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Beseelte Gaben im Tauschsystem Überlegungen zur Malerei von Jack Whitten anlässlich der Ausstellung „Jack Whitten. Jack’s Jacks“ im Hamburger Bahnhof, Berlin

Jack Whitten, „Quantum Wall, VIII (For Arshile Gorky, My First Love in Painting)“, 2017

Jack Whitten, „Quantum Wall, VIII (For Arshile Gorky, My First Love in Painting)“, 2017

In Europa längst überfällig, eröffnete im Frühling 2019 die Einzelausstellung „Jack`s Jacks“ mit Arbeiten des amerikanischen Malers Jack Whitten im Hamburger Bahnhof in Berlin. Die Herausgeberin von Texte zur Kunst, Isabelle Graw, nahm die Ausstellung zum Anlass um Whittens Werk im Hinblick auf dessen latenten Animismus hin zu untersuchen. Ihre Überlegungen gehen über die einer Rezension weit hinaus und betten vielmehr die in Berlin gezeigten Werke in sein Gesamtoeuvre ein.

1. Beseeltes Material

Im Werk von Jack Whitten sind es die Suggestivkräfte des Materials – und nicht Ideen –, die sichtbar im Vordergrund stehen. Dass sich Whitten wiederholt (und vehement) von der Conceptual Art – und zwar von ihrem traditionellen Verständnis als einer ideen-und konzeptbasierten Form künstlerischer Praxis – abgegrenzt hat, hängt meines Erachtens auch mit seinem Fokus auf die Eigenkräfte des Materials zusammen. [1] Denn passend zum derzeit viel diskutierten New Materialism wird Materie auch bei Whitten nicht als eine stumme Verfügungsmasse, sondern als etwas Wirkmächtiges aufgefasst. [2] Nur: Dafür, dass sein Material als „belebt“ erfahren werden kann, bedarf es nicht nur bestimmter produktionsästhetischer Maßnahmen, sondern auch eine*r projektionsbereiten Betrachter*in – zwei Aspekte, die im New Materialism tendenziell nicht im Vordergrund stehen.

Vor allem in Whittens seit 1968 produzierten Memorial Paintings, auf die die Ausstellung im Hamburger Bahnhof zu Recht den Schwerpunkt legte, lässt sich dieses Zusammenspiel aus suggestivem Material, Lebendigkeitseffekten und vitalistischer Projektion genauer nachzeichnen; denn in diesen Bildern zeigt sich die Vielfalt an Methoden, angefangen von den Titeln mit Widmungscharakter wie Clocking for Stanley Kubrick (1999) und reliefartigen Oberflächen aus farbigen Acrylstücken bis hin zur Betonung des Arbeitsprozesses, mit denen der 2018 verstorbene Whitten seine Gemälde zu „beseelen“ und in quasispirituelle Objekte zu verwandeln vermochte. Dass Whittens Memorial Paintings qua ihrer Titel als „Gaben“ für zumeist verstorbene Personen auftreten, trägt meines Erachtens ebenso zu dem Eindruck ihrer „Beseeltheit“ bei wie ihre dynamischen Farboberflächen, die die Seele der Verstorbenen häufig zu transportieren vorgeben. Oft weisen Whittens Bilder zudem Werkzeugspuren auf ihrer Oberfläche auf, was sie ebenfalls vitalisiert und unmittelbar mit der Lebens-und Arbeitszeit des Künstlers anreichert. Vor diesem Hintergrund gilt es nicht nur herauszuarbeiten, wie genau, also mithilfe welcher künstlerischen Verfahren es Whitten gelingt, seine Werke zu vitalisieren. Damit sein Werk als „beseelt“ wahrgenommen werden kann, müssen sich zudem bestimmte produktionsästhetische Maßnahmen mit einer animistischen Rezeption verschränkt haben. Es gibt allerdings auch sozialhistorische Gründe dafür, warum dem Material bei Whitten eine aktiv-vitale Rolle zukommt. Meine These lautet diesbezüglich, dass die spezifische Aufladung seines Materials zu dem Eindruck einer „Beseeltheit“ seiner Arbeiten führt, die ihre Zirkulation im Kunstsystem symbolisch vorantreibt. Aber Schritt für Schritt …

