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Naivität als Vergehen Ein Interview mit Florian Illies von Jörg-Uwe Albig und Isabelle Graw

Florian Illies Florian Illies

Mit seinem Bestseller "Generation Golf" hat der in Berlin lebende FAZ-Redakteur und Buchautor Florian Illies bislang für sich in Anspruch genommen, Sprachrohr für eine ganze Generation zu sein, die die Hälfte ihres langweiligen Lebens vor "Wetten, dass…?" im Bademantel verbracht hat. Wenn Illies nun im Nachschlag zu seinem Erfolgstitel behauptet, dieselbe Generation sei durch Mülltrennen von Gewissensbissen zermürbt, stellt sich die Frage, ob das von ihm beschriebene Deutschland ein subversionsfreies Tal der Ahnungslosen gewesen ist.

Jörg-Uwe Albig und Isabelle Graw sprachen mit Illies über seine sang- und klanglose Jugend und über den Versuch, der Hipness der Anderen durch konsensuelle Selbstvergewisserung ein Schnippchen zu schlagen.

Jörg-Uwe Albig: Die biedere, unpolitische, markengeile "Generation Golf" - ist das eine kokette Überhöhung der Folgen deiner Provinz-Kindheit im oberhessischen Vogelsberg, oder glaubst du im Ernst, dass eine ganze Altersklasse so funktioniert?

Florian Illies: Die Bewertung dieser Generation als harmlos und unpolitisch hat sich für mich eigentlich erst am Ende als Fazit herausgestellt. Am Anfang stand ein simpler autobiografischer Befund. Meine drei Geschwister sind acht, neun und zehn Jahre älter als ich. Und plötzlich stellten wir fest, dass wir in lebensentscheidenden Fragen wie denen, ob man selbstgedrehte Zigaretten raucht, ob man Hemden bügelt oder ob man Kröten über die Straße trägt, weder inhaltlich dieselbe Meinung hatten noch ironisch, im Zweitzugang, eine Weise fanden, darüber zu reden. Das fand ich interessant. Wie kommt es, dass ich stattdessen mit Menschen, mit denen ich bloß in eine Klasse gehe oder gemeinsam studiere, ein ganz merkwürdiges, geheimes Band der Übereinstimmung habe? Das Anmaßende dieses Buches ist dann gewesen, meine eigene Geschichte zu erzählen und zu behaupten, dass das jetzt die Geschichte der Generation oder einer Masse ist. Die zweite Anmaßung war, das Ganze in Ich-Form zu schreiben: Ich habe im Journalismus gelernt, nie im Leben das Wort "ich; zu benutzen. Mein erster Ansatz war nach dreimonatiger Beschäftigung mit dem Thema, soziologisch die Beziehungen zu den anderen Generationen zu fassen. Ich las viel über die "Flakhelfer-Generation" und die "Vergessene Generation" und beschäftigte mich mit Helmut Schelsky und mit Karl Mannheim. Das Problem war, dass es mich wahnsinnig gelangweilt hat, ein solch theoretisches Buch über meine Generation zu schreiben. Dann zog ich mich aus dem Theoretischen auf dieses Ich und die Geschichte dieses Ichs zurück, und dann hatte ich, ganz banal gesagt, das Gefühl, das kann ich erzählen, weil ich es erlebt habe. Ich zeigte das dann zwei oder drei Freunden, und die erzählten mir merkwürdigerweise, dass sie in Hamburg, Düsseldorf oder München dasselbe erlebt haben wie ich in dem kleinen Dorfe Schlitz.

Isabelle Graw: Was ist an dieser Generation so spezifisch? Gab es Popper nicht schon zehn Jahre vorher? Ist nicht jeder Jurastudent schon immer so gewesen? Bringt bürgerlich behütetes Aufwachsen nicht in jedem Jahrzehnt so eine Existenz hervor - auch wenn die Schokoriegel nicht mehr "Leckerschmecker" heißen, sondern "Twix"?

Illies: Wir sind eine Generation, die mit Helmut Kohl aufgewachsen ist und deren größtes Kennzeichen im politischen Sinne war, sich nicht mehr verhalten zu müssen. Eine Generation, der die biografischen Ereignisse fehlen, die so etwas wie eine Generation konstituieren: kein Krieg, zu unserem Glück, aber auch keine Politisierung wie '68. Es gab zwar noch Linke, die sich in der Anti-Atomkraft-Bewegung oder in der Schülervertretung engagierten, aber die hatten keine Mobilisierungsmacht mehr für diese Generation. Wer sich engagierte, musste sich rechtfertigen, nicht andersherum.

