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Olav Velthuis

ARTRANK UND DIE FLIPPER: APOCALYPSE NOW?

Logo von SellYouLater.com (heute ArtRank.com), 2014

Trotz ihrer erklärten Liebe zur Perversion scheint die Kunstwelt außerordentlich schnell mit moralischen Argumenten bei der Hand, wenn es um die Regeln geht, die es beim Kaufen und Verkaufen der in ihr gehandelten Objekte zu beachten gilt. Nach der vorherrschenden Ordnung muss man nicht bloß das nötige Kleingeld mitbringen – man muss eine eigene Sozialisierung in einer Folge von Eröffnungen und anderen Ritualen absolviert, die Lauterkeit der eigenen Absichten und das Desinteresse an finanziellen Aspekten bewiesen haben, bevor man die Möglichkeit bekommt, in die ausgewählten Kreise des Kunstmarkts einzutreten.

Hier kommen die digitalen Verkaufsplattformen, die „Flipper“, Berater und andere Mittelsmänner ins Spiel, die, diese Regeln brechend, scheinbar das System verzerren. Doch wie der Wirtschaftssoziologe Olav Velthuis im Folgenden argumentiert, sind dies keine grundsätzlichen Neuentwicklungen im Kunstgeschäft (denn im Hinterzimmer ausgehandelte Deals hat es schon immer und überall gegeben). Neu ist lediglich die Tatsache, dass sie nun vor aller Augen abgewickelt werden.

Der Markt für zeitgenössische Kunst scheint sich in einem Dauerzustand moralischer Panik zu befinden. [1] Vergleichbar mit den Mods und den Rockern – deren deviantes Verhalten laut Stanley Cohens einschlägiger anthropologischer Untersuchung als Störung und Destabilisierung der britischen Gesellschaft der 1960er Jahre erschien –, sind die jüngsten Folk Devils des Marktes eine Website und zwei Sammler, die als „Kunst-Flipper“ bezeichnet werden. [2] Bei der Website handelt es sich um ArtRank.com, die sich mit ihrer Fähigkeit brüstet, aufstrebende Künstler/innen zu identifizieren. Dazu sammelt sie Daten über diese Künstler/innen (laut Website „mehr als drei Millionen historischer Datenpunkte“), verarbeitet sie (mithilfe „komplexer Algorithmen, die für das Investment-Banking entwickelt wurden“, sagt ihr Gründer Carlos Rivera), bewertet die Künstler/innen und verkauft den frühzeitigen Zugang zu dieser Liste für 3500 Dollar. Ein Schnäppchen, jedenfalls wenn man die FAQs der Website liest, die erwähnen, dass „[d]er Algorithmus eine Anlagenrendite von 4.200 % über einen Zeitraum von 16 Monaten ermöglicht hat“. Um zukünftige Kundinnen und Kunden vom Wert ihrer Dienstleistungen zu überzeugen, ist Übertreibung offenbar eine Grundvoraussetzung. [3]

Die Idee einer solchen Künstler-Rangliste ist alles andere als neu. 1970 entwickelte der deutsche Journalist Willi Bongard den „Kunstkompass“, eine Top-100-Liste zeitgenössischer Künstler/innen, die auf deren Reputation in der internationalen Kunstwelt beruhte. Seither erscheint Bongards Liste alljährlich in deutschen Wirtschaftsmagazinen. In ähnlicher Weise listet die Website ArtFacts.net zeitgenössische Künstler/innen auf der Grundlage ihrer Ausstellungsgeschichte; ArtPrice.com tut dies auf der Basis ihrer Gesamterlöse bei internationalen Auktionshäusern. [4]

Neu hingegen ist die umfassende und prädiktive Art der Marktbeobachtung, die ArtRank anstrebt. Umfassend, weil sie nicht nur öffentlich zugängliche Informationen über Ausstellungen und Auktionspreise sammelt, sondern auch digitale Informationen über die Sichtbarkeit und Popularität des Künstlers oder der Künstlerin auf Medienplattformen wie Facebook, Twitter und Instagram ebenso wie Insider-Informationen über seine oder ihre Produktionskapazitäten und das Sammlerinteresse an seiner oder ihrer Arbeit. Prädiktiv, weil ArtRank nicht nur identifizieren will, wer aufstrebend ist, sondern wer aufstrebend sein wird. So wie die Statistiker des amerikanischen Discounters Target, die Medienberichten zufolge eine schwangere Minderjährige identifizieren konnten, bevor es ihr Vater tat, indem sie einfach ihr Konsumverhalten analysierten, glaubt ArtRank zu wissen, wer die nächsten erfolgreichen Künstler/innen sein werden, noch bevor es deren eigene Galeristen oder Galeristinnen wissen.

