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Isabelle Graw

Wie von Selbst Über die Aktualität der "Écriture Automatique"

Leonor Fini in ihrem Atelier, 1949 Leonor Fini in ihrem Atelier, 1949

Leonor Fini, "Composition with Figures on a Terrace", 1939 Leonor Fini, "Composition with Figures on a Terrace", 1939

In der Literaturgeschichte gab es die unterschiedlichsten Versuche, der sprachlichen und ästhetischen Kontrolle einen möglichst freien und unzensierten Ausdruck innerer Vorgänge entgegenzusetzen. Auch diese poetischen Verfahren kamen natürlich nie ganz ohne Zielgerichtetheit aus. Könnten aber Potenzial und Aktualität solcher Schreibweisen, zum Beispiel der surrealistischen "écriture automatique", nicht gerade in der Ambivalenz von Inspiration und Reflexion liegen?

"Wer sich nicht selbst auf diesem Weg versucht hat, wird alle Mühe haben, sich ihn genauer vorstellen zu können."  [1]

(André Breton)

Einfach losschreiben. Ohne vorher sämtliche Literatur gelesen und wochenlang in der Bibliothek gesessen zu haben. Stattdessen: eine andere Schreibweise erproben, die seit den ersten gemeinsamen Experimenten von Breton und Soupault den Namen "écriture automatique" trägt. Breton hat die "écriture automatique" als einen Vorgang beschrieben, bei dem das Schreiben dem Denken unzensiert folgt, ihm gleichsam hinterherläuft: ein "Denkdiktat ohne jede Kontrolle der Vernunft". Am ehesten soll dies gelingen, wenn man sich unmittelbar nach dem Aufwachen, quasi noch im Halbschlaf an den Schreibtisch setzt und die im Dämmerzustand formulierten Sätze sogleich aufschreibt. Dennoch bleibt dieses Verfahren an gewisse Voreinstellungen und vor allem - Regeln gebunden: etwa die der kollektiven Urheberschaft oder die der vorher zu bestimmenden Gattung. Zur Herstellungsgeschichte des ersten automatischen Buchs "Die Magnetischen Felder" befragt, hat Soupault allerdings angegeben, er und Breton hätten einzelne Kapitel allein verfasst oder sich passagenweise abgelöst. Somit handelt es sich um eine Schreibweise, bei der die Verantwortung des einzelnen Autors für seinen Beitrag intakt bleibt - und das könnte ihr Vorteil sein. Zwar hat Breton später all jene gegeißelt, die ihre automatischen Texte im Nachhinein verbesserten oder sich gar diese Schreibweise vornehmen wollten, doch in Wirklichkeit haben er und seine Literaten-Freunde genau das getan: eine gezielte Versuchsanordnung aufgestellt und befolgt, mit der sie die verinnerlichte Zensur ausschalten und unvorhersehbare Gedankengänge provozieren wollten. Die vermeintliche Unvermitteltheit und Zufälligkeit des so erzeugten Ausdrucks wurde mithin programmatisch erzeugt. Dass die Ergebnisse die Regeln der Syntax befolgten und mitunter sogar überarbeitet wurden, macht sie aus künstlerischer Sicht heute doppelt interessant: Einerseits veranschaulichen sie das Potenzial eines Ansatzes, der sich seinem Medium überlässt und am Gegenpol zum gängigen Verständnis der "künstlerischen Strategie" angesiedelt ist, die ja Rationalität und Zielgerichtetheit impliziert. Andererseits geschieht diese Überantwortung an eine andere Instanz stets auf geregelte Weise und verweist somit auf das noch der spontansten Äußerung zugrunde liegende Ordnungssystem. Aktuell ist die "écriture automatique" aber auch aus kunstkritischer Perspektive: ein mögliches Gegengift zum Jargon. Schließlich wollte man mit ihr akademischen Zwängen und literarischen Konventionen entkommen, um ein anti-positivistisches, anti-rationales Programm dagegenzusetzen, dessen Ziel die Freilegung des "wirklichen Ablaufs des Denkens" gewesen ist. So fragwürdig diese Vorstellung eines unverstellten, ursprünglichen Denkens heute auch erscheint, ist es doch möglich, diese Ideologie des Authentischen und Ursprünglichen von der "écriture automatique" abzuziehen und ihr Potenzial zu überprüfen. Betrachtet man sie zum Beispiel neben der Collage als zentrales ästhetisches Verfahren der surrealistischen Bewegung, dann muss in dieser Methode des automatischen Schreibens bzw. in ihren Implikationen auch einer der wesentlichen Gründe für die außerordentliche Anziehungskraft liegen, welche das surrealistische Dispositiv, zumal in den dreißiger Jahren, auf Künstlerinnen ausübte. Gerade in der Phase seiner Konsolidierung und Internationalisierung traten zahlreiche Künstlerinnen in seinem Zentrum (Leonora Carrington, Dorothea Tanning) und an seinen Rändern (Leonor Fini) auf - Künstlerinnen, die veristisch malten und deren Bilder sich in ihrem Aufbau sichtbar dem Säulenheiligen des Surrealismus - de Chirico - wie auch dem Einfluss von Derain verdankten.