Graw: Den Hass auf Achtundsechziger und sozialdemokratische Lehrer hat es doch schon Ende der Siebziger bei Punk und Anfang der Achtziger bei New Wave gegeben. Das sind doch hundertfach tote Pferde, auf die du einschlägst.

Illies: Ich beschreibe ja keineswegs den Geisteszustand von mir und meinesgleichen im Jahr 2000. Es ist ein retrospektiver Blick auf die Naivität der damaligen Zeit. Es ist ein Kunstgriff: Ich schreibe dieses Buch von der Hinterbank des Golfs, weil ich vorne noch nicht sitzen durfte. Heute bin ich eher neidisch auf die "Suhrkamp-Kultur", die Auseinandersetzung um Franz Josef Strauß, diese gesellschaftliche Polarisierung, die den Einzelnen viel eher dazu herausgefordert hat, eine Stellung zu haben. In dem Buch mache ich mich zum Beispiel sehr über Günter Wallraff lustig. Rückblickend habe ich einen ganz anderen Respekt davor. Heute gibt es doch nur noch Titanic-Redakteure, die bei Rudolf Scharping anrufen und sagen, sie seien Tony Blair.

Albig: Von dem Buch wurden fast eine halbe Million Exemplare verkauft. Woher kommt dieses ungeheure Bedürfnis der Leute, sich in einer Generationsgemeinschaft wiederzufinden und beschrieben zu werden als eine Art Nation, aus der man nicht ausgeschlossen werden kann? Ist das ein neues Bedürfnis, das mit Vereinzelung zu tun hat und mit anderem Unglück?

Illies: Ja, ganz offenbar weckt und befriedigt "Generation Golf" das Heimatgefühl einer Generation. Viele haben das Gefühl: Meine eigene Kindheit, meine eigene Jugend ist von einer erschreckenden Banalität. Das sieht man erst, wenn man zwanzig, fünfundzwanzig ist und bei der Bewerbung um ein Stipendium im Feld "gesellschaftspolitisches Engagement" acht Zeilen füllen muss. Man denkt: Vielleicht bin nur ich so banal, alle anderen tragen viel komplexere Gedankengebäude in sich, nur ich habe komischerweise keine Probleme mit meinem Großvater. Dieses Buch schafft rückwirkend ein Kollektiv. Wenn eine halbe Million Leute ohne Werbung ein Buch kaufen, dann deswegen, weil sie sagen: So war's auch bei mir. Und der Witz ist: In dem Moment, in dem die Generation sich im Rückblick als solche begreift, ist es auch schon wieder vorbei mit ihr und die nächste kommt und erinnert sich an die Zeit, als sie mit Pokémon spielte.

Albig: Auch in den achtziger Jahren sind Jugendliche mit Popmusik großgeworden. In deinem Buch fehlt die fast völlig. Liegt das an der Provinz, in der du aufgewachsen bist?

Graw: Popmusik hat ja auch eine starke Faszination, ein Versprechen. Eine behütete Kindheit schließt doch nicht aus, dass man "Neue Deutsche Welle"-Bands hört und eine Ahnung von einem anderen Leben mitbekommt.

Illies: Nein, danke der Nachhilfe. Aber ich habe eben schnell gemerkt, dass jeder Satz, den ich über Musik schreibe, vor mir selbst lächerlich wird.

Mein Kenntnisstand liegt bei null, also blende ich es einfach komplett aus. Ich schreibe lieber etwas über Schüleraustausch und über Playmobil.

Graw: Wie kam es denn, dass du überhaupt keine Berührung mit Musik hattest? Dass dich das kalt ließ?

Illies: Das kann ich nicht so richtig sagen. Für mich waren die Augen immer das hundertmal wichtigere Organ. Man könnte dem Buch genauso gut vorwerfen, dass die Erfahrungen gleichaltriger Menschen aus dem Osten nicht vorkommen. Aber Erfahrungen, die ich nicht gemacht habe, kommen eben nicht vor - und deshalb ist dieses Bild in einer himmelschreienden Weise verfälschend und ausschließend. Ich freue mich, dass es trotz dieses Umstands so viele lesen.

