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Ina Blom

Die Logik des Trailers Abstraktion, Style und Sozialität in der zeitgenössischen Kunst

Liam Gillick, "Underground - Fragments of Future Histories", 2004, Galerie Micheline Szwajcer, Ausstellungsansicht Liam Gillick, „Underground – Fragments of Future Histories“, 2004, Galerie Micheline Szwajcer, Ausstellungsansicht

Versuchte die Moderne noch einen Abstraktionsbegriff zu postulieren, der auf der Idee ästhetischer Selbstreferenz basieren sollte, kann Abstraktion unter den Bedingungen des Postfordismus und der immateriellen Produktion als eine alle Gesellschaftsbereiche durchdringende Kategorie gefasst werden. Unter dem Einfluss des Informationsparadigmas der Nachkriegszeit wurde Abstraktion zunehmend als Design recodiert – als Manipulation technologisch hergestellter Oberflächenphänomene, die mit der Deterritorialisierung des Kapitals im Zeichen der Globalisierung und einer biopolitischen Logik korrespondiert, die auf die Produktivität eines ästhetisch stilisierten Lebens abzielt.

Künstler/innen wie Liam Gillick und Tobias Rehberger adressieren Abstraktion nicht mehr nur als Gestaltungsprinzip diskreter minimalistischer Objekte, sondern versuchen qua Design Orte einer offenen sozialen Interaktion zu schaffen, deren konkrete Nutzung es in der Ausstellungssituation immer wieder neu zu definieren gilt – ohne damit zwangsläufig relational-ästhetische Gemeinschaftsmodelle zu inszenieren. Ist es vor dem Hintergrund eines solchermaßen reformulierten Abstraktionsbegriffs angebracht eine Neuschreibung dessen vorzunehmen, was gemeinhin unter dem Begriff „sozialer Kunst“ gefasst wird? Und was kann „abstrakte“ Kunst eigentlich unter den aktuellen Bedingungen elektronischer Mediennetzwerke und Design überhaupt bedeuten?

Wir befinden uns im Januar 2008, und gerade bietet der neueste Trend im Verlagswesen einigen Feuilletons Diskussionsstoff. Es scheint, als stellten dieser Tage immer mehr Autoren und Verlage sogenannte Buchtrailer auf dem frei zugänglichen Videoportal YouTube.com ein – kurze, filmartige Clips, die mit einer hektischen Mischung aus Stand- und Bewegtbildern und zu dröhnender Musik und eingesprochenen Texten die entscheidenden Elemente einer Erzählung visualisieren sollen. Einziges Merkmal, an dem der Betrachter erkennen kann, dass es sich um einen Buchtrailer und nicht um den Trailer für einen Spielfilm oder eine Miniserie im Fernsehen handelt, ist die Tendenz, hier und da Momentaufnahmen bedruckter Seiten, Illustrationen und Umschlagentwürfe zu zeigen. Die Autoren kann man leicht mit Schauspielern verwechseln: So läuft etwa Stephen J. Cannell im Trailer durch die fiktionalen „Schauplätze“ seines neuen Mysteryromans „Three Shirt Deal“ und erzählt dabei dessen Handlungsverlauf, wobei der „Autorenlook“ zweifellos Bestandteil der Gesamtgestaltung ist.

Schon im Jahr 2004, nicht unweit in der Zeitrechnung der Medien, griff ein Ausstellungsprojekt von Liam Gillick diese geschickte Verknüpfung vormals getrennt gehandelter Medienbereiche auf. Auftürmungen schmutzigbrauner Teppichbahnen, die zu Hügeln und Falten geformt waren, schufen in der Antwerpener Galerie Micheline Szwajcer eine Art Landschaftsbild, doch das schien nur der Hintergrund für den eigentlichen Anlass. In der hintersten Ecke dieser Teppichlandschaft lief der siebenminütige Trailer für das Update des 1896 erschienenen Science-Fiction-Romans „Underground (Fragment of Future Histories)“ aus der Feder des französischen Soziologen Gabriel Tarde auf einem Brionvega Cuboglass-Fernsehgerät des Baujahrs 1969. [1]

