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Einleitung Die Aufgabe der Fünfziger

Die Folgen der politischen Ordnung der Welt in den späten vierziger und fünfziger Jahren sind auf der Ebene internationaler Politik nach wie vor spürbar: Viele der in dieser Zeit gegründeten und nichtgegründeten Nationalstaaten sind bis heute Schauplatz blutiger Territorialkonflikte, ob es sich um Israel und Palästina, Irak und Kurdistan, Indien und Pakistan oder um große Teile Afrikas handelt. Die Instrumentalisierung von Diktatoren während des Kalten Krieges zeigte erst in jüngster Zeit ihre weit reichenden Folgen, etwa in Afghanistan oder Zimbabwe. Mit dem Irak-Krieg wurde zuletzt die gesamte Nachkriegsordnung der Vereinten Nationen auf der Ebene des internationalen Rechts in Frage gestellt und damit die humanistische Aufgabe der fünfziger Jahre mit größter Schärfe ins Bewusstsein gerückt.

Auf der Ebene der Kunst hat sich, wie Ausstellungen der letzten Jahre ansatzweise zeigen konnten, ein besonderes Interesse an den kulturpolitischen Verhältnissen des Nachkriegsjahrzehnts formiert. Erst in den neunziger Jahren wurden hier etwa die Implikationen der Befreiungskriege in afrikanischen Ländern zur Sprache gebracht, zum Beispiel in „The Short Century. Independence and Liberation Movements in Africa 1945–1994“ (2001/2002). In einem ähnlichen Zuge wurde auch eine Revision westlicher Kunstgeschichtsschreibungen angemahnt, wie etwa in der Ausstellung „Global Conceptualism“ von 1994, zu Teilen auch in der letztjährigen Documenta11. Aber nicht nur aufgrund der politischen Eckdaten, auf die sich kuratorische Setzungen zu beziehen entschieden, steckt in den fünfziger Jahren mehr Aktualität, als man gemeinhin vielleicht vermuten würde. In der jüngsten Gegenwartskunst fallen einem selbst im konkreten Umfeld positive Bezüge auf die Fünfziger auf: So verschränkt Lucy McKenzie 50er-ddr-Arbeiterwandbilder und 80er-Graffiti – und sampelt damit zwei Bildsprachen, die zumindest im Hinblick auf ihre Vorbilder, die mexikanischen Muralisten, schon einmal näher beieinander lagen. Ein weiteres Beispiel: Die im formalen Gestus an Cobra angelehnten Bilder eines André Butzer, in denen es um eine inszenierte malerische Regression als antikulturelles Paradigma zu gehen scheint. Man könnte auch an die Theaterinszenierungen von Christoph Marthaler und an seine Archäologie des Fifties-Muffs denken, der noch in deutschen Sofaritzen steckt. Und die Wiener Situationistinnengruppe „y.u.p.“ wiederum mag stellvertretend genannt sein für die immer wieder stattfindenden, auch kritischen Rekurse auf die Situationistische Internationale. Dies sind nur wenige Beispiele, in denen sich zurzeit implizit oder explizit Rückbezüge auf Elemente der fünfziger Jahre finden lassen. Ein anderer Anlass für unsere Beschäftigung mit den fünfziger Jahren ist das gleichzeitige Wiederauftauchen figurativer Malereistile und des Begriffs „Menschenbild“ – zu lesen im Pressetext zu André Butzers jüngster Ausstellung in der Berliner Galerie Hetzler, zu lesen im Pressetext zur Ausstellung „deutschemalereizweitausenddrei“ im Frankfurter Kunstverein, zu lesen als Titel einer Sektion des Kongresses „Utopische Körper“ an der Berliner Volksbühne, Ende Mai 2003. Während im Falle der beiden Ausstellungen eine kunstimmanente Diskussion um figurative Malerei ins Laufen kam, ist der Begriff des „Menschenbildes“ auch in einem anderen Rahmen zu verhandeln. Denn die jüngeren Entwicklungen der Biopolitik haben die Großkategorie „Mensch“ und die Verhandlung des „Menschlichen“ erneut auf die Tagesordnung gesetzt, sehr unbeeindruckt von der bisher geleisteten feministischen Kritik an Biologismen. Ähnlich wie in den fünfziger Jahren wird seit den neunziger Jahren wieder die Grenze zum „Inhumanen“ befragt – allerdings aus einer gänzlich anderen historischen Situation heraus, doch im Zusammenhang dessen, was biopolitisch möglich war und heute ist.

