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Vorwort

Die Märzausgabe von Texte zur Kunst ist dem Künstler Mike Kelley gewidmet, der in Los Angeles lebte und vor einem Jahr starb. In den drei Jahrzehnten seiner künstlerischen Tätigkeit stammten die allermeisten – positiven wie negativen – Kritiken seiner Arbeit von Angehörigen seiner Generation. Für sie bildet sein Werk eine Intervention, die den damaligen Status quo aufbrach. Seine Auseinandersetzung mit Kultur – ihren Objekten, ihren Praktiken, ihren Erzählungen – offenbarte die Widersprüche zwischen hegemonialer Kultur und gesellschaftlich marginalen kulturellen Formen. Auf diese Weise entwarf seine Kunst eine Politik, die Differenz begrüßte und so das Potenzial erkennbar werden ließ, das ein Leben und Arbeiten am Rande gesellschaftlicher Normen – und doch im Verhältnis zu ihnen – birgt.

Im Gegensatz zu dieser anfänglichen Wirkung jedoch bildet Kelleys Werk für eine wachsende Zahl jüngerer Künstler/innen sowie Autoren und Autorinnen das Vorbild, an dem andere gemessen werden. Die Beitragenden zu dieser Ausgabe kennen Kelley zuallererst als Repräsentanten des Status quo – als paradigmatischen Kulturanalytiker, Subversiven und Kunstkritiker. Daraus ergibt sich die Frage nach dem kritischen Potenzial, das Kelleys Kunst auch heute noch innewohnt. Mehrere der Beiträge vertreten die Auffassung, dass Bedeutung oft im Moment der Rezeption durch den Betrachter/die Betrachterin stattfand – und die verschiedenen psychischen und emotionalen Implikationen dieser Begegnung mit einschloss. Insofern ist es wohl gerade der Prozess seines fortlaufenden Wirkens, durch den Kelleys Œuvre seinen Platz in der Geschichte einnehmen wird und durch den die zeitgenössische kulturelle Produktion weiterhin die Relevanz seines Werks verhandeln wird.

Die Autoren/Autorinnen der meisten Beiträge sind entweder ehemalige Studierende oder Kollegen/Kolleginnen des Gastherausgebers John Miller (oder sogar beides) an der School of Visual Arts an der Yale University, an der Columbia University und am Barnard College. (Dazu ist zu bemerken, dass Millers persönliche Freundschaft mit Kelley in den Hallen des California Institute of the Arts begann.) In anderen Worten: Der Diskurs, aus dem diese Ausgabe hervorgegangen ist, wurde durch einen educational complex geprägt, der ein grundlegender Apparat für die Produktion und Reproduktion nicht nur von künstlerischen Subjektivitäten, sondern auch von gesellschaftlichen Klassenunterschieden ist. In seiner Kunst setzte Kelley den pädagogischen Apparat scherzhaft mit dem repressed memory syndrome, also der Verdrängung von Erinnerungen, gleich, bei der sich Opfer sexuellen Missbrauchs nicht an die Orte des Geschehens erinnern können. Aber der Witz war offensichtlich eine Allegorie für das unbewusste Element in allen Ideologiebildungen. Es fällt schwer, über den Horizont unserer eigenen kulturellen Formation hinauszublicken, doch ist gerade das eine der bleibenden Herausforderungen, vor die uns Kelleys Werk stellt; auch dieser Aufgabe sahen sich die Autoren/Autorinnen der vorliegenden Ausgabe gegenüber.

