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DIE EIGENZEIT DER ENGEL Annika Haas über Simone Fattal in der Klosterruine Berlin

„Simone Fattal: While the Angels Are Naming Us“, Klosterruine Berlin, 2021, Ausstellungsansicht

„Simone Fattal: While the Angels Are Naming Us“, Klosterruine Berlin, 2021, Ausstellungsansicht

Spuren der Übersetzung. Die Ruine des Franziskanerklosters südlich des Alexanderplatzes in Berlins Mitte war bis vergangenen Sonntag Ort der künstlerischen Auseinandersetzung mit mythischen Erzählungen über die Gegenwart. In ihrer Collage aus epochenübergreifendem und transkulturellem visuellem Material an den Übergängen von vermeintlichem Orient und vermeintlichem Okzident unternahm die Künstlerin, Philosophin und Publizistin Simone Fattal eine installative wie ikonografische Unterbrechung des Denkens in Chronologien und Eigentlichkeiten. Hierzu platzierte Fattal zwei Engel, die sie als Reaktion auf die Explosionen im Hafen von Beirut im Sommer 2020 angefertigt hat, als gleichsam transepochale Wesen in das Zentrum ihrer Ausstellung. Wie die Medientheoretikerin Annika Haas erläutert, wird damit Geschichte bei Fattal auf ähnliche Weise als eine Frage des Standpunkts einsichtig wie in den Schriften von Hélène Cixous.

Unter Titeln wie „Unfinished Histories“, „Cruising the End Times“, „Times in Crisis“ oder „Times in Ruins“ wird in der Klosterruine Berlin seit nunmehr drei Jahren in unterschiedlichen Ausstellungs- und Diskussionsformaten untersucht, wie kompliziert, ungeklärt und unabgeschlossen unser Verhältnis zur Zeit ist. Das gilt gleichermaßen für die Vergangenheit wie für die Gegenwart und sorgt nicht nur angesichts der offenen Frage, wie mit dem Machtkomplex Geschichte umgegangen wird, zumal in Berlins Mitte, für Reibung. Mit „Summer in Ruins“, der aktuellen Programmreihe in der Klosterruine, geht Kurator Christopher Weickenmeier einen spekulativen Weg und erklärt die Kommunale Galerie zur Ausgrabungsstätte der Gegenwart. Mit zeitgenössischen Ausstellungen, Performances, Konzerten und Diskursveranstaltungen [1] wird der Ruine des auf das Jahr 1250 datierten Franziskanerklosters südlich des Alexanderplatzes jedoch mehr als nur Jetztzeit injiziert, wie sich besonders in der Ausstellung „While the Angels Are Naming Us“ von Simone Fattal zeigt.

Zwei Engel stellt Fattal ins Zentrum der Klosterruine und damit in die Mitte eines Kirchenschiffs ohne Dach. Dass das hier ein ehemals sakraler Ort ist, drängt sich bereits beim Blick durch das Eingangstor auf. Wie die Collage Die Gänse von Konrad Lorenz (2015) deutlich macht, geht die hier von Fattal eingenommene Perspektive jedoch über religiöse Kontexte hinaus. Die eigens für diese Ausstellung unter freiem Himmel auf einer transluzenten Plane reproduzierte Arbeit ist in eine Konstruktion aus Stahlgerüstelementen inklusive massiver Sitzbank eingespannt. Zusammen wirkt das wie eine Filmleinwand. Nur werden Blicke wie Gedanken hier von evokativen Schnipseln in Bewegung gesetzt. Die Live-Speaker*innen der Klosterruine helfen beim Lesen der Collage, die eine erste Idee von der epochenübergreifenden Tiefenrecherche und dem transkulturellen Denken der Künstlerin, Philosophin und Publizistin Fattal gibt.