Begriffe wie „Menschenmaterial“ in der Sprache der Genforschung, „human resources“ in der Sprache der globalisierten Ökonomie, „humanitäre Intervention“ in der Sprache der Kriegsführung beschäftigen Ethik wie Gesellschaftskritik gleichermaßen. Der Philosoph Giorgio Agamben geht davon aus, dass die biopolitischen Versprechen eines „guten und besseren Lebens“ wie auch die humanitäre Rhetorik gerade nichts mehr mit einem wie auch immer gearteten Verständnis von Menschlichkeit zu tun haben. Vielmehr verdeckt gerade diese „humanitäre Ideologie“ hegemoniale und/oder ökonomische Interessen. Angesichts jüngerer Debatten um Biopolitik und Humanismus gab schon Jacques Derrida in seinem Buch „Vom Geist“ zu bedenken, ob bei aller Humanismuskritik am Ende nicht doch eine humanistische Teleologie sämtliche Ablehnungen von Biologismus, Rassismus und Naturalismus durchziehe, da ohne ein Bestehen auf menschlicher Überlegenheit, etwa im „Geist“, der evolutionäre Kontinuitätszusammenhang von Tier zu Mensch nicht radikal zu durchbrechen sei.

Gerade die Kunst der fünfziger Jahre liefert eine Vorlage für diese Debatten um Humanismus und „Menschenbild“, da sie unter der Maßgabe stand, nach der damals sogenannten „Barbarei“ des Nationalsozialismus den Humanismus zu retten. Hinzu kommt, dass Kunst grundsätzlich auf „menschliche Wahrnehmung“ angewiesen bleibt, wie Anselm Haverkamp in einem hier im Folgenden abgedruckten Gespräch einwirft. Anthropomorphismen durchziehen Rezeption wie Produktion von Kunst, vor allem seit in den fünfziger Jahren Materialität selbst mit körperhaften Qualitäten assoziiert wurde. Was insofern am wiedergekehrten Begriff des „Menschenbildes“ – von den fünfziger Jahren her – erneut zu kritisieren bleibt, ist die damit verbundene Rückkehr zu essentialistisch-humanistischen Kategorien. Auch hierfür bilden die Fünfziger eine Folie, die zu sehen ermöglicht, welche Entlastungen sich hinter einer solchen Rhetorik verbergen.

Eine entscheidende, übergreifendere Frage, die sich für die fünfziger Jahre bis heute stellt, ist die nach subjektiver Handlungsfähigkeit und künstlerischen Optionen in den jeweils spezifischen soziokulturellen und politischen Verhältnissen. Wenn Benjamin Buchloh schreibt, die Kunstproduktion der Nachkriegszeit stehe im Spannungsfeld von Repression und Konsum, wäre dies im Hinblick auf die Internalisierung von Machtverhältnissen im Zuge autoritärer Familienstrukturen oder fordistischer Produktivitätsmodelle auszudifferenzieren. Denn selbst wenn mit dem Übergang von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft „äußere“ Repression nicht mehr nur verinnerlicht, sondern auch produktiv gewendet wurde, bedeutet dies keineswegs eine Abschaffung gesellschaftlicher Zwänge. Daher bleiben die Fragen nach künstlerischen Handlungsmöglichkeiten und Subjektivierungsformen unter den Bedingungen von „repressiver Toleranz“ bestehen, die jenseits offener Totalitarismen und Diktaturen als internalisierte Machtstrukturen weiterlaufen. Für die fünfziger Jahre stellte sich dieses Problem verschärft durch die Verdrängung der nationalsozialistischen Vergangenheit und die Rhetoriken des Kalten Krieges.