Ein weiterer Unterschied zwischen ArtRank und ihren Vorläufern besteht darin, dass sie ihr Wissen deutlich aggressiver vermarktet. Vier Arten von Künstlern/Künstlerinnen bevölkern das Klassifikationssystem von ArtRank: „buy now“, „early blue chip“, „sell now“ und „liquidate“. Mit solch unverblümten Verkaufsempfehlungen kann ArtRank den Markt scheinbar maßgeblich beeinflussen. Wenn Sammler/innen solchen Kauf- und Verkaufsempfehlungen folgten – was fraglich ist – und wenn es den Künstlern/Künstlerinnen nicht gelänge, auf ein solches Verhalten zu reagieren – was noch fraglicher ist –, könnte dies dazu führen, dass ihre Laufbahnen außer Kontrolle geraten; die Rankings sind inhärent instabil. Wenn jemand auf der „Buy now“-Liste steht, führt dies zu steigenden Preisen, sodass die Künstler/innen auf die „Early blue chip“- und schließlich weiter auf die „Liquidate“-Liste rücken. Dort angekommen, wird der Künstler/die Künstlerin – der Logik von ArtRank zufolge – erleben, wie der Markt mit seinen/ihren Arbeiten überschwemmt wird; dann brechen die Preise ein, was zu einem Vertrauensverlust in der Kunstwelt und, in einem Worst-Case-Szenario, zu einem frühzeitigen Ende der Karriere führen wird. Die ArtRank-Karriere ist, anders gesagt, das genaue Gegenteil der beständigen, von Galerien getragenen Laufbahn, bei der die Händler/innen den Markt ihrer Künstler/innen langsam aufbauen und die Preise so vorsichtig anheben, dass sie niemals gesenkt werden müssen.

Rivera, der seine Website anfangs SellYouLater.com nannte, lässt diese destabilisierende Wirkung völlig kalt. Der Markt wird eben gegenwärtig vom Hype regiert – bestraft nicht den Boten dieser Nachricht. Denn während man den Kunstkompass in den 1970er Jahren geflissentlich ignorieren konnte, weil er das Werk eines Außenseiters war, der nicht mit der Kunstwelt übereinstimmte, scheint sich ArtRank auf diese einzustellen. Der Webservice entspricht insbesondere den Anforderungen eines neuen Sammler-/innen-Typs: des „Flipper“, ein Begriff, der den Finanzmärkten entlehnt ist, wo er kurzfristig agierende Investorinnen/Investoren bezeichnet, die Aktien eines bestimmten Unternehmens zum Zeitpunkt seines Börsengangs kaufen, um sie sehr bald mit Gewinn wieder zu verkaufen. Auf dem Kunstmarkt wurde dieser Begriff vor allem für Stefan Simchowitz verwendet, einen früheren Hollywood-Produzenten, der seine Firma für 200 Millionen Dollar verkaufte und sich seitdem auf das Sammeln von Kunst konzentriert. [5] Simchowitz kaufte die Arbeiten von derzeitigen (oder vielleicht gerade „ihren Zenit überschreitenden“) Kunststars wie Sterling Ruby, Tauba Auerbach und Oscar Murillo, als deren Preise noch niedrig waren. Er behauptet, als Art Consultant für etwa 100 Sammler/innen zu arbeiten; diese werden ermutigt, schnell zu kaufen und zu verkaufen, weil dies eine „Viralität“ erzeuge, von der die Künstler/innen profitieren könnten. Er behauptet, anders gesagt, die Interessen des Künstlers/der Künstlerin zu vertreten, und stellt sich selbst als Mäzen, nicht als Nutznießer dar, was der Marktmoral eines traditionellen Händlers entspricht. Diese Viralität wird vorwiegend in den sozialen Netzwerken ausgespielt, die Simchowitz selbst (zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Texts: 119 075 Follower auf Instagram, 40 450 auf ArtStack) mit Begeisterung nutzt, indem er ständig Fotos von Kunstwerken postet, die er irgendwo gesehen hat.