Auf den ersten Blick sah es aus wie eine ganz normale Werbeveranstaltung: Ein Buch war erschienen, und nun setzte sich die Verkaufsmaschinerie in Gang. Doch diese Veranstaltung hatte selbst ebenfalls Kunstwerkcharakter. Ja, es war sogar ein Kunstwerk, dessen Neigung zu Indirektheit und Hermetik einen Dialog zur Frage nach der Abstraktion in der Kunst wie auch zur immer stärkeren Abstraktheit sozialer Beziehungen unter spätkapitalistischen Bedingungen (nach Theodor W. Adorno jene Wirklichkeit, auf welche die abstrakte Kunst antwortet) eröffnete. Adornos Analyseobjekte lagen ganz wörtlich komplett vor: Zum einen ein literarischer Text – als Beispiel menschlicher Kreativität und Reflexivität –, der dort in den Fängen kulturindustrieller Werbelogik lag. Zum anderen die Kuben, Rechtecke und Quadrate aus dem Abstraktionsvokabular der Hochmoderne – nur hier in domestizierter Fassung, als hochstilisierte Designobjekte für den gesellschaftlichen Gebrauch und anscheinend völlig frei von jedem Potenzial radikaler Transzendenz. Das radikal kubische Brionvega-Fernsehgerät war ein Objekt in diesem Sinne, ebenso wie die glänzend polierten neuen, von Gillick so genannten „Diskussionsplattformen“, im Minimal-Idiom gehaltene Konstruktionen aus Aluminium und gefärbtem Plexiglas, die schon zum Mobiliar so vieler seiner Installationen wurden.

Und trotzdem ist die für dieses Werk spezifische Form der Indirektheit besonders geeignet, mit den oben aufgeführten Bedingungen der Abstraktion zu brechen. Die ihm eigenen Formen oder Strategien sollten zunächst einmal als situationsbezogene oder ortsspezifische gedacht werden. Der Ort, den es erschafft, ist kein geringerer als die neue Welt des totalen Designs, der intensivierten Prozesse einer „Ästhetik des Lebens“ oder Selbststilisierung, die die Grundlage für das besondere Zusammengehen gouvernementaler und kapitalistischer Interessen in derzeitigen Formen von Biopolitik und postfordistischer Produktion bilden. Man sollte das Werk also als einen Eingriff einer mentale und körperliche Prozesse und die Mächte des Empfindens und des Affekts in den Vordergrund stellenden Politik sehen – einen Eingriff in die schwer fassbare Kontinuität zwischen künstlerischen, ästhetischen und gesellschaftlichen Kräften. Dessen Festhalten an seinem indirekten Charakter wiederum könnte man im Zusammenhang des veränderten Verständnisses von Herrschaft und Widerstand sehen, das mit einer solchen Politik einhergeht. Die Neufassung von Gabriel Tardes soziologisch-fiktivem Roman hatte Gillick übernommen. Aus der bewussten Entscheidung heraus, die Logik der Globalisierung zu „unterstützen“, die durch die englische Übersetzung aus dem Jahr 1904 vorgegeben ist (mit anderen Worten: noch nicht einmal das französische Original zu konsultieren), kam es nur zu einigen kleineren Veränderungen des Textes. Wo immer etwa Kino – die große Novität zu Zeiten Tardes – erwähnt war, wurde dieser Begriff systematisch durch „Video“ ausgetauscht. Doch Gillicks Neufassung erstreckte sich auch auf die designtechnische Gestaltung des Buches. Nun also wurde dieses fein gealterte Stück utopischer Vorstellungskraft durch Gillicks übliches Spiel mit leuchtend bunten, modernistisch-konstruktivistischen Stilsprachen eingefasst, inklusive serifenloser Typografie im gesamten Haupttext – ganz so, als ginge es darum, Tardes „Modernität“ oder „Zeitgemäßheit“ hervorzuheben, um so eine Grundbedingung für dessen neue Warenförmigkeit zu erfüllen. Das letztendliche Buchprodukt wurde auf einem der Teppichberge präsentiert: der ganze Raum wirkte tatsächlich wie eine Ausarbeitung zu der Frage, wie wohl eine stilistisch passende Umgebung für einen Buchmessestand oder eine Pressekonferenz aussehen könnte.