Ein wesentlicher Grund für die Attraktion surrealistischer Prinzipien auf zahlreiche Künstlerinnen ist in der Bedeutung literarischer Texte zu sehen - lange vor der Konzeptkunst hat diese Kunstrichtung dem Text einen hohen Stellenwert beigemessen. Gerade in ihrer Gründungsphase wurde sie mehrheitlich durch Schriftsteller und Literaten repräsentiert. Künstlerinnen wie Tanning und Carrington sind ebenfalls zunächst als Schrifstellerinnen hervorgetreten und haben von der Bedeutung, die der literarischen Produktion beigemessen wurde, auf diese Weise profitiert. So schrieb Carrington eine Reihe von Kurzgeschichten, die auch heute noch lesenswert sind. Ihre erste Novelle heißt "La Débutante" und ist offensichtlich von der surrealistischen Faszination für mythische Tiere (in ihrem Fall der Hyäne) geprägt. Wenn es sich auch formal um eine eher konventionelle Erzählung handelt, ist sie doch einem Traumprotokoll nachempfunden und entspricht inhaltlich ganz den surrealistischen Vorlieben. Somit bleibt die "écriture automatique" Horizont auch dieses Textes - sie ist seine Möglichkeitsbedingung, obgleich die mit knappen Sätzen vorangetriebene Handlung den prinzipiell récitfreien Automatismus unter Kontrolle bringt und in eine andere Richtung lenkt. Ein vergleichbar partielles Aufgreifen der Konvention findet sich in den Bildern von Carrington, Fini und Tanning, die zwar offensichtlich von der surrealistischen Rehabilitation des Inhalts profitieren, und zwar in Form einer enormen Symbolfülle und einer Vielzahl narrativer Ebenen, welche Bedeutung in demselben Maße suggerieren, wie sie Sinn verunmöglichen. Indes bedienen sie sich dafür einer Malweise, die noch die am sorgfältigsten gemalten Bilder von Ernst oder Dalí an ausführender Sorgfalt und - ja - Beflissenheit übertrifft. Bezeichnenderweise hat keine Künstlerin den Automatismus buchstäblich verwendet, etwa als Lizenz, um wie Masson Gegenständlichkeit aufzukündigen und den literarischen Automatismus auf die Bewegung des Pinsels zu übertragen. Die genannten Künstlerinnen nutzten ihn eher für die dem Bild vorgelagerte Phase der Bildfindung - als Freibrief für die Aktivierung unbewusster Zonen oder Traumbilder. Man muss sich den Surrealismus als eine Bewegung vorstellen, die es dem Künstler quasi zur Pflicht machte, seinen spontanen Eingebungen und unbewussten Regungen nachzugehen: eine Nobilitierung des Einfalls. Es wurde mithin zwar möglich, die Bildmotive aus dem eigenen Innenleben, aus plötzlichen Assoziationen und Träumen zu beziehen, nur hatten sich dafür natürlich längst kollektive Bildkonventionen und Codes herausgebildet, von denen diese scheinbar individuellen Vorstellungen geleitet blieben.