Danh Vo, „Alphabet (B)“, 2011, gezeigt in der Ausstellung „Transforming the Known. Works from the Bert Kreuk collection“, Gemeentemuseum Den Haag, 2013

Der zweite Sammler, der im jüngsten moralischen Drama des Kunstmarkts eine prominente Rolle spielt, ist Bert Kreuk, ein niederländischer Unternehmer und Sammler zeitgenössischer Kunst, der innerhalb eines Jahres in zwei weithin publizierte Auseinandersetzungen verwickelt war. [6] Im Sommer 2013 präsentierte er Teile seiner Sammlung im Gemeentemuseum in Den Haag. Innerhalb von zwei Monaten nach dem Ende der Ausstellung verkaufte Kreuk elf der dort gezeigten Arbeiten in der November-Auktion von Sotheby’s in New York; wenig später versuchte er, 29 weitere über S|2, die Londoner Galerie dieses Auktionshauses für Privatverkäufe, zu veräußern. Darunter befanden sich auch Arbeiten von Jacob Kassay, Alex Israel, Alex Hubbard und Oscar Murillo (die zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Texts alle auf den ArtRank-Listen „Sell Now“ oder „Liquidate“ stehen). Kreuk, der in den USA lebt, bezeichnet sich selbst als „aktiven Sammler“ und behauptet, in den vergangenen 20 Jahren ungefähr 5000 Werke erworben und wieder verkauft zu haben.

Im vergangenen Sommer folgte eine weitere Kontroverse, als die Medien über eine Klage berichteten, die Kreuk gegen den in Vietnam geborenen dänischen Künstler Danh Vo eingereicht hatte. Kreuk zufolge versäumte es Vo, ihm ein Kunstwerk zu liefern, von dem der Sammler behauptet, es für die erwähnte Ausstellung im Gemeentemuseum in Auftrag gegeben zu haben; dafür fordert er 1,2 Millionen Dollar Schadenersatz, was dem Betrag entspricht, den er heute aufbringen müsste, um eine vergleichbare Arbeit dieses Künstlers auf dem Sekundärmarkt zu erwerben. Vo und seine Galeristen negieren jedoch vehement die Existenz einer solchen Kaufvereinbarung.

Abweichendes Verhalten

Im vergangenen Jahr zogen ArtRank, Simchowitz und Kreuk breite mediale Aufmerksamkeit auf sich, darunter die Berichterstattung in internationalen Zeitungen wie dem Guardian, der New York Times und der Financial Times. Der Tonfall dieser Artikel ist fast durchgängig Unheil verkündend. Sie zitieren Rivera oder Simchowitz und stellen diese Personen Künstlern/Künstlerinnen, Galeristen/Galeristinnen und Sammlern/Sammlerinnen gegenüber, die die Herangehensweise des Trios an die Kunst verurteilen und symbolische Grenzen ziehen, um sich von ihnen zu distanzieren. [7] Auf diese Weise haben die Medien dazu beigetragen, die Debatte zu polarisieren und die Panik zu steigern. So bezeichnete der New Yorker Kunstkritiker Jerry Saltz Simchowitz als den „größten Kunst-Flipper von allen“, der all das verkörpere, „was an dieser neuen Sorte abstoßend ist“. Unterdessen charakterisierte der belgische Sammler Alain Servais Kreuk auf Twitter als „einen Kunst-Flipper, [der] noch toxischer als Simchowitz“ sei. Andere beschuldigten Kreuk, das Museum in opportunistischer Weise benutzt zu haben, um den ökonomischen Wert seiner Sammlung zu steigern.

