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Cute Overload Gregor Quack über „Our Aesthetic Categories. Zany, Cute, Interesting“ von Sianne Ngai

89-quack-1 John Baldessari, „A Person Was Asked To Point“, 1969, Filmstills

Während gegenwärtig diskutiert wird, inwieweit David Joselits Begriff des Formats dazu taugt, den künstlerischen Umgang mit der stetig wachsenden Zahl an Bildern zu beschreiben, stellt sich ebenso drängend die Frage, welche Veränderungen auf der Seite der Betrachter/innen stattfinden. Nach welchen Kategorien sondieren und beurteilen wir unsere alltäglichen ästhetischen Erfahrungen?

Dieser Frage geht die Literaturwissenschaftlerin Sianne Ngai in ihrem neuen Buch nach, und obwohl sie ihren Blick dabei vor allem auf eine spezifisch amerikanische Kultur richtet, könnten sich auch europäische Bilderkonsumenten/-konsumentinnen in einigen ihrer Antworten wiederfinden.

Schon der Sprachphilosoph John L. Austin wusste, dass es sich im Trüben manchmal am besten fischt. In seinem 1956 erschienenen Aufsatz „A Plea for Excuses“ wünschte er sich, seine Philosophenkollegen würden es ihm endlich gleichtun damit, sich auch den „gewöhnlichen“ Dingen ordentlich wissenschaftlich zu nähern: „Wie sehr würde man sich wünschen, dass diese Art von Feldforschungen auch, sagen wir mal, in der Ästhetik unternommen würden. Wenn wir doch nur für einen Augenblick das Schöne vergessen und uns beim ‚Appetitlichen‘ [,dainty‘] oder beim ‚Plumpen‘ [,dumpy‘] an die Arbeit machen könnten.“

Die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Sianne Ngai zitiert diese Stelle in ihrem jetzt erschienenen, großartigen zweiten Buch. Und wer will, kann „Our Aesthetic Categories. Zany, Cute, Interesting“ auch als die lange überfällige Erfüllung jenes Austin’schen Stoßseufzers verstehen. Ngai hat sich zwar nicht die bei Austin genannten Begriffe vorgenommen. Aber mit „interessant“ („interesting“), „niedlich“ („cute“) und „überdreht“ („zany“) seziert sie doch drei Vokabeln, deren Gewöhnlichkeit sie ähnlich weit abseits der ewigen ästhetischen Zwillingskategorien von Schön- und Erhabenheit positionieren. Was bedeutet es, fragt Ngais Buch, dass es gerade derart glanzlose Kategorien geschafft haben, ihre glamouröseren Geschwister nicht nur aus unserem Alltag, sondern auch weitgehend aus unserer Literatur- und Kunstkritik zu verdrängen? Wo Austin vor allem von den alten Kategorien genervt schien – sie seien von „traditioneller Philosophie festgetrampelt“, fand er, und vom „Jargon ausgestorbener Theorien infiziert“ –, da steht für Ngai mehr auf dem Spiel. Durch die engen Maschen ihres nicht immer eindeutigen, stets lebendigen Zitatgewebes schimmert eine Überzeugung hindurch: Wenn wir lernen wollen, uns in einer Welt zu bewegen, in der die Gelegenheiten zur ästhetischen Erfahrung uns aus jeder Ritze einer durchkapitalisierten Welt entgegenspringen, dann können wir gar nicht anders, als uns auch wissenschaftlich gewissenhaft denjenigen ästhetischen Urteilen zuzuwenden, in die wir uns ohnehin täglich flüchten, um diesen Zustand zu bewerten und zu ordnen.

So liegt es nahe, dass es Ngai etwa nicht reicht, das Konzept der „Niedlichkeit“ einfach als irgendwie biologisch festgelötete Reaktion auf die Kugeligkeit von Tier- und Menschenbabies festzuschreiben. Stattdessen skizziert sie die allmähliche Weich- und Rundwerdung der ersten massenproduzierten Spielzeuge und zeigt dabei, wie sich die Warenwelt den instinktiven Affekt durch eine Art „Ästhetisierung der Machtlosigkeit“ zunutze gemacht und schließlich in die „Warenästhetik schlechthin“ verwandelt hat. Mit Verweis auf zahlreiche theoretische Gewährsmänner (Walter Benjamin, Theodor W. Adorno) beschreibt Ngai, wie die intensive, fast euphorische Zuneigung zu „niedlichen“ Dingen schnell in das ungute Gefühl umschlagen kann, manipuliert worden zu sein. Und der von den „Hello Kitty“-Machern erdachte Charakter „Kogepan“ – ein anthropomorphes Brötchen, das vergeblich versucht, sich mit anderen Backwaren anzufreunden, und dabei vor allem deswegen so „niedlich“ ist, weil es angebrannt und verletzt ist – hilft zu zeigen, wie sich warme, durch Niedlichkeit hervorgerufene Gefühle nie ganz von ihrem konstitutiven Gegenteil, nämlich einer latenten Ahnung von Gewalt, lösen können. Hat Ngai recht, dann verrät man also vielleicht mehr über die Feinheiten der eigenen Gefühle als beabsichtigt, wenn man einem Kleinkind spielerisch „Ich fress’ dich auf“ entgegengurrt.