2. Skulpturen als Blaupause

Schon indem Whitten sein Material, oder genauer: die von ihm verwendete Acrylfarbe, in kleine Stücke zerschneidet und auf die Leinwand klebt, verhilft er seinen Gemälden zu einer mosaikartigen Anmutung: Sie wirken dadurch objekthaft,und ihre Oberfläche wirkt „bewegt“. Nach meiner Überzeugung sind es die ästhetischen Prinzipien seiner (leider nicht in der Ausstellung gezeigten) Holzskulpturen, die in den Memorial Paintings aufgegriffen und vorangetrieben werden. [3] Diese selten gezeigten Skulpturen, Hybride aus afrikanischer Plastik, Folk Art und Kykladen-Objekten, liefern aus meiner Sicht die Blaupause seiner Malerei. Denn einige von ihnen weisen Nägel auf ihren Oberflächen auf, wodurch sie formal mit den ebenfalls mit Nägeln gespickten Minkisi-Skulpturen aus Zentralafrika kommunizieren, die als Behälter für übernatürliche Kräfte fungierten. Auch bei Whitten sorgen die Nägel durch ihren Bezug auf afrikanische Plastiken dafür, dass seine Objekte über magische Kräfte zu verfügen scheinen. Das Äquivalent zu den Nägeln in den Skulpturen stellen in seinen Bildern die ausgeschnittenen Acrylstücke aus Farbe dar – Whitten nennt sie „Tesserae“. In einem Film zu Beginn der Ausstellung kann man sehen, dass Whitten diese Tesserae mit einem spitzen Gegenstand auf die Fläche klebt, wodurch manche der Steinchen Punktierungen in der Oberfläche aufweisen. Wie die Nägel sorgen auch diese unregelmäßig geschnittenen Farbelemente für eine kraftvoll-dynamische Oberfläche. Bei Whitten tritt das mit der Farbe traditionell assoziierte Lebendigkeitspotenzial qua Tesserae ohnehin in ein neues Stadium ein, da die dreidimensionalen Farbstücke die sinnlich-haptische Qualität der Farbe noch steigern. In dem Prince gewidmeten monumentalen Gemälde Quantum Wall (A Gift for Prince) (2016) – passend zu dem wohl bekanntesten Song Purple Rain von Prince in Lilatönen gehalten – führt die Dreimensionalität der Farbstücke zu dem Eindruck einer schillernden Mehrfarbigkeit, die sich je nach Standpunkt ändern kann. Auch die mit Farbe abgenommenen Dinge und Muster aus der Lebenswelt auf den Bildoberflächen wie Steine, Fische oder jene silberne Metallplatte, die in dem Gemälde Ode to Andy (1986) unmittelbar auf Warhols Silver Factory anspielt, produzieren ein Mehr an Lebenswirklichkeit. Doch anders als in der Collage bzw. Assemblage bleiben diese Lebensbezüge bei Whitten grundsätzlich der Farbe untergeordnet. Einmal mehr ist es Whittens Material, die Farbe, das als Medium des Abdrucks stets die Oberhand behält. Denn die Farbe hat bei Whitten vor allem die Aufgabe, die im Titel seiner Arbeiten gewürdigten Personen zu repräsentieren. Sie ist weniger Ausdrucksträger, als dass sie über eine Symbolfunktion verfügt.

Auch der Widmungscharakter seiner Memorial Paintings findet sich in den Skulpturen. Man denke in diesem Zusammenhang nur an Whittens mit Nägeln gespicktes, anthropomorphes John Lennon Altar piece (1968) oder an die Schutzobjekte für seine Familie wie etwa The Guardian II, For Mirsini (1984). Durch ihre Widmungen sorgen die Titel dieser Arbeiten als Paratexte dafür, dass die jeweils beschenkte, erinnerte oder gewürdigte Person in den Objekten selbst präsent bleibt. Nehmen wir Whittens Muhammad-Ali-Bild aus seiner 1988 begonnenen Black-Monoliths-Serie (Black Monolith X (Birth of Muhammad Ali) (2016) als ein weiteres Beispiel dafür, wie die Erinnerung an eine Person in die Farbe und Morphologie seiner Bilder förmlich eintritt: Am unteren Ende eines Whitten-typischen Feldes aus aufgeklebten und abgeschnittenen Farbstücken findet sich hier eine Dubuffet-haft anmutende krustige, ovale und schwarze Form, welche die Figur des abwesenden Ali unmittelbar ins Spiel bringt, so als würde dieser aus dem geröllartigen Bildgrund aufsteigen. Indem der Titel dieses Bildes die Geburt Muhammad Alis beschwört, erinnert er an dessen selbst vorgenommene Verwandlung vom Champion Boxer Cassius Clay hin zu einem Athleten, der sich auch als Civil-Rights-Aktivist betätigte: eine Art Wiedergeburt, auf die die abstrakte Bildsprache dieses Gemäldes deutlich anspielt.