Auf gleich sieben Schwarz-Weiß-Fotografien taucht Papst Johannes XXIII. auf. Zu sehen sind Audienzen und eine Anprobe, der Doris Lessing im freischwebenden Passbildformat aus einem Garten zuzuschauen scheint. Nahezu im Zentrum der Collage fällt ein Porträt des Sufi-Gelehrten Abd el-Kader auf, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts Widerstand gegen die französische Kolonialisierung Algeriens leistete. Wie die Schriftstellerin und Philosophin Hélène Cixous bemerkt, die ebenfalls in Algerien aufwuchs, ist Geschichte immer auch eine Frage des Standpunkts: „Geography of my genealogical memory: I stand at the edge of North Africa.“ [2] An eine Orientierung nach Himmelsrichtungen lassen außerdem die zahlreichen Vögel im Wasser und in der Luft denken, die sich in der rechten Hälfte der Collage finden. Ihr Instinktverhalten wurde vom titelgebenden Konrad Lorenz erforscht, während es ihm selbst an Bewusstsein für die Fatalität des Naziregimes mangelte.

Die grauen Leerräume zwischen den weitgehend männlichen Köpfen, den Landschaften und den fotografischen Reproduktionen altägyptischer Reliefs, die neben Objekten wie Briefumschlag, Landkarte, Vase und Zuckererbse auf der Collage zu sehen sind, tragen zu dem Eindruck bei, dass diese eine fortlaufende Recherche dokumentiert. Fattal enthebt (Bild-)Zitate ihrer primären Deutungskontexte und macht so neue Zusammenhänge denkbar. Sie, die in ihren Arbeiten verschiedene Zeit-, Sprach- und Kulturräume durchquert, gelangt nach eigener Aussage durch eine solche Anhäufung von „Dingen“ zu „Erfahrung“ bzw. „Wissen“. [3] Barbara Casavecchia nennt die Künstlerin daher eine „traveling translation“ [4]. Auf einer von vielen möglichen „Übersetzungen“ der Klosterruine basiert auch Fattals Ausstellung hier. Sie liest den Ort als Zeugnis eines Treffens zwischen Franz von Assisi, Gründer des einstmals hier ansässigen Franziskanerordens, und dem ägyptischen Sultan Muslim Al-Kamil im 13. Jahrhundert. Diese Beschäftigung mit dem Anderen bzw. mit der Projektion auf ihn*sie als anders, „[d]ieser präzise Kurzschluss von vermeintlichem Orient und Okzident“ [5], stellt für Kurator Weickenmeier das formale Prinzip der Ausstellung dar. „Die vermeintlich eigene Vergangenheit wird als porös erfahrbar.“ [6] Oder wie Fattal es nennt: „We always need to look into the global history of a place.“ [7]

Simone Fattal, „Die 99 Namen“, 2021, Detail

Simone Fattal, „Die 99 Namen“, 2021, Detail

Dass es bei einem solchen ortsspezifischen und über den eigenen historischen wie kulturellen Horizont deutlich hinausgehenden Geschichtsverständnis nicht lediglich darum gehen kann, die unvermeidbaren Fehlschlüsse über den*die andere*n zu reflektieren, zeigt auch die Arbeit Die 99 Namen (2021) im Altarraum der Klosterruine. In arabischer Kalligrafie eingeritzt, finden sich hier 99 Namen und Offenbarungen der Eigenschaften Gottes aus dem Koran auf sechs Tonkugeln unterschiedlicher Volumina. Der Ausstellungstext weist auf sufische Mystiker*innen hin, die diese Eigenschaften zu verkörpern versuchten. [8] Assisi schrieb nach seiner Begegnung mit der islamischen Welt ein Lobpreis Gottes, der auf mimetische Weise an die „99 Namen Allahs“ des Korans erinnert. [9] In Fattals Die 99 Namen wird „Gott“ zur Ellipse. „Gott“ – und damit vielleicht der*die*das ultimativ Andere – wird also nicht auf einen einzigen Namen festgelegt, stattdessen sind 99 davon gekrümmt auf den Kugeln zu lesen. Sie liegen auf einer niedrigen Plattform aus Gerüstböden, die leicht versetzt zur Mitte des Altarraums steht – ein subtiles Abweichen von der sich immer wieder aufdrängenden Symmetrie der sakralen Backsteinarchitektur. Das gesamte Display mit Anleihen an den Gerüstbau bildet hier eine notwendige installative wie ikonografische Unterbrechung dieser Symmetrie und hebt auch die Differenzen zwischen den unterschiedlichen historischen Referenzen hervor, mit denen Fattal arbeitet.