Fragte sich nur, was diese Umgebung denn nun eigentlich bewerben oder präsentieren sollte. Auf den ersten Blick schien es sich bei dem Buchtrailer im Prinzip um eine Animation der Buchgestaltung zu handeln und nicht etwa um die Animation irgendeiner in ihm enthaltenen Erzählhandlung. Das glänzende Schwarz wurde von einem Arrangement breiter, pastellfarbener Linien dominiert, die man leicht als vielfarbige Lichtstrahlen deuten konnte, die einen dunklen Raum durchmessen. Und auf dem Fernsehschirm tanzten ähnlich leuchtfarbige Textfetzen zu midi-files oder mittelalterlichen Flötenklängen herum – so ähnlich, wie sich sonst grafische Muster im Fernsehen für irgendetwas Bevorstehendes (etwa eine Nachrichtensendung) in tänzerischer Bewegung halten. Doch das „Design“ hörte hier nicht etwa auf. Denn hier wurde selbst der Fernsehapparat, der wie dafür ausgewählt schien, dem Stil von Buch und Trailer genau zu entsprechen, zur mit höchstem Aufwand inszenierten Stilikone. Aufgrund seiner vollkommen kubischen Grundform, die an allen Seiten außer einer mit einer metallisch glänzenden Oberfläche überzogen ist, wurde der Brionvega seinerzeit als „mehr als ein Fernseher“ beworben, denn „wenn er ausgeschaltet ist, lässt sich kaum sagen, mit was genau man es zu tun hat“. Er ist also auch ein „absolut klares Zeichen“, das man „begehrt, lange bevor man weiß, wozu es gut ist“. [2] Tatsächlich verfügte das Fernsehgerät, das zur Vorführung von Gillicks Buchtrailer eingesetzt wurde, über den ganzen hermetischen Glanz der Minimal-Kuben der 1960er Jahre – den Glanz jener Objekte, die zugleich Inbegriffe modernistischer Abstraktion und Beispiele für deren Umkehrung waren, die Transformation der Abstraktion in einen Projektionsraum sozialer Beziehungen. [3] Auf die gleiche Weise rief der Brionvega auch die ambivalenten Verbindungen dieser Objekte zur Welt der Innenarchitektur ins Bewusstsein, die genaue Stelle, an der Minimal Art in minimalistischen Stil umkippt, wenn sich die radikalsten und unpersönlichsten Arbeiten in der Geschichte der Kunst zu bloßen Bedeutungsträgern persönlicher Geschmacksurteile verwandeln. Das ist übrigens auch der Moment, in dem das Fließbandmodell industrieller Massenfertigung, an das die seriellen und standardisierenden Tendenzen des Minimalismus erinnerten, einer weitestgehend von Medienapparaten betriebenen postindustriellen Produktion von Subjektivität zu weichen schien: der Brionvega schien von all diesen gesellschaftlich-ästhetischen Akzentverschiebungen förmlich angefüllt zu sein. Das wird wohl auch der Grund seiner Verwendung in dieser ganz besonders slicken Verbindung von Displaylogik und Medienereignis gewesen sein, neben Gillicks im Minimal-Stil gehaltenen „Diskussionsplattformen“. In dem von diesen erzeugten Farblichtkegel (der diesmal passend zum Teppich schmutzigbraun gehalten war) soll irgendeine Art der Diskussion oder des Socializing stattfinden – wozu es allerdings niemals wirklich kommt. Doch was hier entscheidend zu sein scheint, ist die Andeutung der Akzentverschiebung von der transzendenten Abstraktionsweise der klassischen Moderne hin zur Immanenz heutiger sozial oder relational angelegter Kunstpraktiken, die angebliche Unmittelbarkeit der „Interaktion“, des „Austausches“, des „Zusammenseins“. Doch letztlich ist das genau die Bedeutung des „Sozialen“, die durch Gillicks Abstraktionsleistungen infrage gestellt werden sollte.