3. Titel als Belebungs-Devices

Es sind folglich vor allem Whittens Bildtitel, die „belebende“ Effekte haben, so etwa The Messenger: For Art Blakey (1990) – ein Titel, der den legendären Jazzschlagzeuger Art Blakey ehrt und zugleich an dessen Band (The Messengers) erinnert. Schon in der kosmischen Atmosphäre dieses schwarz-weißen Rasterbildes, das aus der Ferne einem von Sternen dicht besiedelten Universum gleicht, wird das geradezu außerweltliche Können dieses Schlagzeugers festgehalten. Man könnte sagen, dass jedes Memorial Painting das konserviert, was für Whitten die Essenz der künstlerischen oder auch politischen Leistung der in seinem Titel gewürdigten Person darstellt. Bild und Titel stehen bei Whitten dabei häufig in einer metonymischen Beziehung zueinander: Die Bedeutung des einen findet sich zumeist im anderen. Statt also eine Kluft zwischen der im Titel suggerierten Bedeutung und dem zu produzieren, was das Bild zu sehen gibt, wie etwa bei dadaistischen oder neodadistischen Gemälden oft der Fall, sehen wir uns bei Whitten in der Regel mit Entsprechungsverhältnissen konfrontiert: Mithilfe einer abstrakten Bildsprache wird das, was der Titel assoziiert, im Bild bestätigt. Whittens weitgehend monochrom schwarzes Bild Sweet Little Angel, For B. B. King (2015) ist dafür ein gutes Beispiel, weil es eine mit Neonfarben besprühte Schnur auf seiner Oberfläche aufweist. Die Schnur fungiert hier als Stellvertreter jener Gitarrenseite bzw. jenes Instruments, das den Bluesgitarristen B. B. King auszeichnete. Dass Whittens Bilder häufig das in ihren Titeln Verlautbarte mithilfe einer abstrakten Bildsprache illustrieren, kann man zuweilen als etwas zu vordergründig und naheliegend empfinden. Zugleich laden die Titel die von ihnen bezeichneten Bilder aber auch mit einer spezifischen Zeit-und Kulturgeschichte auf.

Neben zahlreichen Jazzmusiker*innen hat Whitten auch einige, zumeist männliche bildende Künstler*innen in seinen Memorial Paintings gewürdigt − allen voran seinen Freund und Mentor Norman Lewis, jenem einflussreichen Pionier abstrakter Malerei, dem Whittens monumentales Triptychon Norman Lewis Triptych I (1985) gewidmet ist.

Jack Whitten, „Black Monolith X, Birth of Muhammad Ali“,  2016

Jack Whitten, „Black Monolith X, Birth of Muhammad Ali“, 2016

4. Eigene Vorbilder

Norman Lewis war in den 1950er Jahren der einzige afroamerikanische Maler, der an den von Franz Kline und Willem de Kooning im Studio 35 in New York organisierten Symposien teilnahm. [4] Von der offiziellen Geschichtsschreibung wurde er dennoch, so etwa in den Texten von Clement Greenberg, Harold Rosenberg oder Irving Sandler, konsequent ignoriert. [5] Schon die monumentalen Ausmaße von Whittens Lewis-Bild Norman Lewis Triptych I (1985) lassen sich vor diesem Hintergrund als eine Art Kanonkorrektur lesen. Lewis’ zeichenhaft und kalligrafisch wirkende Bildsprache wird hier jedoch auf eigenwillige Weise sowohl synthetisiert als auch in ihre Bestandteile zerlegt. So ist es z. B. die Farbigkeit von Lewis Bild Untitled (1949) und nicht dessen auffällig vertikale Struktur, die Whitten in seinem Lewis-Triptychon in eine an Mondrian erinnernde Rasterstruktur auf schwarzem Grund überführt. Neben Lewis war auch de Kooning ein großes Vorbild für Whitten, was in zahlreichen gestischen Bildern aus den 1960er Jahren, so etwa in Kings Wish (Martin Luther’s Dream (1968), aber auch im Titel seines fotografisch anmutenden Rasterbildes Bill’s way. For de Kooning (1989) anklingt. [6] Bei letzterer Hommage sind es vor allem die für de Kooning typischen breiten Pinselstriche und Fleischfarben, die Whitten mithilfe einer Rasterstruktur buchstäblich zerlegt, analysiert und dadurch in ihrer Wirkung eben auch stilllegt.