In allen Kapiteln sind die Fallbeispiele ähnlich weit gestreut. Wenn Ngai fragt, was wir eigentlich meinen, wenn wir heute etwas „interessant“ nennen, dann beginnt sie ihre Antwort mit ­M­ikhail Epsteins Definition einer „interessanten“ wissenschaftlichen Theorie (kurz gesagt: Eine Theorie ist umso interessanter, je unerwarteter ihre Behauptung und je vernünftiger ihre Erklärung) und besteht dann mit Friedrich Schlegels Theorie von der „interessanten Poesie“ (1798) darauf, dass das „interessante“ Werturteil auch im ästhetischen Sinne verwandt werden kann – nämlich als Erhebung der Veränderung zum ästhetischen Selbstzweck. Sie gibt zu, dass gerade „interessant“ nicht immer sofort als ästhetisches Werturteil zu erkennen ist und sich durchaus mit anderen Qualitäten mischen kann. Doch am Beispiel der Fotoserien aus der frühen Konzeptkunst – etwa John Baldessaris „A Person Was Asked To Point“ (1969), in der eine Männerhand auf „Dinge zeigt, die ihm interessant erschienen“ [1]  – wird dann doch deutlich, woran sie denkt. Das „Interessante“ scheint bei ihr das zu sein, was Benjamin Buchloh 1990 als die „Verwaltungsästhetik“ der Konzeptkunst beschrieben hat: [2] eine Ästhetik der Nichtästheten, ein serienhafter, karteikartenlastiger Stil der Stillosigkeit. Wer etwas als interessant abnickt – das scheint die implizite Schlussfolgerung zu sein –, der bewertet unter dem mehr oder weniger ausdrücklichen Banner der Wertfreiheit und schafft mit dieser Paradoxie die Voraussetzung für die wesenhafte Unentschiedenheit des Interesses. Wer auf einer Vernissage das Gesehene als „interessant“ tituliert, legt Ngai nahe, der hat mehr als bei anderen Urteilen die Option, seine Meinung noch zu modifizieren und muss sich somit nicht einmal vielsagend skeptischer Blicke bedienen, um das eigene Urteil zur zweifelhaften Ehre zu machen.

Für nichtamerikanische Leser am schwersten zu verstehen ist schließlich das Kapitel zum (oben notdürftig als „überdreht“ übersetzten) „zany“. Für Ngai ist „zany“ so etwas wie die postmodernste aller Humorsorten. Etymologisch ausgehend von der Diener- und Harlekinfigur des Zane/Zanni in der Commedia dell’arte, beschreibt „zany“ im ursprünglichen Wortsinn das Verhalten eines niederen Dienstangestellten, dem es trotz größter Bemühungen nicht gelingt, seine Aufgaben zu erfüllen. Mit einem Zitat des Commedia dell’arte-Regisseurs Antonio Fava unterscheidet Ngai den „zany“ von anderen Spaßmachersorten: „Der zanni, obwohl stümperhaft und ungeschickt, ist kein Schmarotzer oder Bettler; er ist ein Arbeiter auf Stellensuche. Obwohl er ständig Katastrophen verursacht, tut er das nie mit böser Absicht, sondern immer mit den edlen Motiven eines ehrlichen, stolzen Wanderarbeiters.“ Ebenjenes verbissene Alles-schaffen-Wollen unterscheidet den „zany“ auch heute von den konventionelleren Komikersorten, bei denen oft eher die relative Sorglosigkeit des Protagonisten Handlung und Gags vorantreibt. Der „zany“ wird für Ngai zum schmerzhaft humoristischen Spiegel einer komplettvernetzten, flexibilitätsfanatischen Arbeitswelt. Als Beispiel liefert Ngai hier unter anderem die dunkle Jim Carrey-Komödie „The Cable Guy“ (1996): Der Witz des Protagonisten entstehe in dem Spiel mit der Grenze zum Nicht-mehr-Lustigen. Die Versuche des Fernsehinstallateurs Chip, sich mit seinem Kunden (Matthew Broderick) anzufreunden, werden mit zunehmender Aussichtslosigkeit immer verzweifelter und intensiver. Wieder und wieder beschwört Chip gerade dadurch Katastrophen herauf, dass er die Welt um sich herum (ein eigentlich lockeres Basketballspiel unter Kollegen, die Show in einem Medieval Times-Restaurant) zu ernst nimmt und seine Rollen (Serviceangestellter, neuer bester Freund) so überperfekt ausfüllt, dass es erschreckend wird.

