: Neuer Antisemitismus?, S. 90.
[16]Omar Barghouti, Boykott – Desinvestment – Sanktionen. Die weltweite Kampagne gegen Israels Apartheid und die völkerrechtswidrige Besatzung Palästinas, Köln/Karlsruhe 2012.
[17]Delphine Horvilleur, Überlegungen zur Frage des Antisemitismus, Frankfurt/M. 2020, S. 16.
[18]Ebd., S. 126.
[19]Ebd., S. 111.
[20]Ebd., S. 58.
[21]Barghouti, Boykott, S. 60.
[22]Ebd. Im englischen Original ist von „bullying lobby groups“ die Rede, diese Formulierung wurde für die deutsche Fassung des Buches allerdings nicht übersetzt.
[23]So Luisa Ziajas Kommentar im Interview mit der Mit-Initiatorin der BDS-kritischen Initiative Challenging Double Standards, Heike Karen Runge, in Jungle World, siehe: https://jungle.world/artikel/2015/30/eine-kritische-position-gegenueber-israel-gehoert-zum-guten-ton.
[24]Horvilleur, S. 118.
[25]So die Mit-Initiatorin von Challenging Double Standards, Julia Edthofer, in einem Interview in Jungle World, siehe: https://jungle.world/artikel/2015/30/eine-kritische-position-gegenueber-israel-gehoert-zum-guten-ton.
[26]Florian Markl, „Israel-Boykotteure in der Sackgasse“, in: sans phrase, Zeitschrift für Ideologiekritik, 15, 2019, S. 5–10, hier: S. 9.
[27]Siehe: Georges Bensoussan, Die Juden der arabischen Welt. Die verbotene Frage, Berlin 2019.
[28]Siehe: Judith Butler, Am Scheideweg. Judentum und die Kritik am Zionismus, Frankfurt/M./New York 2013.
[29]Dan Diner, „Der Sarkophag zeigt Risse“, S. 487.