Es wäre offenkundig verkürzt, seine Memorial Paintings allein als eine Auseinandersetzung mit diversen Über-Ichs oder als Ausdruck von Harold Blooms viel zitierter „Einflussangst“ zu verstehen. Sie zeugen vielmehr auch von der existenziellen Notwendigkeit für einen Schwarzen und noch dazu abstrakt malenden Künstler im New York der späten 1960er, der 1970er und 1980er Jahre, sich mangels Anerkennung und Ermutigung eigene Vorbilder (auch aus dem Bereich Jazz) zu suchen. [7] Die in seinen Bildern gewürdigten Jazzmusiker*innen wie John Coltrane oder Bud Powell stehen schließlich exemplarisch für die Erfolgsgeschichte dieser Kunstform, an die Whitten mit seinen Bezügen anknüpft. Innerhalb der Malereigeschichte hatte es einen vergleichbaren Aufstieg Schwarzer Künstler*innen zu diesem Zeitpunkt noch nicht gegeben. Whitten sah sich hier vielmehr mit einem doppelten Ausschluss konfrontiert: Nicht repräsentativ zu malen galt erstens um 1971 unter seinen politisch engagierten Kollegen als „hugely unfashionable“ (Darby Englisch) [8] , und zweitens blieb ihm der bis heute von Weißen Akteur*innen dominierte Kunstmarkt wie auch die Mehrheit der Kunstinstitutionen lange Zeit weitgehend verschlossen. [9] Seinen Lebensunterhalt musste er jahrelang als Lehrender bestreiten, wobei ihm die Auseinandersetzung mit Studierenden enorm wichtig war. Dennoch entsprach er nicht dem Klischeebild des obsessiven Malergenies, das seine Zeit ausschließlich der Malerei widmet. [10] Dass sich Whitten seinen Heroen der Nachkriegskunst wie Andy Warhol, Cy Twombly oder Ellsworth Kelly aufgrund seiner sozialen Markierung als black artist notgedrungen von außen nähern musste, wird in seinen Bildern entsprechend deutlich gemacht. So etwa in der Hommage an Ellsworth Kelly One Hundred Ninety Pieces of Color: For Ellsworth Kelly #2 (2016), einem Gemälde, in dem Whittens anderer Zugriff auf die Moderne formal anklingt. Kellys Vorliebe für Ready-Made-Farben wird hier zwar in Form von unmittelbar aus der Tube gedrückten, bunt glänzenden Farbhaufen aufgegriffen, nur ist an die Stelle von Kellys unpersönlichem Rückgriff auf kommerzielle Farbkarten bei Whitten ein körperlicher Prozess des Drückens getreten, aus dem zudem pure Materie resultiert. Anders als Kelly, der das sinnliche Potenzial der Farbe zu minimieren suchte, nutzt Whitten seine Kelly-Hommage für eine Demonstration jenes haptischen und belebenden Effektes der Farbe, der in seiner Arbeit im Zentrum steht. Whitten nimmt auf Kellys Verfahren folglich auf eine Weise Bezug, die dessen Vorbildcharakter zugleich festhält und in seinem Sinne überschreitet.

