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Dietmar Dath

Kritik der selbstkritik: Die nächste Runde

Die hochbegabte und von ihrer derzeitigen Arbeit im finstersten Verkaufsschrottbereich strukturell und chronisch unterforderte Kunstkritikerin ist jünger als ich und fragt mich um Rat, das heißt, sie will wieder aufgebaut werden, denn das Tagesgeschäft hat sie alle gemacht: „Wozu hab ich eigentlich studiert“, fragt sie sich und mich, „wenn ich bloß die Farbe der Preisschildchen bestimmen darf? Was heißt bestimmen, ich gebe Anregungen. Gibt es etwas Jämmerlicheres als Anregungen?“ Ich weise sie darauf hin, dass sie ja schließlich noch ganz andere Anregungen verteilt als nur die den Markt belebenden; ich sage ihr, was sie von mir, der es aus nächster Nähe mitgekriegt hat, schon weiß, nämlich dass sich eine uns beiden bekannte, kluge Allround-Autorin neulich immerhin nahezu halböffentlich (also sagen wir: drittelöffentlich) mal für ein paar Gedanken in der Magisterarbeit der jungen Kunstkritikerin interessiert hat. „Ach“, sagt die Kunstkritikerin, „meine Magisterarbeit, die ist doch auch schon wieder alt, sehr alt.“ Sie würde, sagt sie, liebend gerne mal, das Thema jener Arbeit betreffend, etwas Großes, Festes, mit schön bebilderten Seiten in Angriff nehmen. „Das wäre mein Ding“, sagt sie, und als ich einen flauen Witz über Verdinglichung mache und überdies was vom nicht hoch genug zu schätzenden „Prozessualen“ an intellektuellem Tun schwalle, von den gegenseitigen Befruchtungen der guten Geister und dann gleich noch mal von der uns beiden bekannten, klugen Allround-Autorin anfange, die sich neulich immerhin usw. etc., da sagt sie: „Euch Leuten, die aus den Neunzigern kommen, geht es immer nur um eure Scheißnetzwerke. Wir Jüngeren wären viel lieber mal richtig an den Sachen dran, nicht immer in diesem Beziehungsmüll.“ Ich will schon protestieren, da fällt mir ein, dass das länger dauern würde als gesund wäre: Es waren gar nicht die Neunziger, es waren doch die letzten Ausläufer der Achtziger, aber wie erkläre ich der Frau jetzt, dass, wie und warum man in der guten alten Zeit gegen die idealistischen Selbstmissverständnisse und Fehlurteile freilaufender Schreibender den sogenannten Klatsch als „letzte materialistische Waffe gegen die Meinung“ (Diedrich Diederichsen) in Anschlag bringen musste oder wenigstens konnte? Das, also dieses Ding mit der Waffe, wird gelegentlich ja immer noch als relativ junge und nützliche Idee referiert (wenn schon nicht mehr ernsthaft eingesetzt), entstanden aus einer mit allen Wassern der Popmusik-Berichterstattung gewaschenen, scharfen Schlauheit, die genau genommen sogar Ende der Siebziger aufgekommen sein soll, oder was weiß ich wann und wie lange vorher. Moment, nein, da dämmert wieder was: In Wirklichkeit reicht dieser Denkansatz, der das Zufällige (etwa Private, aber auch Marktabhängige) am Publizistischen heftig politisiert und das Politische mit dem Stachel der privat wirksamen Kränkung versieht, ja eigentlich bis in die Ära der gemeinsamen Entstehung von Kulturindustrie und modernem Journalismus zurück, ins glanzvolle und schmuddelige neunzehnte Jahrhundert. Von „New Personal Journalism“ sprach man bereits im viktorianischen England, wo es um die Heldentaten von Männern wie George Augustus Sala und Edmund Yates ging, zwei aus der Londoner Szene zu landesweiten Ehren aufgestiegenen Charles Dickens-Zöglingen, die ihresgleichen vor aller Augen zur Rechenschaft zogen, in den Himmel hoben oder bloßstellten, indem sie Texte schufen, die zwischen zu Karikaturen zusammengeschnurrten, epischen Sittenbildern und polemischen Kulturleitartikeln schillerten. Wo so etwas versucht wird, stieben immer Funken – Sala an Yates im Oktober 1857, nach einem besonders rücksichtslosen Streich des Letzteren: „Willst du, dass Bohemia auf dich mit ihren großen Kanonen schießt? Willst du, dass man dir sagt, dass du kein professioneller Mann der Literatur bist, kein Mitglied der Presse; dass du kein Recht hast, die Motive oder den Charakter von Männern anzugreifen, die, was immer sie privat für Leute sein mögen, furchtlos und ehrlich und fähig ihre öffentliche Pflicht tun, die eine lange und schmerzliche Lehrzeit in ihrem undankbaren Handwerk hinter sich haben und die Literatur nicht als höfliches passetemps, sondern als ernsthafte Mission betrachten?“ Dass sie die überzeugende selektive Neuerschaffung der Wirklichkeit als verheißungsvolle oder bedrohliche Totalität einerseits und die unablässige autokorrektive Auseinandersetzung mit der aktuellen Materialität des eigenen Tuns in einer lebenslangen Schreibertätigkeit andererseits so gründlich wie möglich miteinander vermitteln wollten, bewog Dickens, Yates und Sala dazu, ihr Schaffen zwischen den beiden Modi „Roman“ (für die Totalität) und „Zeitungstext“ (für die aktuelle Materialität) zu organisieren; noch Rainald Goetz spricht umgekehrt vom Ziel einer „Literatur, die so ist wie Zeitung“. Dass ich das so wahrnehme und historisiere, kann allerdings auch einfach die bequemste mir erreichbare Rationalisierung der zufälligen biografischen Verumständung sein, dass ich den Journalismus überhaupt nur zu dem Zweck angefangen habe, um damit das kräftezehrende und ökonomisch bodenlose Laster der Romanschreiberei zu finanzieren. Den ganzen Kleister, historisch und biografisch und selbstreflexiv, spüre ich in mir brodeln und rödeln, er will der jungen Kunstkritikerin vorgelegt werden, sie soll mir die Absolution erteilen oder was davon lernen, am besten beides. Ich beherrsche mich, behalt’s für mich und erzähle ihr stattdessen von Stefan Germer, von der Gründung der Zeitschrift Texte zur Kunst, von den objektiven Folgen persönlichster publizistischer Beschlüsse für das Geistesleben im Kleinstaat der hiesigen Kunst und endlich davon, dass diese Menschen dort, welche Germer fortschreiben und weiterdenken, manchmal gar nicht wissen (können), wie wichtig der Umstand, dass sie das tun, auch für Leute wie mich sein kann, die Germer nie getroffen haben, obwohl mir das doch genauso gut einfach mal hätte passieren können, damals, als alles anfing. Und die Frau hört sich das alles an und sagt am Ende etwas, was einer Art Segen gleichkommt, wie ihn einzig die Jungen den Älteren spenden können: „Also, du willst einfach nur sagen, es gibt überhaupt keine stichhaltige Entschuldigung, mit einer richtigen Tätigkeit aufzuhören, auch keine selbstkritische und reflexive, egal, wie blöd die Welt gerade ist?“ Ich sage, dass es exakt das ist, was ich habe vermitteln wollen, und verschweige, dass ich eben dies ohne die hochbegabte und von ihrer Arbeit im finstersten Verkaufsschrottbereich strukturell und chronisch unterforderten Kunstkritikerin samt ihrem ekligen Alltagsproblem in hundert Jahren nicht herausbekommen hätte.