Was damit an künstlerischen Optionen vernachlässigt oder beiseite geschoben wurde – wie auch mit jener hartnäckigen Periodisierung „nach 1945“ oder „nach 1949“ –, lässt Laszlo Glozer anhand der von ihm mitkuratierten Ausstellung „Westkunst“ nochmals Revue passieren und wird im Gespräch mit Jutta Held diskutiert. Ein damaliger künstlerischer Ansatz war bekanntlich das Setzen auf Primitivismen als antikulturelle Geste. Karel Appels „wilde Malerei” etwa – eine Ablehnung der Behauptung, Affektkontrolle bedeute einen Zivilisationsgewinn – wird von Jean-François Lyotard unterstützt. Ihm geht es darum, dem Humanen das Inhumane entgegenzusetzen und einzuschreiben – ein Versuch, dem allerdings auch Grenzen gesetzt sind. (vgl. den Text von Dirk Setton). Ein ähnlicher Fall ist die Absage an die bürgerlich-freudianische Idee der Triebsublimierung, die Benjamin Buchloh in Fautriers Bildern gegeben sieht. Ob dies noch eine Option ist, fragt Jutta Koether in ihrem Text über Fautrier. Dass die Option existiert, stellte der Künstler Mike Kelley mit seinen Stofftier-Installationen oder dem an die Betrachterinnen seiner Installationen gerichteten Regressionsbefehl „Crawl, worm!!“ immer wieder unter Beweis. Fautrier und Kelley scheinen zwar im Hinblick auf ihre künstlerischen Ausgangsbedingungen schwerlich vergleichbar: eine physiologisch aufgefasste Materialität mit affektivem Potential bei Fautrier, selbstreflexive Bezugnahme auf die eigene Zugehörigkeit zum modernistischen Kunstdiskurs bei Kelley – ein Unterschied übrigens zwischen Ausdrucksparadigma der Moderne und einer kritischen Selbstreflexion der Kunst, der ebenfalls in den fünfziger Jahren seinen Ausgang nahm (vgl. Haverkamp). Was beide Künstler allerdings eventuell doch vergleichbar macht, sind ihre jeweiligen Impulse, auf gesellschaftliche Zwänge und Gewalterfahrung jeweils mit einer gegen den Zivilisationsglauben gewandten „Regression“ oder „Desublimierung“ zu reagieren – und dies in eine Form künstlerischen Handelns zu wenden.

Allein die beiden letztgenannten Künstler zeigen in ihren unterschiedlichen Prämissen, dass künstlerische Arbeiten unhintergehbar zeitspezifisch sind. Ähnliches gilt aber auch für die räumliche Ebene, entgegen allen Fünfziger-Jahre-Behauptungen von „Kunst als Weltsprache“, die noch von imperialistischer Rhetorik begleitet war. Könnte man etwa meinen, in den „Mauern von Athen“ des griechischen Künstlers Vlassis Caniaris einen Bezug auf das allgegenwärtige Fünfziger-Informel zu sehen, handelt es sich aus einer kontextspezifischeren Sicht um einen gänzlich anderen Einsatz, der sich die Semiosis des Malerischen ganz anders angeeignet hat (vgl. Text von Michael Fehr). Auch was Luis Camnitzer von der Situation in Uruguay und späteren Repressionen durch Militärdikaturen in Lateinamerika zu berichten weiß, ist trotz mancher Verbindungen zwischen europäischen und lateinamerikanischen Kunstkontexten nicht vergleichbar. Zwar gab es zunächst ein gemeinsames Interesse an Konkreter Kunst, das sich auf der 1951er Biennale in Sao Paulo zeigte, bei der Max Bill und das Neue Bauhaus vertreten waren. Später jedoch verebbte der Einsatz eines am Bauhaus lehrenden Konkrete-Kunst-Vertreters wie Max Bense für lateinamerikanische Kunst (vgl. die Texte von Helmut Draxler und Michael Dreyer). Das hängt möglicherweise auch damit zusammen, dass sich Bense in seiner ästhetischen Theorie mit den eigenen Kategorien selbst in die Quere kam, wie es Helmut Draxler anhand seiner Relektüre von Max Bense feststellt – kein Problem allerdings, das sich auf die fünfziger Jahre beschränken lässt, sondern das sich bei jeder Theorieproduktion wieder neu stellt.

Unterlegt man also die fünfziger Jahre aktuellen Phänomenen als heuristische Denkfolie, dann tauchen nicht nur überraschende Bezüge und verschleppte Rhetoriken auf. Vielmehr kommt auch in den Blick, was eine vor allem seit den Fünfzigern westlich orientierte Kunstgeschichtsschreibung lange Zeit verstellt hat – wie es sich im Gespräch mit Luis Camnitzer zeigt.

Susanne Leeb