Leonora Carrington, "The Inn of the Dawn Horse (Self-Portrait)", 1936/37 Leonora Carrington, "The Inn of the Dawn Horse (Self-Portrait)", 1936/37

Leonora Carrington, Nusch Eluard, Ady, Lee Miller, Cornwall 1937 Leonora Carrington, Nusch Eluard, Ady, Lee Miller, Cornwall 1937

In der Kunstkritik ist es heute - auch um Mystifikationen vorzubeugen - üblich, sich den Künstler weniger als "inspiriert" denn als rational Handelnden vorzustellen, der bestimmte Ziele verfolgt und auf Situationen reagiert. In der häufig vorausgesetzten "künstlerischen Strategie" klingt dies an. Der Surrealismus hingegen imaginierte einen Künstler, der sich für Zufallsbegegnungen bereithält und sich gezielt der Spontaneität seiner Einfälle zu überantworten versucht, indem er alle möglichen Tricks anwendet, um seine Vernunft zu überlisten und zu anderen Ebenen als der Verstandesebene vorzudringen. Interessant ist dabei, wie systematisch dieser Kontakt zu verborgenen Kräften gesucht wurde - etwa durch Hypnose. Ein Rest von künstlerischer Strategie schwang also auch hier mit, nur war sie durchsetzt von dem Interesse an all dem, was nicht unter Kontrolle zu bringen ist, was einem plötzlich widerfährt oder sich unverhofft einstellt. Dass in dieser Sensibilität, dieser Offenheit für den Einfall auch eine Methode für die Kunstkritik angelegt sein könnte, hat Georges Didi-Huberman mit seinem Buch "Phasmes" demonstriert. Er erprobte hier ein Schreiben, das sich seinen Gegenständen überlässt und der zufälligen Begegnung eine gewisse Notwendigkeit zugesteht, die ernst zu nehmen ist. Es ist die "zufallsbedingte Form der Erkenntnis", der auf diese Weise zu ihrem Recht verholfen wird. Eine der Prämissen der "écriture automatique" avanciert auf diese Weise zur legitimen Forschungsmethode. Und der Forscher bekennt sich zu seinen fixen Ideen, ohne deshalb seinen analytischen Anspruch aufzugeben. Bemerkenswert ist dabei, dass dieser Einfluss des Surrealismus auf Hubermans Schreibweise ausgesprochen latent bleibt und niemals explizit gemacht wird. Nur ein einziges Mal findet der Surrealismus Erwähnung - bezeichnenderweise in Form einer Verwerfung, gleich einer wegwerfenden Handbewegung. Sich zu dieser Inspirationsquelle zu bekennen, wäre wohl auch schwer möglich - der Weg dazu scheint verstellt. Denn das Konzept "écriture automatique" ist so abgegriffen wie verpönt. Man sprach in den letzten Jahren eher abfällig darüber, auch weil es die mythische Vorstellung eines so unkontrollierten wie sinnlosen Schreibens nach sich zieht. Seine Produktivität liegt jedoch woanders: in der in ihm angelegten Möglichkeit, sich den Phänomenen zu überlassen und sich ihnen gleichsam anzuschmiegen, ohne dass dies auf Kosten von Analyse oder Reflexion ginge.

Anmerkung

[1]Die Manifeste des Surrealismus. Deutsch von Ruth Henry. Reinbek bei Hamburg, 1968, S. 11-29.