Auch wenn sich Whitten den modernistischen Topos des Rasters aneignet, schwingt seine Position als „From The Margins“ [11] operierend latent immer mit. Mehr noch: In seinen Variationen dieses Motivs wird der modernistische Mythos des Rasters als ein Garant von „Flatness“ ad absurdum geführt. So etwa in Totem VI Annunciation: For John Coltrane (2000) – einer mehrteiligen Arbeit, die Cluster aus mehrheitlich gräulichen Acrylfarbstücken aufweist. Sowohl diese Farbstücke als auch die von ihnen gebildeten Rasterformationen wirken hier ausgesprochen krumm und schief. Wie beim Jazz hat Whitten eine streng formale Vorgabe, das Raster, genutzt, um sich zugleich von ihr zu befreien. Raster, die organisch wirken, Kurven schlagen oder deren äußere Form abgerundet wurde, sind denn auch omnipräsent in seinem Werk, was Bilder wie Yankee Clipper: For Joe DiMaggio oder Quantum Wall, VIII (For Arshile Gorky, My First Love in Painting) (2017) belegen. Wenn sich Whitten in diesen Arbeiten die Freiheit nimmt, schiefe und krumme Raster zu produzieren, dann signalisiert dies zweierlei: dass ihm die Tradition des Rasters nicht selbstverständlich zur Verfügung steht und dass der modernistische Anspruch des Rasters auf eine Überwindung der Figur-Grund-Relation zu kurz greift. Whittens Raster sorgen nämlich gerade nicht für den Eindruck von Flächigkeit, sondern suggerieren im Gegenteil eine dreidimensional-körperhafte Form der Belebtheit.

Jack Whitten, „One Hundred Ninety Pieces of Color: For Ellsworth Kelly #2“, 2016

Jack Whitten, „One Hundred Ninety Pieces of Color: For Ellsworth Kelly #2“, 2016

5. Spuren des Selbst-Machens

Neben den Titeln, den Farbstücken und den mit Farbe abgenommenen Dingen sorgen auch sichtbare Arbeitsspuren in Whittens Werk dafür, dass Letzteres mit der Lebens-und Arbeitszeit seines Urhebers symbolisch angereichert wird. In seinem grafisch anmutenden Zielscheibenbild Red, Black, Green (1979−1980) oder in dem „Wunden“ auf seiner Oberfläche aufweisenden Bild Zulu Tea Party (1979) sind es deutliche Werkzeugspuren, die von Whittens Arbeitsprozess zeugen. Auf der Oberfläche von Red, Black, Green ist die Farbe beispielsweise horizontal mit einem Afrokamm verteilt worden, und in Zulu Tea Party hat einer von Whittens selbst gebauten Rakeln mit Kerben sichtbare Streifen in die Oberfläche gerissen. Es ist also nicht nur eine „Einschreibung von Ereignissen und Personen“ (Sven Beckstette), die in diesen Bildern stattfindet, sondern mehr noch zeugen sie auch von Whittens spezifischer Arbeitsmethode. [12] Dass Whitten gern auf selbst gebaute oder zweckentfremdete Werkzeuge wie riesige Rakel (in Anlehnung an fotografische Prozesse nennt er diese „developer“), Afrokämme, Hobel, Sägen oder Mauerkellen zurückgreift, spricht zunächst einmal für den Do-it-yourself-Charakter seines Verfahrens. Dabei sind diese Werkzeuge nicht nur Mittel zum Zweck, sondern selbst bedeutsam, weshalb Whitten sie gelegentlich in Ausstellungen mitpräsentierte (wie etwa 1994 in der Daniel Newburg Gallery in New York). Die Besonderheit dieser Werkzeuge scheint mir vor allem darin zu bestehen, dass sie sowohl die Mechanisierung als auch eine eigenwillige Form der Personalisierung seines Arbeitsprozesses bewirken. Mit dem Afrokamm wird z. B. die Bedeutung der Hand relativiert, das malerische Verfahren mechanisiert, und zugleich trägt er ein persönlich-identitätspolitisches Moment in seine Arbeit ein. Auch der selbst gebaute monumentale Rakel, mit dem Whitten seine Slab Paintings wie Zulu Tea Party (1979) in einem Zug herstellte, leistet neben der Mechanisierung des Arbeitsprozesses auch dessen Individualisierung. Denn mit dem selbst gebauten Rakel teilt uns Whitten letztlich auch mit, dass man als Künstler einerseits alles selbst machen muss, wenn man von der (eurozentristisch und rassistisch geprägten) Malereitradition nicht selbstverständlich eingeschlossen wird. Andererseits signalisiert der selbst gebaute Rakel aber auch Whittens Zugehörigkeit zur Nachkriegsmoderne, wo Rakel schließlich gängig waren, wie etwa bei Ed Clark, K. O. Götz oder Gerhard Richter. Whitten erhob also immer auch einen selbstverständlichen Anspruch auf diese Moderne, wenn er z. B. den Maler Arshile Gorky in einem Bildtitel zu seiner „First Love in Painting“ erklärte.