In der Soziologie und Anthropologie werden Fälle von moralischer Panik, wie sie von ArtRank et al. ausgelöst wurden, als eine Reaktion auf abweichendes Verhalten interpretiert, das als Bedrohung der moralischen Ordnung angesehen wird. Rivera, Simchowitz und Kreuk weichen von gängigen kulturellen Kategorien ab, die das Agieren und Interagieren auf dem modernen Kunstmarkt seit seiner Entstehung im späten 19. Jahrhundert regeln. Die Marktteilnehmer/innen werden gemäß diesen Kategorien sozialisiert. Sie lernen, Kunst als eine Kategorie symbolischer Güter zu betrachten, deren Finanzialisierung stets verhindert werden sollte und deren Verdinglichung nur unter bestimmten Umständen auf legitime Weise vollzogen werden kann. [8] Werke zeitgenössischer Kunst werden auf eine hochgradig ritualisierte Weise in den Warenkreislauf eingeführt, zu der, neben anderen Handlungen, die Eröffnungsparty gehört. Der einzig legitime Warenkontext zeitgenössischer Kunst ist immer noch der White Cube, ein zutiefst ideologischer, die Verdinglichung negierender Raum, in dem Bezüge zu Geld & Markt unterdrückt werden. Das Standardrepertoire der Galeristen und Galeristinnen sieht vor, dass ein zeitgenössisches Kunstwerk nach seinem ersten Verkauf nicht mehr als Ware beschrieben werden sollte. [9] Um dies zu erreichen, sprechen sie davon, ein Werk in den sicheren Händen „guter“ Sammler/innen zu „platzieren“. Diese „guten“ Sammler/innen sind leicht zu erkennen, da ihr Verhalten in allen Einzelheiten vorgeschrieben ist. Sie sollten, was Kunst angeht, „leidenschaftlich“ sein und den Künstlern/Künstlerinnen, deren Arbeiten sie sammeln, „folgen“; sie sollten daran interessiert sein, einem Museum Arbeiten zu schenken, und sie sollten nicht einmal daran denken, die Arbeiten mit Gewinn weiterzuverkaufen. Wenn sie sich von Arbeiten trennen wollen, erwartet man von ihnen, dass sie diese zuerst der Galerie des Künstlers oder der Künstlerin anbieten.

Angesichts dieser Marktmoral sind Simchowitz und Kreuk offensichtlich „schlechte“ Sammler. Sie setzen alle Kunstwerke mit Investitions­objekten gleich und halten es nicht für schädlich, diese immer wieder in den Warenkreislauf einzuspeisen. Allerdings definieren Simchowitz und Kreuk die Kategorien guter und schlechter Sammlungspraktiken anders. Sie betrachten wiederholte Verkäufe von Kunstwerken nicht als Laster, sondern als Tugend: Je häufiger eine Arbeit verkauft wird, desto mehr Menschen entwickeln eine Beziehung zu ihr, indem sie sie wertschätzen, studieren und diskutieren. In ihrer Kunstwelt wächst Wert nicht langsam und im Verborgenen, indem Galeristen/Galeristinnen Künstler/innen fördern und private Sammler/innen deren Arbeiten dauerhaft behalten, sondern schnell durch öffentliche Zirkulation. Sie interessieren sich weniger für den symbolischen Wert (der Kunstwerken von einer kleinen, elitären Gruppe von Gatekeeper-Institutionen verliehen wird, die über Konsekrationsmacht verfügen); ihr Interesse gilt vielmehr etwas, das man als viralen Wert bezeichnen könnte: der Wert breiter Popularität, unmittelbarer Anerkennung und hoher Sichtbarkeit. Im Unterschied zum symbolischen Wert wird dieser Wert von der Masse verliehen; und ebenso wie symbolischer Wert lässt er sich in ökonomischen Wert konvertieren. Indem das Trio diese Auffassung verteidigt und danach handelt, scheint es die kategoriale Ordnung des Marktes zu untergraben.

Feier zu Ehren des 60. Geburtstags der Künstlerin Laurie Anderson während der / The Kitchen Benefit Art Auction, New York, 2007

ArtRank, Simchowitz und Kreuk sind für ihre Kontrahenten besonders schwer erträglich, weil ihr Verhalten so vertraut ist: Was das Trio in aller Öffentlichkeit tut, machen jene, die sich als anständige Galeristen/Galeristinnen und gute Sammler/innen „benehmen“, im Privaten. Nachdem Servais ihn als „toxisch“ bezeichnet hatte, wies Kreuk darauf hin, dass der belgische Sammler selbst plante, Arbeiten von Gerhard Richter und Frank Stella zu verkaufen. Trotz ihrer „Leidenschaft“ für Kunst verkaufen viele Sammler/innen, tun dies jedoch verdeckt durch private Deals oder anonym auf Auktionen. Ebenso spekulieren viele Galeristen/Galeristinnen auf dem Sekundärmarkt. Und sie zögern nicht, eine Arbeit als sichere Kapitalanlage zu präsentieren, wenn dies nötig ist, um sie einem Kunden/einer Kundin zu verkaufen. Die prompte Antwort des Trios lautet daher: „Scheinheilig!“.