Graw: Deine Technik, den Leuten Wiedererkennbares zu bieten, anstatt sie auf unerforschtes Terrain zu führen, findet sich ja auch auf den "Berliner Seiten" der FAZ wieder. Sie sind der Versuch, Berlin zu provinzialisieren, indem man sagt: Wichtig ist der Waschsalon an der Ecke und was mir da widerfährt, und nicht der Zusammenhang oder die Analyse, die man daraus ableiten könnte.

Albig: Man steht am Zaun und guckt, was der Nachbar macht. Ich kann mir vorstellen, das ist in Schlitz auch ein großer Teil der Freizeitgestaltung.

Illies: Dass die "Berliner Seiten" der Versuch sind, Berlin zu provinzialisieren, ist keine Frage, sondern eine Behauptung und leider eine falsche. Es geht uns eben darum zu sagen, dass es genauso wichtig ist, was einem im Waschsalon um die Ecke passiert wie die Frage, was die Einsamkeit des Großstädters für das neueste Kapitel der Berlintheorie für Fußnoten beisteuern kann. Denn es könnte sein, dass Ersteres für den Leser interessanter ist. Man könnte auch sagen, es ist banal, dass man über Nutella erzählt und über Fernsehabende mit "Wetten, dass …?" und Erdnussflips. Aber es geht darum, diese Empirie, diese Wirklichkeitserfassung auch einmal in Worte umzusetzen und aufzuschreiben. Es geht um diese Erfahrungsstufe, die man gerne sofort überwindet, um zur Reflexion zu kommen. Ich glaube, es ist wichtig, dass es diese Bücher gibt und diese Artikel, wie man in den Waschsalon geht und welche Pflanzen denn so sprießen im Hans-Haacke-Kunstwerk im Reichstag. Gerade in einer Stadt wie Berlin, wo sich täglich jeder Stadtteil gegen den anderen theoretisch profiliert, aber immer noch alle jeden Morgen ihre Brötchen und ihre Butter bei "Butter Lindner" kaufen, gibt es da ein Defizit. Das ist täglich neu der Ansporn und die Herausforderung. Als wir 1999 hierher kamen, herrschte bei der Leserschaft der FAZ ein melancholischer Grundton über den Rückgang an bürgerlicher Kultur in der Stadt. Da hatten wir ganz bewusst die Idee, dass die "Berliner Seiten" Gemeinschaft konstituieren sollen. Die Gemeinschaft eines ...

Graw: ... kultivierten Bürgertums.

Illies: ... eines kultivierten Bürgertums, das auch einmal über sich selbst und seine Sehnsüchte lachen kann. In Hamburg, München oder Düsseldorf sind seit fünfzig Jahren die Verhaltensmaßregeln geklärt, an die man sich zu halten hat. In Berlin ist das anders. Und deshalb dürfen sich hier auch alle gleich unsicher fühlen: der Neuankömmling, der Bundesminister, der noch gar nicht weiß, wo man essen geht in dieser Stadt, der Bewohner von Prenzlauer Berg, der das erste Mal in Charlottenburg essen geht, der Charlottenburger, der in Friedrichshain etwas sucht. Diese allgemeine Verunsicherung erzeugt, wie ich glaube, am Ende eben wieder eine Sicherheit, weil man weiß: Auch niemand von den anderen kennt alle Codes.

Graw: Das ist ja alles andere als eine großstädtisch-urbane, selbstsichere, flaneurhafte Identität, die da konstruiert wird.

Illies: Nein, aber ich glaube, dass es einem nur gelingen kann, eine Zeitung für Berlin zu machen, wenn man um den täglichen gedanklichen Spagat der Leser zwischen Sicherheit und Unsicherheit weiß. Und diese andere Identität wird von uns hoffentlich an anderen Tagen auch befriedigt. Denn es geht auch um die Beschwörung von Sehnsüchten: Und die liegen hier natürlich in den zwanziger Jahren und im neunzehnten Jahrhundert.

Graw: Dein erstes Buch hast du weitgehend in der Ich-Form geschrieben. Im aktuellen Buch, "Anleitung zum Unschuldigsein", gibt es dann nur noch "man" und "wir". Da ist die Generation schon erfunden - das "Wir" ist dann für das Gemeinschaftsgefühl zuständig.

Illies: Genau.