6. Gaben mit Tauschverpflichtung

Wie bereits angedeutet, scheint mir zuletzt bei Whitten noch ein notwendiger Zusammenhang zwischen dem „Widmungscharakter“ seiner Memorial Paintings und der Suggestion ihrer Beseeltheit (qua Farbe, Titel, Farbabdrucken und Arbeitsspuren) zu bestehen. Dass Whitten seine Bilder als „Gaben für die Menschen, von denen sie inspiriert wurden“ [13] charakterisierte, kann uns an diesem Punkt die Richtung weisen. Denn Gaben sind, folgt man dem Anthropologen Marcel Mauss, keine leblosen Dinge, sondern beseelte Tauschobjekte. [14] Mit Blick auf archaische Institutionen hatte Mauss gezeigt, dass Geschenke erwidert werden müssen, und zwar aufgrund der Annahme, dass in ihnen ein Stück ihres Gebers bzw. ihrer Geberin enthalten sei und fortlebe. Demnach wären Gaben beseelt und müssten deshalb weitergegeben werden. Nun wird dieses animistische Prinzip bei Whitten dahingehend modifiziert, dass es nicht die Seele des Gebers, sondern die Seele der Beschenkten ist, die seine Memorial Paintings zu transportieren vorgeben. Und eben weil sie auch als quasimagische rituelle Objekte funktionieren, müssen sie Mauss zufolge ausgetauscht werden. Aus dieser anthropologischen Perspektive könnte man folglich die Gabenstruktur von Whittens Bildern als einen Versuch interpretieren, ihren Eintritt in den ökonomischen Kreislauf des Kunstmarkts zu forcieren. Oder, anders formuliert, indem sie sich als Geschenke ausgeben – etwa für Robert Rauschenberg (das digital anmutende Bar Code IV Lotto (A Gift for Robert Rauschenberg von 2008) oder für Louise Bourgeois (das sexistische Festschreibungen auf unglückliche Weise reproduzierende Sainte Louise Aka The Tittie Painting for Louise Bourgeois von 2010 –, reklamieren sie auch ihre Teilhabe an einem Tauschsystem, dass sie lange Zeit an seine Ränder verwiesen hat. Whitten selbst soll sich in den 1970er Jahren darüber empört haben, dass seine Bilder unter Wert gehandelt würden. [15] Mit den vielfältigen Maßnahmen zu ihrer Beseelung ist er zwar einerseits das Risiko eingegangen, aus dem Ideal eines seriell und/oder mechanisch produzierten Anscheins von Leblosigkeit (wie ihn Minimal Art und Pop Art anstrebten) herauszufallen; zugleich waren es gerade die Widmungen seiner Bilder an seine Künstlerkolleg*innen, mit denen er seine Zugehörigkeit zum Kanon westlicher Nachkriegskunst behauptete. Dass Whittens Bilder inzwischen über institutionelle Anerkennung und steigenden Marktwert verfügen, hat zwar auch strukturelle Gründe (wie etwa das längst fällige Bekenntnis zur „Diversity“ zahlreicher Kunstinstitutionen) und geht folglich nicht allein auf das animistische Potenzial seiner Arbeiten zurück. Ich denke dennoch, dass die vielfältigen Maßnahmen zu ihrer Beseelung, wozu ich auch ihren Auftritt als „Gaben“ zählen würde, ihrer Zirkulation und Austauschbarkeit symbolisch förderlich gewesen sind.

Allerdings könnte man an diesem Punkt mit Verweis auf die Vitalismuskritik von Samo Tomšič auch fragen, inwieweit wir es bei Whitten mit einem „positiven Vitalismus“ in Form von belebenden Titeln, Lebendigkeit suggerierender Materie und beseelten Gaben zu tun haben, bei dem die „Negativität“ auf der Strecke bleibt. [16] Zunächst einmal scheint mir Negativität jedoch etwas zu sein, was man sich als Künstler*in erst einmal leisten können muss. Solange das, was man ist und tut, nicht genauso zählt wie die Identitäten und Taten von anderen, sind womöglich eher Verfahren der positiv-vitalen Selbstbehauptung das Gebot der Stunde. Versteht man den Großteil von Whittens Memorial Paintings zudem als eine Art von Totenkult, dann sind sie qua Abwesenheit der Geehrten durchaus von Negativität bestimmt. Und die Stärke von Whittens „positivem Vitalismus“ scheint mir ohnehin darin zu bestehen, dass nicht etwa der Künstler selbst als etwas Quasi-Lebendiges gefeiert wird, sondern dessen sozial-künstlerisches Bezugssystem. Whitten selbst wird gewissermaßen zum Teil dieser vitalen Struktur erklärt, sein Ich sind folglich immer auch die anderen.