Die panischen Reaktionen von Galeristen/Galeristinnen, Künstlern/Künstlerinnen und „guten“ Sammlern/Sammlerinnen erklären sich auch dadurch, dass ihre eigenen Interessen unterminiert werden: Mit dem Aufstieg der Kunst-Flipper geht ein Kampf um die symbolische Dominanz auf dem Kunstmarkt einher. Lange hat die vorherrschende kulturelle Kategorisierung den Galeristen/Galeristinnen Macht verliehen. Sie hat diese beispielsweise dazu angeregt, als Förderer ihrer Künstler/innen aufzutreten, anstatt sich an der Rolle eines gewöhnlichen Wirtschaftsvertreters zu orientieren; sie ermöglicht es ihnen, bestimmte Sammler/innen zu hätscheln und andere zu schikanieren, wenn die Künstler/innen der Galerie Wartelisten für begehrte Kunstwerke haben. Wenn zeitgenössische Kunst als eine gewöhnliche Ware oder als Spekulationsobjekt neu kategorisiert wird, werden Galeristen/Galeris­tinnen ihre symbolischen Vorteile verlieren.

Doch die Interessen von Galeristen/Galeris­tinnen, aber auch von Kritikern/Kritikerinnen und Institutionen sind noch anderweitig bedroht. Im gesamten 20. Jahrhundert funktionierte der Kunstmarkt mehr oder weniger nach einem Modell, das die amerikanischen Soziologen Harrison und Cynthia White als „Dealer-Critic System“ bezeichneten. [10] Innerhalb dieser Struktur waren Galeristen/Galeristinnen die wichtigsten Vermittler, die versuchten, Künstler/innen zu fördern, während man die Kritiker/innen und Institutionen brauchte, um deren Wert aufzubauen. Sobald Letztere das Werk des Künstlers/der Künstlerin konsekriert hatten, konnte ein Markt entstehen. Rivera, Simchowitz und Kreuk hingegen versuchen, beide Seiten der Gleichung von White und White zu umgehen: die des Händlers ebenso wie die des Kritikers. Die stillschweigende Behauptung von ArtRank lautet, dass wir zur Vermittlung von Kunst nur Big Data und ausgefeilte Algorithmen bräuchten. Vermittlung ist hier gleichbedeutend mit Kommensuration: Alles, was Sammler/innen in der Welt von ArtRank wissen wollen, ist eine einzige Zahl, herausdestilliert aus der Vielzahl von Bewertungen, die ein Kunstobjekt in Gang gesetzt hat.

Instagram, Screenshots

Ebenso untergräbt Simchowitz die Interessen von Galerien, die er wahlweise als „das System“, „das auf New York fixierte Umfeld“ und die „traditionelle Mafia“ bezeichnete (wobei Letzteres sich auf Gavin Brown und Michele Maccarone sowie andere US-amerikanische Händler/innen bezog, die allgemein als „gut“ oder „cool“ gelten). Er kritisiert an diesen Galerien, dass sie an „alten Modellen“ festhalten und sich der Anpassung an ein neues, digitales Umfeld verweigern. Tatsächlich hat das Internet die Vermittlung auf dem Kunstmarkt bislang kaum beeinflusst, im Unterschied zu anderen Bereichen der Kunstindustrie (Musik, Bücher, Filme), die in den vergangenen Jahrzehnten einen dramatischen Strukturwandel erlebt haben. Die Popularität von Instagram deutet darauf hin, dass auch für die zeitgenössische Kunst eine digitale Alternative zum Galerie-Modell möglich ist. Das Instagram-Modell ist insbesondere für Künstler/innen attraktiv, die ihre Laufbahn vorzugsweise selbst managen, sich an der bevormundenden („schützenden“, „fördernden“) Haltung der traditionellen Galeristen/Galeristinnen stören und nicht einsehen, was an den 50 Prozent, die die Galerie vom Verkaufspreis einbehält, fair sein soll. Dasselbe gilt für Sammler/innen, die das Galerie-Modell einfach zu umständlich finden. Sie entwickeln ihren Geschmack nicht bei Ausstellungsbesuchen, Zeitschriftenlektüren, Gesprächen mit Galeristen/Galeristinnen oder dem Herumhängen mit Künstlern/Künstlerinnen, sondern indem sie auf Instagram surfen und Facebook-Likes abgeben. Kunden/Kundinnen von Simchowitz, die in der Populärkultur zu Hause sind oder als Unternehmer/innen im Silicon Valley reich wurden, verstehen die virtuelle Kommunikation der Links und Likes besser als die symbolische Kommunikation des White Cube und der Warte­liste. Kurz gesagt, betrachten sie das Internet als eine demokratische, befreiende Kraft, die die symbolische Festung der Galeristen/Galeristinnen möglicherweise stürmen kann.