(…)

Graw: In dem Buch geht es um die Gemeinschaft der Deutschen, die da ganz bewusst, wenn auch natürlich mit einem kleinen ironischen Augenzwinkern, als homogene Gemeinschaft vorgestellt wird. Wer gehört zu dieser Gemeinschaft?

Illies: Es geht nicht um eine Gemeinschaft von Deutschen, sondern um eine Gemeinschaft von Menschen, die um die süße Last eines schlechten Gewissens wissen. Das Buch versucht, die alltägliche Welt des schlechten Gewissens in Worte zu fassen, jene Welt der in Sekundenbruchteilen im Hinterkopf ablaufenden Selbstbeschimpfungs-Rituale. Diese absurden Spiralen, die einem durch den Kopf gehen, wenn ein Rosenverkäufer ins Lokal kommt und man eine kauft und was man dann denkt und was der andere denkt und was man denkt, was der andere denkt. Es geht einfach um eine erste Erfahrungsebene, die ganz oft schnell übergangen wird, weil man dann versucht, sich zu sagen, ich muss kein schlechtes Gewissen haben - aber man hatte es ja. Ich hatte Lust und Neugier, diese Erfahrungen und Gewissensbisse freizuschaufeln.

Albig: Stichwort Neugier: Du spekulierst in deinen Büchern ja ganz stark auf den Handel mit Wiedererkennungswerten - ein Genre, das bisher eine Domäne von Frauenzeitschriften war: die notorische Frau, die auf den notorischen Anruf wartet. Mittlerweile ist das auch in der Literatur sehr in Mode. Dass man sich gerne erzählen lässt, was man schon weiß und nicht das, was man noch nicht kennt - ist das nicht eher das Ende der Neugier als ihr Anfang?

Illies: Die Überschrift für Texte zur Kunst wäre dann "Das Ende der Neugier". Aber in den "Berliner Seiten" würden wir formulieren: "Die Entdeckung der eigenen Erfahrung". Das "Ende der Neugier" wäre schon wieder die nächste Stufe. Man schaut schon wieder drauf, als seien Dinge, die wiedererkennbar sind, etwas Unanständiges, von dem man sich distanzieren muss.

Albig: Egal, wie man es nennen will - woher kommt das Phänomen?

Illies: Ich glaube, diese Rückversicherung in der Vergangenheit, in einer vielleicht erfundenen Vergangenheit, verleiht Sicherheit. "Generation Golf" löst ein Sicherheitsgefühl aus, dieses Klassentreffen-Gefühl: "Ach ja, so ist es gewesen. Wie gut, heute muss ich mal nicht darüber reden, was ich mache und dass ich Probleme mit meiner Frau habe und Angst um meinen Job. Heute kann ich mal über die lustigsten Witze in der Abizeitung reden." Das gibt einem eine Stärke, gerade weil es nichts mit dem gegenwärtigen Alltag zu tun hat. Die "Anleitung zum Unschuldigsein" gibt dem Leser offenbar das Gefühl, dass er sich nicht alleine überfordert fühlt von den Erwartungshaltungen des Alltags, wenn der Rosenverkäufer reinkommt und der Anrufbeantworter voll ist. Und das nächste Mal kann ich da schon drüber lachen.

Albig: Siehst du ein wachsendes Bedürfnis, sich in der Vergangenheit abzusichern?

Illies: Diese Nostalgie, dass ich jetzt etwa selbst schon die zweite Retrowelle der achtziger Jahre erlebe, in denen ich gerade noch selbst gelebt habe, das ist für mich schon das Zeichen eines sehr erhöhten Sicherheitsbedürfnisses. Als wir vierzehn waren, haben wir Adidas-Turnschuhe getragen. Als wir zweiundzwanzig waren, zog man die ironisch an, als Kindheitserinnerung. Und jetzt macht der Adidas-Original-Store auf, jetzt trägt man die Sachen fast schon wieder eins zu eins. Man erlebt seine eigenen Revivals. Diese Dichtheit finde ich interessant.

Graw: In der "Anleitung zum Unschuldigsein" gibt es die Anekdote mit dem Rucksack: Du hattest als Letzter in der Klasse den angesagten Benetton-Rucksack, und als du ihn endlich gekauft bekamst, trugen die anderen schon längst wieder die alten Lederranzen. Das gab dir, wie du schreibst, ein "Schamgefühl gegenüber den Trendsettern" - ein Problem, mit dem ich mich überhaupt nicht identifizieren kann. Geht das auf irgendein traumatisches Erlebnis zurück? Ist das ein individuelles Problem von dir, diese Angst, Anforderungen nicht genügen zu können - seien es Hipness-Anforderungen oder Kriterien der Political Correctness?