Zusammen gesehen ergeben all diese Designelemente – jedes von ihnen für sich hermetisch, eines jeweils irgendwie absurd auf das andere geschichtet – etwas, das man einen „Ort des Stils“, eine „style site“ nennen könnte. Mit diesem Begriff möchte ich eine künstlerische Produktionsweise benennen, bei der auffällige Stilphänomene nicht als Teil einer Künstlersignatur figurieren, auch nicht als Chiffre für den Wunsch eines Künstlers, Kunst und Design zu vereinen, sondern als Artikulationsobjekt eigenen Rechts. Wenn das überhaupt möglich ist, dann vor allem aufgrund der Tatsache, dass Stil hier als ein sozialer Punkt der Entscheidung oder der Komplexität vorgeführt wird, ja als eine „Stilfrage“, die sich auf spezifische gesellschaftliche Orte bezieht. Auf einer allgemeinen Ebene begegnet man solchen Stilfragen etwa dort, wo es um die Aufdeckung von Beziehungen zwischen Erscheinungsbild, Anerkennung und gesellschaftlicher Identität geht – wo immer es also um die Behandlung unvorhergesehener Auftritte und gesellschaftlicher Phänomene geht, die noch der Einordnung bedürfen. Künstlerische Arbeiten, die sich auf „style sites“ beziehen, lassen sich in diesem Sinne als Varianten ortsspezifischer Kunstpraktiken betrachten, vor allem in Bezug zu der Art und Weise, wie sich üblicherweise solche Praktiken von formalistischen und historistischen Ansätzen distanzieren. [4] Während nämlich Stil im Bereich kunsthistorischen Schreibens eindeutig eine Schlüsselfrage darstellt, wird er dort noch immer im Sinne einer vorab bestimmten oder dauerhaften Erscheinungsform gehandhabt – sicherlich eine Auswirkung der Kategorisierungsnöte dieser Disziplin. [5] Im Gegensatz dazu verstand Walter Benjamin den Jugendstil als Symptom der Paradoxien, die sich mit dem Ansinnen verbanden, der Moderne ein öffentliches „Antlitz“ zu geben: in seinem Werk bezeichnet Jugendstil entsprechend weniger einen „Epochenstil“ als vielmehr einen gesellschaftlichen Ort. [6] Heutzutage gehört die Frage unvorhergesehener gesellschaftlicher Auftritte gewissermaßen zur Grundausstattung der biopolitischen Logik des Stils: das Element des Begehrens bei der Stilisierung des Lebens im Lifestyle verbindet sich mit dem Versprechen, definierbaren Subjektivitätsschemata zu entrinnen, und mit der Vorstellung eines unabschließbaren Werdens. So könnte man sagen, dass die „Frage“ nach dem zeitgenössischen „Ort des Stils“ in der Lage ist, Entsubjektivierungsprozesse umzukehren.

Das könnte auch der Grund sein, aus dem Gillicks Promotionarbeit den Zugang zu einem Verständnis davon verstellt, was genau hier eigentlich präsentiert oder beworben werden soll. Stattdessen tritt Design als quasiautonomes Objekt der Reflexion auf, das in engen Umlaufbahnen um sich selbst kreist. Durch die Vorführung mithilfe eines ikonischen Stücks „Designtechnologie“ wird der Buchtrailer als Format betont, als eine Frage der Designlösung, was wiederum zugleich die Vorstellung vom Buch als Objekt inmitten eines genau passend entworfenen Werberahmens vermittelt. Es ist die nahezu hysterische Überdeterminiertheit der Stilfaktoren in Gillicks Werk, ihre Ferne von jedweder entschiedener Fundierung, die ein Verständnis von Stil als offene Frage oder Erscheinungskrise und damit auch als einem sozialen Ort zum Tragen bringt. Durch diese Art der Handhabung wird mehr als deutlich, dass Stil hier nicht nur ein Charaktermerkmal ist, das irgendeinem so und so bestimmten Projekt oder Gegenstand zueigen ist – sei dieses nun „künstlerisch“ oder utilitaristisch –, sondern dass Stil hier selbst als eine Art Produktionsmaschinerie verstanden wird. Während sich die meisten ortsspezifischen Kunstwerke sozialen Praktiken öffnen, die gemeinhin nicht mit dem Bereich der Kunst oder den institutionellen Bedingungen von Kunstproduktion und -präsentation zusammengebracht werden, scheint dieses Werk eher die Überschneidungen von Kunst mit der zeitgenössischen Produktion nichtabschließbarer Subjektivierung in den Vordergrund zu stellen. Und die Bedeutung von Medienapparaten und Technologien im Zusammenhang dieser Produktion – allen voran die Echtzeittechnologien, die den Dynamiken menschlichen Erinnerns und Wahrnehmens nachgebildet scheinen – liefert vielleicht eine Erklärung für die emphatisch betriebene Kopplung von Stil und Televisualität in Gillicks Werk. [7]

