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LIEBE ZUR ONTOLOGIE Jan Verwoert über „White Space in White Space / Biely priestor v bielom priestore, 1973−1982. Stano Filko, Miloš Laky, Ján Zavarský“, hg. von Daniel Grúň, Christian Höller und Kathrin Rhomberg

Weißes Nichts. Zeitgenössische Kommentare auf konzeptuelle Kunstpraktiken aus Osteuropa nehmen häufig Bezug auf Figuren aus dem Westen wie Ad Reinhardt und Piero Manzoni. Ein kürzlich erschienener Sammelband der Manifeste und Schriften von drei der einflussreichsten Vertreter der osteuropäischen Neo-Avantgarde – Stano Filko, Miloš Laky und Ján Zavarský – zeigt jedoch, dass die Bedingungen der künstlerischen, politischen und philosophischen Auseinandersetzung jeweils andere sind. In Essays, Interviews und Kommentaren huldigt das Buch der avantgardistischen Lust am Streit, liefert aber vor allem, wie Jan Verwoert argumentiert, Stoff für eine Debatte über die Notwendigkeit, die Vorzeichen künstlerischer Kritik (bezogen auf ihre Ausgangs- und Angriffspunkte) in ihrer Besonderheit zu begreifen.

Die von Daniel Grúň, Christian Höller und Kathrin Rhomberg herausgegebene Publikation White Space in White Space / Biely priestor v bielom priestore, 1973–1982. Stano Filko, Miloš Laky, Ján Zavarský handelt von einem Schlüsselereignis in der jüngeren slowakischen Kunstgeschichte: Am 18. Februar 1974 installierten Stano Filko, Miloš Laky und Ján Zavarský im Dům umění (Haus der Künste) in Brno für die Dauer weniger Stunden ihre Arbeit Biely priestor v bielom priestore (Weißer Raum im weißen Raum). Sie bestand aus einer Serie von zum Teil meterlangen Leinwandbahnen, auf die pro Leinwand je eine symmetrische weiße Fläche aufgetragen wurde. Die Bemalung fiel verschieden aus: hier ein Rechteck in der Mitte, da eine Farbbahn, die, bis auf einen schmalen Rand, die gesamte Fläche und Strecke der Leinwand füllte, oder genau umgekehrt, ein weißer Rand, der den nackten Stoff umrahmte. Gemeinsam war allen Ausführungen: Sie wurden sichtlich kunstlos mit der Farbrollbürste hergestellt, zwar präzise, aber völlig stumpf und gleichförmig, ohne Bemühen um eine Verfeinerung der Oberflächentextur.

Die meisten Leinwände wurden gefaltet gelagert. Wie bei Laken hatten sich die Falten so stark ins Leinen eingepresst, dass sie es mit einem Raster aus rechtwinkligen Faltspuren überzogen. Filko, Laky und Zavarský hängten das Gros der Malereien horizontal, nur zwei von ihnen hingen wie Banner vertikal von der Decke des modern-funktionalistischen Ausstellungsraums. Andere waren aufgerollt und wurden am Boden oder über angrenzende Wände hinweg faltenlos ausgerollt. Alles in allem vermittelte die Arbeit den Eindruck einer Untergrundaktion: morgens rein ins Kunsthaus, Monochrome ausgebreitet, ringsum ein weißes Nichts erzeugt, nachts wieder raus. Montag war Ruhetag. Außer Direktorin Gerta Pospíšilová, Kurator Jiří Valoch und zwei weiteren Freunden hat niemand die Arbeit gesehen. Was bleibt, sind Fotos und Texte – Manifeste, Auslegungen und Anfeindungen –, die im Nachgang zu Biely priestor v bielom priestore entstanden. Darunter 1974 eine Mappe mit zwölf Thesen der Künstler zur Arbeit, mit Fotos und einer Einführung von Valoch, illegal gedruckt und Vertrauten individuell zugesteckt oder zugeschickt. In ihren Thesen provozieren Filko, Laky und Zavarský nach Herzenslust: Minimal Art, Konzeptkunst und geometrische Abstraktion blieben Gefangene der objektiven Realität. Sie nicht. Ihr weißer Raum im weißen Raum hebe die Grenzen des Objekts auf. Durch die Kraft reiner Leere. Diese Kraft wohne im Herzen des Subjekts und der Kunst. Das Auslöschen von Gegenständlichkeit schaffe Sensibilität für schiere Grenzenlosigkeit.