Illies: Natürlich habe ich in der Rucksack-Geschichte eigene Erfahrungen überzogen und dramatisiert. Meine Psychoanalyse steht noch aus, um den Urgrund für meine verspätete Identität zu erkennen - ich werde dann exklusiv in Texte zur Kunst darüber berichten. Aber vielleicht ist es auch einfach das Provinz-Gefühl gegenüber der nächsten Stadt, die nicht mal eine Großstadt war, sondern Fulda, das 30000 Einwohner hat. Daher kann das Gefühl kommen, am Rande zu sein.

Graw: Du bist nicht der einzige Autor, der das Phantom einer politisch korrekten Polizei heraufbeschwört, die das kulturelle Leben Deutschlands kontrolliert und sich permanent mit dem Nationalsozialismus beschäftigt. Wer soll das eigentlich sein?

Illies: Es stimmt, die Stefan Heyms, Horst-Eberhard Richters und Walter Jensens treten langsam ab, ihre Mobilisierungsfähigkeit ist nicht mehr messbar. Gleichzeitig habe ich aber deren mahnende Worte auf der Festplatte meines schlechten Gewissens abgespeichert: Ich weiß, immer, was ich denken müsste, wenn ich bedenken würde, was Horst-Eberhard Richter jetzt dazu sagen würde. Das gilt eigentlich für jeden Bereich. In der Auseinandersetzung um das Berliner Stadtschloss gibt es ausreichend Personen, die uns sagen, wenn wir das Stadtschloss wieder aufbauen, ist das eine Verherrlichung feudaler Strukturen, eine Ehrerbietung gegenüber dem knechtischen System der Preußen. Die Geschichte taucht auf als moralische Instanz.

Graw: Das, was du Political Correctness nennst, ist doch vollkommen in der Defensive. Ist es nicht so, dass seit der Wiedervereinigung alle sagen: "Jetzt reicht's! Jetzt hören wir mal auf, Asche auf unser Haupt zu streuen"?

Illies: Ich glaube, was in der Offensive ist und was in der Defensive, ist immer eine Frage der Perspektive. Wenn ich mir etwa das verdruckste Verhalten von Deutschen im Ausland anschaue, würde ich sagen, dass uns das schlechte Gewissen durchaus prägt. Ich kann nur für mich selbst sagen, dass ich irritiert feststellen muss, dass ich etwa in England lächerlich froh war, wenn niemand erkannte, dass ich Deutscher war.

Graw: Aber du schreibst immer "wir" und "man".

Illies: Ja, weil ich das dann natürlich auch als provokante Verführung betreibe. Am Anfang wirst du erst mal gelockt mit den Kindheitserinnerungen, die hast du alle auch so erlebt. Dann kippt es irgendwann um ins "Wir". Willst du dann noch dabei sein? Offenbar wollen das viele. Wenn ich es nur für mich gemacht hätte, hätte ich es auch in mein nicht vorhandenes Tagebuch schreiben können. Meine Kindheit ist die absurdeste, singulärste Kindheit, die man so erleben kann. Ich habe drei Jahre lang Bonsai-Bäume gezüchtet und lebte in einem kleinen Dorf mit viertausend Einwohnern. Trotzdem denken ein paar hunderttausend Leute: So oder so ähnlich war es bei mir auch. Das ist ein Phänomen, auch für den Autor selbst, das könnt ihr mir glauben.

Albig: Bist du katholisch oder evangelisch?

Illies: Sehr protestantisch, also leider nicht katholisch. Die Katholiken haben die Möglichkeit, zur Beichte zu gehen, Protestanten haben die nicht. Ich komme aus einem bewusst protestantischen Elternhaus. Mein Vater, der auch sehr bewusst christlich war, ist gestorben, als ich zehn Jahre alt war. Mit den Dimensionen von Gut und Böse - darf ich jetzt das essen, wenn der Bettler draußen nichts hat - bin ich also von Kindesbeinen an konfrontiert worden. Aus dieser Biografie sind meine Skrupel gewachsen und das Interesse an dem Thema.