Doch gehen in diesem Stilrätsel die sozialen Ideen, die Gabriel Tarde in seiner Erzählung vorstellt, keineswegs verloren: sie werden aktiviert, und ihre besondere Spielart utopischer Imagination bildet eine Kraft, der durchaus Rechnung getragen werden muss. Tatsächlich ist dies die Stelle, an der wir wirklich mit der Entwirrung der seltsamen Verbindungslinien zwischen „Sozialität“ und „Indirektheit“ in Gillicks Werk ansetzen können. Den Begriff „Indirektheit“ hat Gillick selbst verwendet, als er den Versuch unternahm, diese Art Werk innerhalb eines sich ausdehnenden und immer umstrittener werdenden Katalogs „sozialer“ Kunst zu verorten – oder, genauer, dessen relative Entfernung zu transparenteren oder praktischeren Ansätzen in weiten Bereichen aktivistischer oder an Communities orientierter Kunst zu bestimmen. [8] In dieser letzten Kategorie scheint die Repräsentationsfrage oft die entscheidende, kritische Rolle zu spielen: die Frage wie, mithilfe welcher künstlerischen/strategischen Mittel, bestimmte Gruppierungen, Gemeinschaften, Themen und Interessen repräsentiert oder formalisiert werden. Im Gegensatz dazu scheinen Werke wie diejenigen Gillicks gerade den Repräsentationsrahmen vollkommen hinter sich zu lassen: mit ihren anscheinend freien Assoziationen zwischen visuellen, räumlichen, textuellen, medienbezogenen und zeitlichen Elementen lässt sich deren vorgebliche Sozialität nicht als fest umrissenes oder vertrautes „Objekt“ kartografieren oder verorten, wie das eine bestimmte Gemeinschaft, ein Thema oder eine Institution sehr wohl könnten.

Darum ist die Versuchung groß, die Strategien dieses Werks als besondere Form künstlerischer Abstraktion zu interpretieren. Doch hebt sich diese spezifische Verfahrensweise von jener Art Szenario ab, bei der ökonomische Abstraktion als Wurzelphänomen jeglicher Abstraktion gesehen wird, so dass das differenzierende, qualitative Potenzial individueller Sinneseindrücke sich systematisch zum quantifizierbaren, ökonomischen Potenzial wandelt, und dies ist ein Prozess, der mit neuen Formen politischer Indienstnahme einhergeht. Um hier nur einen Aspekt zu nennen: diesen analytischen Begriffsrahmen anzuerkennen hieße auch, das Grundlagenproblem anzuerkennen, das auf diesem besonderen Abstraktionsbegriff lastet. Wie Tim Black aufgezeigt hat, mag Adornos Brandmarkung einer auf die abstrakten Quantitäten von Tauschverhältnissen reduzierten Welt auf den modernen Kapitalismus gezielt gewesen sein, doch in Wirklichkeit greift seine Analyse der Verdinglichung oder der Tendenz, Dinge mit ihrer begrifflichen Abstraktion (und damit auch mit ihrem Tauschpotenzial) zu identifizieren, menschheitsgeschichtlich bis zum primitiven Animismus zurück und behauptet dies nicht als eine spezifische Erscheinungsform des Kapitalismus. In der „Dialektik der Aufklärung“ wird dieser Impuls zur Begriffsbildung und Abstraktion als Antwort auf das Bedürfnis interpretiert, sich vor der unberechenbaren Gewalt der Natur zu schützen. [9] Doch geht man davon aus, dass im Grunde das menschliche Symbolisierungsvermögen das Problem ist, dann ist Adornos Abstraktionsbegriff nicht nur das hervorragend formulierte Beispiel des spezifisch modernistischen Misstrauens gegen jegliche Form der Repräsentation. Er nimmt ebenso teil an der semiotischen Logik der Repräsentation und deren gesamtem analytischen Apparat. Innerhalb dieser Rahmenbedingungen wird die Essenz des Sozialen, die eigentliche Idee der Möglichkeit des Sozialen, mit der Vorstellung des Austausches und dem Begriff der unendlichen Zirkulation von Austauschverhältnissen gleichgesetzt. Vom Ritual zum Kapital ist dies der „Stoff“, aus dem das Soziale gemacht wird; dies ist der ureigenste Bereich des Sozialen. Und darüber hinaus ist auch jedweder Begriff einer „sozialen“ Kunst zur Auseinandersetzung mit den Praktiken und Problematiken des Austausches gezwungen – in ethischer, ästhetischer, politischer und moralischer Hinsicht. Das Problem dieser Analyse liegt in ihrer allzu glatten Gleichsetzung des Austausches zwischen Menschen und den Austauschmechanismen des Kapitals: das Kapital wird auf diese Weise zum alles andere hervorbringenden Urprinzip ernannt, ihm wird automatisch eine Position der Herrschaft und der Initiative und damit eine Position zugewiesen, die nur abgelehnt werden kann. Hier bietet die postoperaistische Position, die (u. a. von Antonio Negri) aus den Marx’schen Schriften entwickelt wurde, eine Alternative: denn hier wird der kreative Impuls auf der Seite der Arbeiter selbst verortet, die neue Werte und neue Formen des Zusammenlebens entwickeln. Das Kapital bemüht sich permanent darum, mit dieser Art Kreativität Schritt zu halten. Entsprechend könnte man auch die zeitgenössischen Entsubjektivierungsprozesse als andauernde Herausforderung an die Adresse des Kapitals verstehen – und eben nicht nur als eine simple Auswirkung der „Logik“ des Kapitals. Und aus dieser Perspektive könnte man sich auch der neuen Bedeutung von Stil auf weniger negative Weise zuwenden: wenn man von Stil als einem Apparat gesellschaftlicher Erfindungen ausgeht.