„Jack Whitten. Jack’s Jacks“, Hamburger Bahnhof, Berlin, 29. März bis 1. September 2019.

Anmerkungen

[1]Vgl. hierzu einige von Whittens Bemerkungen in: Katy Siegel (Hg.), Jack Whitten: Notes from the Woodshed, 2018 Hauser & Wirth Publications, etwa den Eintrag von 1984 auf S. 176: „I must be careful not to depend upon conceptual thought“. Oder ebd. den Eintrag von 1986 auf S. 190: „I don’t believe in Conceptual Art; if you can conceive of it then its not art but an illustration of an idea.“Oder ebd. auf S. 233: „I Must work against Sol Le Witt. Saw the ACE Gallery Show, 100% conceptual. Work against the conceptual.“
[2]Vgl hierzu seine oft zitierte Äußerung über sein Bild des Schwarzen Kongressmitglieds Barbara Jordan: „She is in that bucket.“ Die porträtierte Person befände sich demnach selbst im Farbtopf. Zit. nach: Jeanne Siegel, Painting after Pollock. Structures of Influence, Amsterdam 1999, S. 40.
[3]Vgl. den seinen Skulpturen gewidmeten Katalog Odysee. Jack Whitten Sculpture 1963−2017, New York 2018.
[4]Vgl. hierzu: „Preface and Acknoledgment“, in: From The Margins. Lee Krasner/Norman Lewis, 1945−1952, Ausst.-Kat., The Jewish Museum, New York, 2014/2015, S. 11−13.
[5]Vgl. Mia L. Bagneris, „Loner in the Dark: The Singular Vision of Norman Lewis and the evidents of things unseen“, in: From The Margins. Lee Krasner/Norman Lewis, 1945−1952, a. a. O., S. 78−89, hier: S. 81.
[6]Vgl hierzu das unpublizierte Interview von Judith Olch Richards Oral History with Jack Whitten 2009, o. S., und Whittens Bemerkung: „Abstract Expressionism was my academy.“
[7]Vgl. ebd., wo er ebenfalls festhält, dass er von niemandem ermutigt worden sei: „There was no encouragement from nobody.“ Und über die 70er Jahre: „The idea of a black artist doing these works and thinking that way, nobody paid attention to you.“ O. S., 2009.
[8]Vgl. Darby English, 1971. A Year in the Life of Color, University of Chicago 2016, S. 73.
[9]Vgl. Katie Siegel (Hg.), Jack Whitten. Notes from the Woodshed, 2018, Eintrag von 2012 auf S. 392: „I have survived with very little help from the ‚artworld‘ the white artworld simply denies my existence.“
[10]Dies auch aufgrund der Malpausen, die Whitten im Sommer einlegte, wo er ausschließlich seine Holzskulpturen auf Kreta produzierte.
[11]„From The Margins“ war der Titel der bereits erwähnten Ausstellung von Lee Krasner und Norman Lewis, die 2014/2017 im The Jewish Museum in New York stattfand.
[12]Vgl. Sven Beckstette, „Die Bedeutung der Abstraktion erweitern“, in: Jack Whitten. Jack’s Jack, Ausst.-Kat., hrsg. von Udo Kittelmann/Sven Beckstette, Hamburger Bahnhof, Berlin, 2019. S. 46−63, hier: S. 50.
[13]Zit. nach Katy Siegel (Hg.), Jack Whitten: Notes from the Whoodshed, Zürich 2018, S. 418.
[14]Vgl. Marcel Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften, Frankfurt/M. 1990.
[15]Vgl. Zoé Whitley, „Brotherliness. Melvin Edwards reflects of friendship with Jack Whtten“, in: Jack Whitten, Jack’s Jack, Ausst.-Kat., a. a. O., S. 129−137, hier: S. 136.
[16]Vgl. Samo Tomšič, The Labour of Enjoyment. Towards a Critique of Libidinal Economy, Köln 2019, S. 204.