Graw: Du erwähnst den Fall der Sebnitzer Apothekerfamilie, die fälschlich behauptet hat, ihr Sohn sei von Neonazis im Schwimmbad ertränkt worden, als Musterbeispiel für den Schuldkomplex der Deutschen. Gleichzeitig werden bei uns jedes Jahr Tausende Ausländer tatsächlich aus rassistischen Gründen verprügelt oder umgebracht, ohne dass du darüber ein Wort verlierst. Ist der falsche Verdacht von Sebnitz für dich schlimmer als der real existierende Rassismus in Deutschland?

Illies: Das ist polemisch und führt uns nicht weiter. Dieses Buch erzählt keine Geschichte der deutschen Auseinandersetzung mit Ausländern der letzten zehn Jahre, sondern dieses Buch handelt vom schlechten Gewissen. Rechtsradikalismus und Ausländerfeindlichkeit haben mit dem schlechten Gewissen nichts zu tun. Und dieses erwähnte Kapitel handelt von der deutschen Lust, schuldig zu sein.

Albig: Es gibt doch auch die Sehnsucht, unschuldig zu sein. Bild schreit empört auf, wenn Linda de Mol sich über die Deutschen lustig macht und ihre Vergangenheit.

Illies: Ja, natürlich, aber es sind ausreichend Planstellen bereits besetzt im Bereich Rassismus-Watching. Dazu erscheinen zu Recht unzählige Artikel. Mir geht es um die andere Seite der Berichterstattung, die dazu führt, dass man nicht wie in anderen Ländern als Erstes sagt: Das kann nicht sein. Sondern dass man es immer wieder für möglich hält.

Albig: Findest du, dass die Deutschen zu viel Gewissen haben?

Illies: Grundsätzlich glaube ich, dass sie viel zu wenig Gewissen haben.

Aber ich glaube, dass die Deutschen nicht genug unterscheiden zwischen dem Gewissen und der Peinlichkeit, wenn man irgendwelche lächerlichen gesellschaftlichen Codes verletzt. Man sagt: Ich habe ein schlechtes Gewissen, denn ich hatte heute Mittag einen Termin beim Zahnarzt und habe ihn versäumt. Weil ein Wertesystem dessen, was gut und schlecht und falsch ist, fehlt, ist ein diffuses Gebiet entstanden. Wir als Deutsche haben offenbar ein erhöhtes Bedürfnis, uns mit diesen Fragen von Schuld und Gut und Böse auseinander zu setzen. Wir können es aber nicht mehr auf Probleme wie Embryonenschutz oder Rüstung oder Umweltverschmutzung beziehen, sondern nur noch auf die Frage, welches Handy richtig ist.

Graw: In deinem Buch differenzierst du aber nicht zwischen diesen beiden Formen des schlechten Gewissens. Es geht ebenso um das weiße Boss-T-Shirt wie um die Probleme bei der Benennung von Menschen. Was sagst du selber: Zigeuner oder Sinti?

Illies: Es geht mir ja genau darum: Dass unser Kopf auch nicht so differenziert und sauber trennt, wie wir es gerne hätten. Und die Frage nach Zigeunern und Sinti kann man schon gar nicht mehr richtig beantworten, weil die Bedeutungen so unglaublich kompliziert aufgeladen sind. Etymologisch müsste man inzwischen wahrscheinlich sagen: Sinti und Roma. Weil es aber gebrandmarkt wird, wenn man Zigeuner sagt, bedeutet es zugleich wieder was ganz anderes, wenn man Sinti und Roma sagt, weil man sich damit zugleich auch als alles mitbedenkender Gutmensch outen möchte. Ich glaube, dass es dieses von euch bezweifelte Gefühl einer moralischen Kategorie, die man immer mitdenkt, tatsächlich gibt.

Graw: Die Benutzung des Wortes "Zigeuner" hat doch eine Vorgeschichte. Es ist eine diskriminierende Bezeichnung, und wenn man die verwendet, hat man automatisch die Geschichte dieser Verwendung am Hals. Es ist kein abstrakter Imperativ in meinem Kopf, sondern das Wissen um die Benutzung, das mich zu dem Schluss bringt: Ich schließe mich dem rassistischen Gebrauch nicht an.