Die Verbindung zwischen Sozialität und Indirektheit in Gillicks auf „style sites“ bezogenen Arbeiten auszumachen, bedeutet also auch, dem Zusammenhang zwischen der Erfindung von Sozialität und Verfahrensweisen der Abstraktion Rechnung zu tragen. Dadurch, dass es keine bestimmte Richtung aufweist, „Sozialität“ heraufbeschwört, dabei jedoch keinerlei gemeinschaftliches Handeln in einem Sinne nahe legt, wie es die Tradition gemeinschaftsbezogener oder aktivistischer Kunstpraktiken vom Wiener Aktionismus bis zum Atelier van Lieshout vorgibt, scheint Gillicks „style site“ sich einer Interpretation im Sinne herkömmlicher Austauschmodelle zu entziehen. Mit anderen Worten: seine Indirektheit oder Abstraktheit, seine Verweigerung jeglicher dauerhafter Verknüpfung von Stil und Zweck oder von Stil und der Anerkennung von Objekten oder Identitäten ist das Ergebnis einer Logik der Assoziation. Gillick zieht ständig Verbindungslinien zwischen üblicherweise nicht verknüpften Elementen – zwischen soziologischer Fiktion und minimalistischen Kubusformen, zwischen Grafikdesign und Fernsehsignalen –, und diese Verbindungen oder Assoziationen führen jeweils zu Momenten der Schwierigkeit, zu Momenten, in denen das Verstehen versagt und Denken und Wissen sich auf Herausforderungen einzulassen haben.

Wie es sich ergibt, bringt diese Assoziationslogik ihren eigenen Ansatz zum gesellschaftlichen Denken mit. Er steht in Verbindung mit einer Denkweise, für die „das Soziale“ nicht als ein spezifischer, von bestimmten Grundprinzipien regierter Bereich der Wirklichkeit, als „Kontext“ aufgefasst wird, in dem sich nichtsoziale Aktivitäten ereignen. Das Soziale ist hier vielmehr ein Prinzip der Konnektivität und Produktivität, etwas, das sich in überraschenden Assoziationen selbst nichtsozial zu nennender Objekte oder in der ständigen Realitätsaufgabelung aufspüren lässt, zu der es kommt, wenn die präzisen Bestandteile eines Objekts oder einer Situation in Zweifel stehen, weil neue Informationen und neue Formen des Wissens oder Handelns aus menschlicher Kreativität die Welt tendenziell immer komplexer werden lassen. Und das ist natürlich genau der Punkt, wo die Kräfte der Fiktion eines Gabriel Tarde Zugang zu Gillicks Werk finden, denn diese Fiktion entstammt einer Form der Soziologie, die sich historisch genau auf eine solche Assoziationslogik gründete. [10] Als Fantasie einer postkatastrophischen Untergrundwelt, in der die nahrungstechnischen Grundbedürfnisse der Restbevölkerung bereits geregelt sind, spielt Tardes „Underground (Fragments of Future Histories)“ mit Möglichkeiten, gesellschaftliche Verhältnisse auf andere Weise zu beschreiben als mit den immer wieder negativen Vorgaben der Bedürfniserfüllung, der Konsumption oder der Mängelkompensation. Zu diesem Zweck erfindet er eine menschliche Gesellschaft, die sich nur nach Maßgabe des intensiven und differenzierenden Potenzials ästhetischer und affektiver Phänomene beschreiben lässt: „Der geistige Raum, der sich durch die Reduzierung unserer Bedürfnisse auftut, wird von jenen künstlerischen, poetischen und wissenschaftlichen Talenten übernommen, die sich darin vermehren und tief verwurzeln. Sie werden zu den wahrhaften Bedürfnissen der Gesellschaft. Sie entstammen einer Notwendigkeit zu produzieren und nicht einer Notwendigkeit zu konsumieren.“ [11]