Die Spuren ihres Übersetzens, Um- und Fortschreibens sind jedoch nicht immer so sichtbar und buchstäblich ausagiert wie in der eingangs beschriebenen Collage. Um gleichsam rätselhafte Körper handelt es sich bei den beiden mittig im Raum platzierten Skulpturen Engel 1 und Engel 2 (2021), die beide von polymorpher Gestalt sind. Einem der Engelskörper entwächst eine Wucherung, vielleicht ist ihm auch eine Gliedmaße abhandengekommen. Im Gespräch in der Klosterruine erzählte Fattal, dass sie diesen „angel of vengeance“ als Reaktion auf die Explosionen im Hafen von Beirut im Sommer 2020 angefertigt hat. [10] Bei beiden Engelskulpturen lassen die Handabdrücke und die Löcher allerdings offen, ob es sich hierbei um Spuren der Berührung oder der Verletzung handelt. Die Engel stehen erhöht auf je einer Säule mit dreieckiger Grundfläche aus Gerüststangen, die in rohen Beton eingelassen sind und Besucher*innen wie Engel höhenmäßig überragen. Da die Allansicht der Skulpturen von den Metallstangen unterbrochen wird, entsteht so trotz ihrer Exponiertheit eine intime Nische, die ihnen vor dem ‚Trümmersturm‘, der sich hier nach Walter Benjamin unweigerlich aufdrängt, Schutz und Geborgenheit zu geben scheint: Benjamins Engel der Geschichte treibt „unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“ [11] Wohin sich Fattals Engel wenden und bewegen, ist vergleichsweise weniger eindeutig. Ihrer beider Blick ist für das menschliche Auge nicht ersichtlich, und es bleibt offen, wo Vorder- und Rückseite sind. Dadurch fällt es schwer, eine Position zu finden, von der aus sie sich umfassend betrachten lassen.

„Simone Fattal: While the Angels Are Naming Us“, Klosterruine Berlin, 2021, Ausstellungsansicht

„Simone Fattal: While the Angels Are Naming Us“, Klosterruine Berlin, 2021, Ausstellungsansicht

Fattal lenkt den Blick von den gegenwärtigen „Times in Ruins“ ab, indem sie (Denk-)Figuren aus den unterschiedlichsten ‚Himmelsrichtungen‘ und Zeiten miteinander collagiert und die Engel dieses Prinzip als transepochale Wesen verkörpern lässt. [12] Anders als Engel bewegen sich Menschen jedoch nicht so mühelos zwischen unterschiedlichen Räumen und Zeiten hin und her. Es ist die Kunst, die es ermöglicht, sie zu durchqueren und dazwischen zu oszillieren. Fattal scheint es dabei nicht um eine Identifizierung und chronologische Verarbeitung eindeutiger kunsthistorischer Bezugspunkte zu gehen. Der abwesende Blick von Engel 1 und Engel 2 verweigert sich geradezu einer festgelegten Perspektive darauf. Durch ihr unvermitteltes und vielgestaltiges Auftreten unterbrechen die mythischen, ewigen Engel die linearen Erzählungen der Gegenwart an unterschiedlichen Punkten. Das spiegelt sich auch in der Klosterruine als zeitgenössischem Kunstraum in altem Gemäuer mit seinen historischen wie ästhetischen Diskontinuitäten wider. [13] Mit queeren „Sunday Sermons“ in diesem postsakralen Raum oder auch der vorangegangenen Ausstellung „Crying Face, Don’t Tell Anyone Smile, Thinking Smile, Broken Heart, Wilted Rose“, in der Anna M. Szaflarski sich der Erosion von einst mit dem Internet verknüpften utopischen Visionen widmete, ermöglicht die künstlerische Leitung Weickenmeiers hier noch etwas anderes: eine kritische Erkundung von Vergangenheit und Gegenwart entlang der ästhetischen Prämissen von Künstler*innen. Fattals Ausstellungstitel „While the Angels Are Naming Us“ mit seinem nicht näher definierten „Wir“ handelt genau von einer solchen offenen Herangehensweise: Sie überlässt es den Engeln, diesem „Wir“ mögliche Namen zu geben. Und damit der Zeit eine neue Gestalt.

„Simone Fattal: While The Angels Are Naming Us“, 25. Juni bis 1. August 2021.