Überzogene Reaktion

Auch wenn man den Eindruck haben kann, dass die moralische Ordnung des Marktes und die Interessen seiner traditionellen Teilnehmer/innen auf dem Spiel stehen, bleibt fraglich, in welchem Maße dies tatsächlich der Fall ist. Statistiken deuten darauf hin, dass sich das Flipping keineswegs zur vorherrschenden Praxis des Marktes entwickelt hat. Die Zahl der „geflippten“ Kunstwerke (hier definiert als Arbeiten, die innerhalb von drei Jahren nach ihrer Entstehung auf einer Auktion wiederverkauft werden) ist stabil und gering. Einer Analyse der auf Kunst spezialisierten Anlageberatungsfirma Tutela Capital zufolge betrifft es weniger als zwei Prozent aller Kunstwerke, die auf dem Auktionsmarkt gehandelt werden. Im Jahr 2007 sahen die Zahlen nicht anders aus. Anders als viele denken, hat sich die Haltedauer für Arbeiten aufstrebender Künstler/innen (die Tutela als Künstler/innen unter 40 definiert) eher verlängert als verkürzt: In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre behielt ein/e Sammler/in eine Arbeit eines jüngeren Künstlers oder einer jüngeren Künstlerin im Durchschnitt weniger als fünf Jahre in seiner/ihrer Sammlung, bevor er/sie sie wieder verkaufte; 2010 verlängerte sich dieser Zeitraum auf knapp über fünf Jahre; heute liegt die Norm bei fast acht Jahren. [11] Das heißt, kurz gesagt, dass das Tempo des Marktes wenig Anlass zu Besorgnis gibt.

Dies könnte daran liegen, dass der Aufstieg des Kunst-Flippers bisher auf einen einzigen Kreislauf innerhalb des Kunstmarktes begrenzt war; dieser konzentriert sich auf die Westküste der USA, wobei die meisten Künstler/innen in einem bestimmten Stil arbeiten, der gelegentlich als processual abstraction bezeichnet wird. [12] In anderen Marktkreisläufen gibt es keine Akteure/Akteurinnen, die mit Simchowitz oder Kreuk vergleichbar wären. Darüber hinaus mag sich Rivera rühmen, dass er seit dem Start von ArtRank bereits 80 Anmeldungen für seine kostenpflichtigen Dienstleistungen erhielt, doch den bislang größten Erfolg hatte seine Website in den Nachrichtenmedien. Wenn sich die Panik legt, kann es durchaus sein, dass die Website in Vergessenheit gerät.

Instagram, Screenshots

Ebenso wie klassische Anfälle moralischer Hysterie dient auch deren jüngster Ausbruch auf dem Kunstmarkt dazu, die Ordnung aufrechtzuerhalten und Grenzen zwischen gutem und schlechtem Verhalten zu ziehen. Dadurch kann es traditionellen Galeristen/Galeristinnen, Sammlern/Sammlerinnen und Künstlern/Künstlerinnen durchaus gelingen, den Aufstieg des Kunst-Flippers und den Einfluss von ArtRank zu begrenzen. Sehr viel schwieriger wird es jedoch sein, die kulturellen Veränderungen einzudämmen, die zur Entstehung von ArtRank und zum Aufkommen des Flippers führten, wie etwa die Informatisierung der Auseinandersetzung des Publikums mit zeitgenössischer Kunst und die strukturellen Veränderungen des Kunstmarktes, die durch die neuen Medien und die Verwendung von Algorithmen bedingt sind. Dadurch wird es viel schwieriger werden, zu definieren, welche Aktionen und Interaktionen auf dem Kunstmarkt legitim sind und welche nicht.