Victoria Camblin betrachtet das Werk des Künstlers durch die Linse des formalen Gegensatzes von „weich“ und „hart“, um so die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, wie Kelley dominante kulturelle Formen kritisiert, indem er sie mit dem oft unterdrückten Begehren nach weichen Körpern und fluiden Austauschverhältnissen verbindet. Einer ähnlichen Logik geht Samuel Draxlers Diskussion von Kelleys bekannten Handarbeitsobjekten nach, um die instabile Grenzlinie zwischen den performativen Darstellungen von Maskulinität und Femininität nachzuzeichnen; Kelley, so legt er nahe, inszeniert beide Geschlechter in Simultanität. Letztes Jahr wurden Kelleys „Mechanical Toy Guts“ und Leigh Ledares „Alma“ (1991/2012 bzw. 2012) in benachbarten Räumen gezeigt. Ledare analysiert in seinem Text, wie die Arbeiten beider Künstler den Prozess der Subjektwerdung thematisieren, indem sie den Betrachtern/Betrachterinnen die Konventionen ihres eigenen gesellschaftlichen Kontexts widerspiegeln. Adam Putnams halb fiktiver Bericht über ein Treffen mit den Redakteuren/Redakteurinnen und Autoren/Autorinnen dieser Ausgabe zieht eine Verbindungslinie zu seiner ersten Begegnung mit Kelleys „Educational Complex“ (1995) und verortet so Erfahrung, Erinnerung und Verdrängung auf derselben Ebene.

Sowohl Matt Keegan als auch Hannah Kahng wenden sich Kelleys Videoarbeiten zu: Keegan konzentriert sich auf die Rolle, die Kelley in seinen videobasierten Gemeinschaftsarbeiten mit anderen Künstlern/Künstlerinnen zumeist spielte – die des Kindes, des Sohns, des Studenten. Kahng dagegen betrachtet Kelleys kinematografische Formensprache im Licht aktueller Fernseh- und Filmkonventionen. Ganz generell, so stellt Annie Ochmanek fest, werden wir als Betrachter/innen von Kelleys Werk mit unserer Neigung konfrontiert, eher davon auszugehen, dass die Arbeit mit der Subjektivität des Künstlers verschränkt sei, eine Gewohnheit, die Kelley sich zunutze macht. „Pay for Your Pleasure“ (1988), Kelleys Installation von Künstler- und Denkerporträts, die mit Zitaten zum Thema Gewalt unterschrieben sind, thematisiert zwar die landläufige Auffassung, nach der Kunst der Aggression entstammt, die der Künstler in schöpferische Bahnen leitet; Piper Marshall aber behauptet, dass auch diese Arbeit letztlich mehr über das Begehren aussagt, das uns Betrachter/innen umtreibt.

Nicolás Guagnini unternimmt den Versuch, die Bedeutung des Schreibens für Kelleys künstlerische Praxis in seinem Text selbst auszuagieren, und zieht dazu Texte Robert Smithsons, Asger Jorns und Kelleys heran, um einen Dialog zwischen ihnen zu entspinnen. Sam Lewitt beschreibt den großen Scharfsinn, mit dem Kelley auf Kultur blickt: Obwohl sein Werk eine Beziehung zu historischen Vorläufern aufbaut und ihnen zugleich mit Ironie und höhnischem Spott begegnet, so Lewitt, ist es ganz Kind seiner Zeit.

Um schließlich die kulturelle Perspektive dieser Ausgabe zu erweitern, damit sie sowohl die Zweisprachigkeit der Zeitschrift als auch die deutsch-amerikanische Besetzung des redaktionellen Teams widerspiegelt, haben wir Philipp Kaiser, Jutta Koether und Martin Prinzhorn – als Vertreter/innen zweier Generationen und dreier deutschsprachiger Länder – eingeladen, mit uns über Kelleys Bedeutung für einen europäischen Kontext zu sprechen.

Die Texte in dieser Ausgabe befassen sich mit Themen, die für Kelleys künstlerische Praxis zentral waren, und vertreten so im weiteren Sinne die These, dass für neue und widerstreitende Bewertungen der Werke des Künstlers im Verhältnis zu den Bezugsrahmen der Kultur und ihrer Geschichte durchaus noch Raum bleibt. Eine stillschweigende Annahme liegt allen Texten zugrunde: dass man das komplexe Innenleben von Kultur verstehen kann, indem man spezifische Beispiele ihrer Produkte mobilisiert und analysiert. Da jedoch Formen und Praktiken im Laufe der Zeit außer Gebrauch zu kommen pflegen, ist es eher Kelleys analytische Methode denn seine einzelnen Werke oder seine öffentliche Rolle, die für die Gegenwart wie die Zukunft kritisches Potenzial birgt.

John Beeson / Oona Lochner / John Miller

(Übersetzung: Gerrit Jackson)