Illies: Ich glaube, dass deine vier letzten Sätze präzise demonstrieren, warum manche Menschen in Deutschland das Gefühl haben, dass es immer noch ein sehr humorfreies Klima von "Gut und Böse" gibt. Wer nicht genug nachgedacht hat, muss sich was schämen. Sobald man anfängt nachzudenken, ob man nun Kraków sagt oder Krakau, Ceylon oder Sri Lanka, denkt man sofort: Oh mein Gott, wenn Isabelle Graw das jetzt hören würde! Man ahnt, dass man schon allein dafür, dass man die Frage überhaupt stellt, ein paar auf die Finger bekommen müsste, weil man sich hier mal wieder etwas nicht historisch ausreichend bewusst gemacht hat. So entstehen Stresssymptome. Auch davon handelt mein Buch.

Albig: So viele Isabelles gibt es doch gar nicht.

Graw: Die Frage war ja nur: Wie nennst du sie?

Illies: Ich sage Sinti, weiß aber um die Mühen dabei. Das hat nichts mit Rassismus zu tun, sondern mit Stress und Überforderung, dem Gefühl, nicht auf dem moralisch aktuellen Stand sein zu können. Und ich glaube, mit dieser Sorge bin ich nicht ganz allein. Ich wollte kein pädagogisches Handbuch schreiben, sondern Phänomene bewusst und wiedererkennbar machen auf unterhaltsame Weise. Der nächste Schritt liegt dann bei dem einzelnen Leser, dass er den eigenen Umgang mit Gut und Böse befragt. Die meisten freuen oder ärgern sich nur und legen das Buch dann weg. Aber manche werden sagen: Das kann es doch nicht gewesen sein. Es muss doch noch was anderes meine Persönlichkeit ausmachen. Ich muss doch zuverlässigere Kategorien haben für Gut und Falsch als "gesellschaftlich toleriert" oder "nicht toleriert".

Graw: Steht da bei dir eine Politisierung an?

Illies: Die Generation Golf merkt jetzt, wenn sie Kinder bekommt, dass sie denen auch ein Moralgebäude vermitteln muss, und fragt sich: Was war das noch mal eigentlich? Es gab bei ihr ja nicht die argumentative Auseinandersetzung mit den Werten der Eltern, durch die sich auch eigene Werte konstituieren. So stehen wir jetzt alle relativ gut gebräunt und gut genährt da und fragen uns: Wie erkläre ich, was zur Zeit zwischen Israelis und Palästinensern passiert? Bin ich für oder gegen den Import von embryonalen Stammzellen? Meine beiden Bücher sind zu einem Zeitpunkt erschienen, an dem man sich noch ein letztes Mal erinnert hat, weil man ahnte, dass das ein Abschluss ist und es völlig unklar bleibt, was danach kommt.

Albig: Das "Ende der Spaßgesellschaft", wie Stoiber sagt?

Illies: Ich habe das Wort "Spaßgesellschaft" hoffentlich nie in den Mund genommen. Aber ich glaube durchaus, dass sich seit dem 11. September etwas verändert hat. Diese Form von politischer Abstinenz, dass man sich jeden Abend in der Tagesschau den Palästinenserkrieg anguckt und nur denkt: Jetzt kommt gleich Günther Jauch. Dieses Gefühl, dass das alles nichts mit uns zu tun hat, ist durch den 11. September vom einen auf den anderen Tag glücklicherweise vorbei. Man hat erkannt, dass man nicht so ganz allein auf der Welt ist, wie man dachte.

Graw: War das viel einschneidendere Erlebnis für diese von dir behauptete Generation nicht der Einsturz der New Economy? Ist das nicht viel aufrüttelnder als der 11. September?

Illies: Das glaube ich nicht. Dass so viele ihr Geld am Neuen Markt verloren haben, das sie vorher so stolz verdient hatten, hat sicherlich zu einer Phase des Nachdenkens geführt. Das Problem war nur, dass man noch keinen Schuldigen hatte.

Albig: Jetzt hat man Bin Laden.

Illies: Nicht Bin Laden, sondern die eigene Bequemlichkeit. Vorher war es höchstens der beste Freund, die Anlegerzeitschrift oder die eigene Naivität, was erträglich ist: Man hatte ja niemandem wehgetan, man hat nur sein eigenes Geld verloren. Aber irgendwann wird Naivität dann eben doch zu einem Vergehen, nicht in der Sektion Aktienanlage, sondern im Bereich Moral und Politik.

Edward Hopper," Nighthawks" (Ausschnitt), 1942 Edward Hopper," Nighthawks" (Ausschnitt), 1942