Annika Haas ist Medientheoretikerin. Sie lehrt und arbeitet an der Universität der Künste Berlin an einer Dissertation zu Hélène Cixous.

Image credit: Juan Saez

Anmerkungen

[1]Mit der Reihe „Excavating the Present“ hat die Autorin dieses Textes am Diskursprogramm der Klosterruine Berlin im Sommer 2021 mitgewirkt. Siehe https://www.klosterruine.berlin/programm/58-sommer21/254-excavating-the-present.html (16.7.2021).
[2]Hélène Cixous/Mireille Calle-Gruber, Hélène Cixous. Rootprints: Memory and Life Writing, übers. v. Eric Prenowitz, London/New York 1997, S. 182.
[3]Barbara Casavecchia, „Traveling Translations: Simone Fattal“, (Gespräch, 24.9.2019), in: Mousse Magazine, http://moussemagazine.it/simone-fattal-barbara-casavecchia-2019/ (gesehen am: 15.07.2021).
[4]Ebd.
[5]Klosterruine Berlin, Kurator Christopher Weickenmeier zu Simone Fattals „While the Angels are Naming Us“, https://www.klosterruine.berlin/images/presse/Simone_Fattal/Pressemappe_Times_in_Ruins_2021_Fattal_12072021.pdf (gesehen am: 22.07.2021).
[6]Ebd.
[7]Casavecchia, 2019.
[8]Der Ausstellungstext verweist zum Beispiel auf den Mystiker Al-Hallādsch, der dafür denunziert wurde, dass er einen der Namen Allahs für sich beanspruchte und aussprach. Mit dem Sufismus hat sich Fattal auch als Herausgeberin von The Post-Apollo-Press beschäftigt, wo u. a. Übersetzungen des Sufi-Mystikers Muhyiddin Ibn al-‘Arabī (Bewildered, 2018), ein Roman über den Sufi-Gelehrten Abu Musa (Abu Musa’s Women Neighbors, 2006) von Ahmed Toufiq und 1987 Fattals Übersetzung von Eva de Vitray-Meyerovitchs Einführung zu Rûmî and Sufism (1987) erschienen.
[9]Vgl. Stefan Federbusch: „Ein wieder hochaktueller Dialog. 800 Jahre Franziskus und der Sultan“, in: franziskaner.net, https://franziskaner.net/ein-wieder-hochaktueller-dialog/ (gesehen am: 15.07.2021).
[10]Artist Talk mit Simone Fattal und dem Kurator Christopher Weickenmeier, Klosterruine Berlin, 29.07.2021.
[11]Walter Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte“, in: Gesammelte Schriften, Bd. I–2, Frankfurt/M. 1980, S. 691–704, hier: S. 698 (Herv. i. Orig.)
[12]Ihr Kosmos beherbergt sowohl die sumerischen, sufisch-mystischen als auch die abrahamitischen und schließlich den Engel Paul Klees, über den Fattals Lebensgefährtin Etel Adnan schreibt: „He had been their catalyst. He had searched for their multiple definitions.“ Etel Adnan, „Angels, More Angels“, in: Dies./Sébastien Delot, Etel Adnan, Katalog zu den Ausstellungen im Zentrum Paul Klee und Musée d‘Art Moderne Grand-Duc Jean, Paris, 2018. Zu Adnans Ausstellung „Night & Angels“ in der Klosterruine 2018 siehe auch Christopher Weickenmeier, „Es ist schön, nicht zu wissen. Ein Gespräch mit Etel Adnan“, in: Kultur Mitte Magazin, 28.09.2018, https://kultur-mitte.de/es-ist-schoen-nicht-zu-wissen-ein-gespraech-mit-etel-adnan/ (gesehen am: 16.07.2021).
[13]Für die Re-Etablierung der Klosterruine als Ort für ein evangelisches Elitegymnasium streitet stattdessen die Stiftung Berlinisches Gymnasium zum Grauen Kloster. Siehe Gunda Bartels, „Romantik des Zerfalls“, in: Tagesspiegel, 03.07.2021, https://www.tagesspiegel.de/kultur/sommerserie-berliner-ruinen-1-romantik-des-zerfalls/27389568.html (gesehen am: 03.08.2021).