Obwohl Ngai ihre drei Kategorien explizit auf eine bestimmte, durchamerikanisierte Gegenwart bezieht, haben sie am Ende drei Eigenschaften gemeinsam, die das Buch auch für all jene interessant macht, die sich anderer Worte in anderen Sprachen bedienen, um ihr alltägliches ästhetisches Erleben zu taxieren.

Erstens sind alle drei Urteile auf ihre Art „schwach“ – heruntergefahrene, abgekühlte Versionen ihrer großen Geschwister aus der traditionellen Philosophieästhetik sozusagen. Zweitens sind alle von vorneherein ambivalent. Wo man „beautiful“ im richtigen Kontext oder im richtigen Ton sagen muss, um dem Wort ironische Schärfe zu verleihen, da changieren die von ihr angebrachten Kategorien, so Ngai in einem Interview, schon von sich aus zwischen „Zärtlichkeit und Aggression, im Falle von ‚cute‘; lustig und unlustig, im Falle von ‚zany‘; Interesse und Langeweile, im Falle von ‚interesting‘‘‘. [3] Drittens, und das ist vielleicht am wichtigsten, lenkt jede der Kategorien unseren Blick auf jeweils ein tiefes politisches Problemfeld kapitalistischer Kulturproduktion und zeigt so, dass ästhetische Urteile heute weiter denn je davon entfernt sind, unpolitisch zu sein. Wer beispielsweise eine Zeichentrickfigur niedlich nennt, der erzählt in Ngais Augen immer auch etwas über einen Zusammenfluss von Konsumprodukten und restlicher Dingwelt, der biologische Impulse marketingtechnisch nutzbar macht und pervertiert. Wem „interesting“ zum Lieblingsadjektiv geworden ist, der zeigt damit unwillkürlich, wie sehr er kapitalistische Innovationsimperative (etwas wirklich Neues ist immer „interessant“) verinnerlicht hat, und drückt sich vor kritischen Urteilen, die einen ständigen, undifferenzierten Informationsfluss ins Stocken bringen könnten. Und wer endlich verstanden hat, was das Wort „zany“ genau bedeutet, der hat dabei auch etwas gelernt über die Art und Weise, wie sich die Arbeitswelt im Postfordismus in alle Fugen des Restlebens drängt und dort mit immer neuen Forderungen nach totaler Flexibilität eine unter Umständen grausam lustige Selbstaufreibung in Gang setzt.

Dass man am Ende vor allem daran denkt, wie viel noch zu tun wäre, ist ein gutes Zeichen. Wenn auch Internet und Facebook im Vorbeigehen erwähnt werden – so klug und richtig der Fokus auf die historische Entstehung der jeweiligen Kategorien gewählt ist, hindert er Ngai doch daran, in größerer Ausführlichkeit gegenwärtige Veränderungen der Kommunikation zu reflektieren. Wer würde schon der Feststellung widersprechen, dass Facebook-Walls verändert haben, was wir „interesting“ finden? Wer würde behaupten, dass unsere konstante Prokrastinationsbekuschelung durch YouTube-Katzenvideos unberührt lässt, was wir und warum „cute“ finden? Und mit welchem ästhetischen Werkzeug lässt sich eigentlich das Gefühl beschreiben, das täglich Millionen Menschen zum wohlig-dämlichen Schauer von Reality- und Castingshows hinzieht?

Doch gerade in der hiesigen akademischen Landschaft gibt es glücklicherweise keinen Mangel an Kandidaten/Kandidatinnen für eine solche Fortführung der Analyse. Der umtriebige Sonderforschungsbereich 626 der Freien Universität Berlin erforscht im inzwischen zehnten Jahr „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“, führt aber in der Einleitung zum 2011 erschienenen Tagungsband „Aesthetics and Contemporary Art“ das Wort „interesting“ mit Donald Judd noch als Gegenteil einer ästhetischen Kategorie an. [4] Auch Texte zur Kunst hat nach 89 Ausgaben und 73 Schwerpunktthemen noch kein einziges Heft einer (alten oder neuen) ästhetischen Kategorie gewidmet. Und so wäre der Satz, den Austin damals am Ende seines Essays an seine Leser richtete, vielleicht auch ein passender Schluss für Ngai gewesen: „An dieser Stelle überlasse und empfehle ich das Thema Ihnen.“

Sianne Ngai, Our Aesthetic Categories. Zany, Cute, Interesting, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 2012.

Anmerkungen

[1]John Baldessari, zit. nach Peter Osborne (Hg.), Conceptual Art, London 2002, S. 89.
[2]Benjamin Buchloh, „Conceptual Art 1962–1969. From the Aesthetic of Administration to the Critique of Institutions“, in: October, 55, 1990, S. 105–148.
[3]Adam Jasper, „Our Aesthetic Categories. An Interview with Sianne Ngai“, in: Cabinet, 43, 2011, online unter: http://www.cabinetmagazine.org/issues/43/jasper_ngai.php.
[4]Armen Avanessian/Luke Skrebowski (Hg.), Aesthetics and Contemporary Art, Berlin 2011, S. 1–13, hier: S. 2.