Neben dem Slogan „Produzieren ist eine Leidenschaft, Konsumieren ist nur eine Geschmackssache“ bildet obiges Zitat einen der wichtigsten Sätze, die in Gillicks Buchtrailer umhertanzen. Es sind exakt die gleichen Worte, die als leuchtend farbiges Fernsehdesign aufgemacht wurden. Der Trailer ist ganz klar ein typisches Beispiel der Techniken der Aufmerksamkeitsbindung, die in den ästhetischen Industrien verwendet werden – eine Form, die speziell dazu entwickelt wurde, das nie endende Verlangen nach dem „Next Big Thing“ auszunutzen, das Publikum in einem Dauerzustand höchster Aufmerksamkeit zu halten. Doch hier erscheint der Trailer auch noch in anderer Gestalt. Denn wenn die assemblageartigen Umsetzungen des typischen Trailers üblicherweise funktionieren, dann genau deshalb, weil sie erfinderische und produktive Kräfte in Gang setzen, die sich nicht ernsthaft auf eine einzige Schöpferfigur zurückverfolgen lassen: jene Art Kräfte mithin, die tatsächlich im Zentrum von Tardes alternativem Begriff des Sozialen stehen und zu den Elementen gehören, die dieses beschreibbar machen. [12] (Letztlich interessiert sich niemand für den Autor eines Trailers, jeder dagegen interessiert sich für dessen Suggestionsvermögen.) Wie es scheint, zieht sich eine „Logik des Trailers“ durch zahlreiche künstlerische Werke, bei denen die in zeitgenössischen Design- und Medienmilieus wirksamen gesellschaftlichen Kräfte ausgespielt zu werden scheinen. Das „Briannnnnn and Ferrryyyyyy“-Projekt von Liam Gillick und Philippe Parreno (und einer langen Liste weiterer Mitwirkender) liest sich über weite Strecken wie ein einziger langer Trailer, der uns mit den Gegenständen und den Institutionen des Urheberrechts konfrontiert. Dies liegt in erster Linie daran, dass die Titel, Credits und anderen Informationen die Länge jedes anderen möglichen Inhalts bei diesem DVD-Projekt übertreffen, aber auch daran, dass der Inhalt „aus einer endlosen Auflistung von Fragen, Zitaten und Potentialitäten besteht und eben keine klar umrissene Darlegung legaler Problemstellungen liefert.“ [13] Und Tobias Rehbergers „On Otto“ verwendet ein Filmplakat und einen Trailer – die für gewöhnlich die Endphase einer Filmproduktion bilden – als eigentlichen Ausgangspunkt für eine umgekehrt organisierte Filmproduktion: das daraus hervorgehende Filmprojekt erzeugt eine Vielzahl von Effekten, vielleicht ohne den eines gesättigten Kulturgegenstandes vermitteln zu können. Wie auf einer langen Liste von Hyperprofessionellen aus der Welt des Hollywoodkinos tun auch sie, was sie am besten können, und dennoch stellt sich der Eindruck ein, dass es gleichzeitig um ein Verlernen von Kinowissen und um eine Neuerfindung des Potenzials von Film geht.

Dementsprechend scheinen die Design- oder Stilelemente, die in Gillicks Trailer für „Underground“ so verführerisch um sich selbst kreisen, lediglich die Produktions- oder Inventionslogik zu verlängern, die das Format des Trailers selbst kennzeichnet: Dieser besondere Trailer bewirbt lediglich die Empfindungen und Affektivkräfte, die zentrale Stellen in der in „Underground (Fragments of Future Histories)“ erträumten Gesellschaftskonstruktion besetzen. Wie sich dann herausstellt, stellte Gillicks Trailer letztlich doch noch den Inhalt des Buches vor. Denn in dieser fiktiven Welt wird großer Nachdruck auf die produktive Rolle ästhetischer Schöpfung, auf die facettenreiche Stilisierung oder Gestaltung von Personen und Umgebungen gelegt. Wichtig ist, dass diese Verfahrensweise weit über die Betonung jener Denkmäler oder Produkte hinausgeht, die kennzeichnend für das Leben in der alten Welt auf der Erdoberfläche waren – einer Welt, in der (Kunst-)Objekte sich noch klar im gleißenden Sonnenlicht abzeichneten und die Gesellschaftswelt ebenfalls in quasiobjektiven Begriffen als in ihrer Totalität zu erfassende Gebiete, Räume oder Strukturen verhandelt wurde.