Übersetzung: Barbara Hess

Anmerkungen

[1]Dieser Aufsatz knüpft lose an folgenden Artikel an: Olav Velthuis, „Morele paniek op de kunstmarkt“, in: Metropolis M, 5, 2014, S. 52–55.
[2]Stanley Cohen, Folk Devils and Moral Panics, London 1972.
[3]Zu ArtRank siehe Edward Helmore, „Buy! Sell! Liquidate! How ArtRank is shaking up the art market“, in: The Guardian, 23.6.2014, http://www.theguardian.com/artanddesign/2014/jun/23/artrank-buy-sell-liquidate-art-market-website-artists-commodities; Georgina Adam, „Where art is off the wall“, in: Financial Times, 28.2.2014, http://www.ft.com/intl/cms/s/2/0435f4aa-9ef3-11e3-8663-00144feab7de.html#axzz3GCMJq9ki.
[4]Alain Quemin/Femke van Hest, „The Impact of Nationality and Territory on Fame and Success in the Visual Arts Sector: Artists, Experts, and the Market“, in: Olav Velthuis/Stefano Baia Curioni (Hg.), Cosmopolitan Canvases. Globalization of the Market for Contemporary Art, Oxford: Oxford University Press (in Vorbereitung).
[5]Zu Simchowitz siehe Andrew M. Goldstein, „Cultural Entrepreneur Stefan Simchowitz on the Merits of Flipping, and Being a ‚Great Collector‘“, in: Artspace, 29.3.2014, http://www.artspace.com/magazine/interviews_features/stefan_simchowitz_interview; Katja Kazakina, „Art Flippers Chase Fresh Stars as Murillo’s Doodles Soar“, in: Bloomberg, 7.2.2014, http://www.bloomberg.com/news/2014-02-06/art-flippers-chase-fresh-stars-as-murillo-s-doodles-soar.html; Jerry Saltz, „Saltz on Stefan Simchowitz, the Greatest Art-Flipper of Them All“, in: Vulture, 31.3.2014, http://www.vulture.com/2014/03/saltz-on-the-great-and-powerful-simchowitz.html; Dan Duray, „Stefan Simchowitz vs. the Art World“, in: New York Observer, 5.7.2014, http://observer.com/2014/05/stefan-simchowitz-vs-the-art-world/.
[6]Zu Kreuk siehe Abigail R. Esman, „On Art Markets, Art Collecting, And ‚Flipping‘: Bert Kreuk Responds“, http://blogs.artinfo.com/culturalaffairs/2014/09/08/on-art-markets-art-collecting-and-flipping-bert-kreuk-responds/; Alexander Forbes, „‚Art-Flipper‘ Bert Kreuk Sues Artist Danh Vo for $1.2 Million“, in: Artnet News*¸ 5.9.2014, http://news.artnet.com/market/art-flipper-bert-kreuk-sues-artist-danh-vo-for-12-million-93788; Alexander Forbes, „Bert Kreuk and Danh Vo Speak Out on $1.2 Million Lawsuit“, in: *Artnet News, 15.9.2014, http://news.artnet.com/market/bert-kreuk-and-danh-vo-speak-out-on-12-million-lawsuit-99370.
[7]Symbolische Grenzen sind konzeptuelle Unterschiede, die Menschen im Alltag herstellen, um auf der Grundlage von Gefühlen der Ähnlichkeit und Differenz soziale Gruppen zu bilden; siehe beispielsweise Michèle Lamont/Marcel Fournier (Hg.), Cultivating Differences. Symbolic Boundaries and the Making of Inequality, Chicago 1992.
[8]Olav Velthuis/Erica Coslor, „Financialization of Art Markets“, in: Karin Knorr Cetina/Alex Preda (Hg.), Handbook of the Sociology of Finance, Oxford 2012.
[9]Olav Velthuis, Talking Prices. Symbolic Meanings of Prices on the Market for Contemporary Art, Princeton 2005.
[10]Harrison C. White/Cynthia A. White, Canvases and Careers. Institutional Change in the French Painting World, New York 1965.
[11]Tutela Capital, Analysis of Holding Period for Young Artists Since the 1980s, Brüssel 2014, https://www.tutela.net/TC_youngArtists.pdf; siehe auch Lorne Manly/Robin Pogrebin, „Barbarians at the Art Auction Gates? Not to Worry“, in: The New York Times, 17.8.2014, http://www.nytimes.com/2014/08/18/arts/design/barbarians-at-the-art-auction-gates-not-to-worry.html?_r=0.
[12]Vgl. Viviana A. Zelizer, „Circuits of Commerce“, in: Jeffrey Alexander/Gary T. Marx/Christine Williams (Hg.), Self, Social Structure, and Beliefs. Explorations in the Sociological Thought of Neil Smelser, Berkeley 2004, S. 122–144.