Als eine unter vielen zeitgenössischen Arbeiten, die sich an einer Bestimmung der Wirklichkeit des Stils als gesellschaftlichem Ort versuchen, vermittelt einem diese Ausstellung, die für eine Neubewertung von Gabriel Tarde wirbt, das Fallbeispiel einer möglichen neuen Rolle für die künstlerische Abstraktion. Indem sie sich weder auf alte Formalismusdebatten noch auf eine kritische Mimikry von Abstraktion als Symptom ökonomischer und politischer Realitäten zurückziehen, die sich immer wieder dem Zugriff ihrer Träger entziehen, scheinen Arbeiten, die einen zeitgenössischen Ort des Stils etablieren, zugleich zweierlei zu leisten: Sie konzentrieren sich zum einen ganz klar auf die schwer fassbare Ästhetik und die affektiven Kräfte, die im zeitgenössischen Kapital zum Tragen kommen, wie auch auf deren spezifische Produktionsmechanismen. Doch zugleich lösen sie jede Vorstellung eines totalisierenden Zugriffs oder einer Überschaubarkeit solcher Kräfte auf, wozu auch die transzendentale Stellung zu zählen ist, in die Begriffe wie Kapital, Arbeit und Kunst versetzt werden. Die Betonung von Schwierigkeit, Hermetik oder Indirektheit im Namen der Kunst ist hier in erster Linie ein Beitrag zu einer Art epistemologischem Erdrutsch: der Ruf nach einer kritischen Neubeschreibung dessen, was gemeinhin unter dem Begriff der gesellschaftlichen Kräfte verhandelt wird.

(Übersetzung: Clemens Krümmel)

Anmerkungen

[1]Die Neuausgabe wurde 2004 bei Les Presses du Réel, Dijon veröffentlicht.
[2]Vgl. die Produktpräsentation für den Brionvega Cuboglass unter www.singulier.com.
[3]Der doppelte Charakter des Minimalismus wird von Hal Foster beschrieben in: ders., The Return of the Real, MIT Press 1996, S. 35–71.
[4]Vgl. Ina Blom, On the Style Site. Art, Sociality and Media Culture, New York 2007.
[5]In seiner langen und nuancenreichen Diskussion des Stilbegriffs liefert Meyer Shapiro insbesondere eine Grundbestimmung von Stil als „dauerhafter Form“. Meyer Shapiro, Theory and Philosophy of Art. Style, Artist, Society, New York 1994.
[6]Diese spezifische Benjaminlektüre findet sich bei Andrew Benjamin in: ders., Style and Time, Northwestern University Press 2006, S. 5–38.
[7]Diese Interpretation von Echtzeittechnologien führt Maurizio Lazzarato aus in: ders., Videophilosophie. Zeitwahrnehmung im Postfordismus, Berlin 2002.
[8]Liam Gillick, „Contingent Factors: A response to Claire Bishop’s Antagonism and Relational Aesthetics‘“, in: October, Nr. 115, 2005, S. 95–107.
[9]Tim Black, Rezension zu Frederic Jameson, Late Marxism. Adorno or the persistence of the Dialectic, auf der Website „Culture Wars“, Juni 2007, www.culturewars.com.
[10]Diese Entwicklungslinie der Soziologie wurde insbesondere von Bruno Latour weiterentwickelt, vor allem in „Reassembling the Social“, Oxford University Press 2005. Dort wertet er Gabriel Tarde als Ausgangspunkt einer Form sozialen Denkens, die einen radikalen Bruch mit der Traditionslinie bedeutet, die sich von Durkheim bis zu Bourdieu erstreckt. Dass dieses Denken vor allem mit jeder Vorstellung irgendeiner Art gesellschaftlicher Totalität oder Makroebene bricht, liefert die Grundvoraussetzung zur Erklärung singulärer Phänomene.
[11]Gabriel Tarde, Underground (Fragments of Future Histories), Les Presses du Réel, Dijon 2004, S. 8.
[12]Maurizio Lazzarato hat diesen Aspekt des Tarde’schen Denkens sowohl in „Puissances de l’invention. La psychologie économique de Gabriel Tarde contre l’économie politique“, Paris 2002, erörtert als auch in seiner Einleitung zur Neuauflage von „Underground (Fragments of Future Histories)“.
[13]„Liam Gillick and Philippe Parreno talk about ‚Briannnnnn and Ferryyyyyy‘“, in: Artforum, Februar 2005, S. 144–147.