Grúňs, Höllers und Rhombergs Publikation zeichnet die enge Verbindung zwischen dieser Aktion und der Debatte, die sie hervorrief, nach. Die in das Buch eingeflossenen Recherchen sind beeindruckend umfangreich. Das ist keine Selbstverständlichkeit, denn das meiste Material wurde aus privaten Quellen zusammengetragen. Nicht nur die Fotos der Arbeit stammen überwiegend von unmittelbaren Zeitzeug*innen; auch viele der historischen Texte waren in persönlichen Archiven verstreut. Sie erschienen ursprünglich meist klandestin, im Eigenverlag und -vertrieb, als Samisdat-Publikation oder als selbst gedruckte und gezielt verschickte Editionen. Diese sind für das Buch abfotografiert. Die Mehrzahl ist im Original bereits übersetzt (zur internationalen Zirkulation in bis zu neun Sprachen). Wo nicht, da liefert das Buch Übersetzungen ins Englische von John Minahane. Neben einem aktuellen Interview von Grúň mit Zavarský und einem Gespräch von 1981 zwischen dem damaligen Dissidenten (heutigen Minister) Ján Budaj und dem 2015 verstorbenen Filko versammelt der Band Essays von Noit Banai, Lisa Grünwald, Grúň, Vít Havránek und Boris Ondreička. Zwischen den Zeilen und Bildern vermittelt sich ein starker Eindruck davon, was es bedeutet haben mag, nach der Niederschlagung des Prager Frühlings unter dem Druck der „Normalisierungs“-Maßnahmen des Staates einen provokativen Diskurs über die Aufhebung der aufgezwungenen Realität mit Mitteln der Kunst zu führen.

Stano Filko, Miloš Laky, Ján Zavarský, „White Space in White Space / Biely priestor v bielom priestore“, Haus der Künste, Brno, 1974

Stano Filko, Miloš Laky, Ján Zavarský, „White Space in White Space / Biely priestor v bielom priestore“, Haus der Künste, Brno, 1974

Grünwalds sagenhaft detailierter Text liefert die Fakten: Nach der Ausstellung im Februar 1974 richten Anna Lakyová und Miloš Laky ihr gemeinsames Wohnzimmer ganz in Weiß ein. Ihr Apartment wird zum Frei-/Weißraum für systemkritische Abendgespräche im engen Kreis. Laky stirbt 1975 an Leukämie. Im selben Jahr stellt Zavarský eine Version der Arbeit auf der 9. Biennale de Paris aus. 1977 folgt eine Ausstellung im legendären Budapester „Club junger Künstler“. Zavarský erhält Reiseverbot. Er arbeitet als Bühnenbildner und später als Direktor eines Kindertheaters weiter. Das Erbe der Arbeit geht an Filko. Er zeigt sie in Jugoslawien und Polen. Das Ausweißen wird Teil seines Repertoires. In der Fiktionalisierung seiner Biografie verbindet er Weiß mit der Kraft des Subjekts, sich durch das Durchleben „klinischer Tode“ selbst aufzuheben (aus Filko wird Fylko, dann Phylko). Nach der Ausreise in den Westen stellt er 1982 auf der Documenta 7 seinen Fluchtwagen aus: einen weißen Škoda 120 L, rundherum grob weiß übermalt, Titel: Liebe zur Ontologie.

Was wollen jetzt diese Texte, Materialien und Erinnerungen? Für meine Begriffe stellen sie nicht nur den Antrag auf Aufnahme in den Kanon der Geschichte konzeptueller Kunst, der im New York, Paris und Düsseldorf der 1970er Jahre gebildet wurde. Sicher nehmen die zeitgenössischen Kommentare zu Biely priestor v bielom priestore (wie etwa die von Valoch und Thomáš Štrauss) Bezug auf Figuren aus dem Westen, wie zum Beispiel Ad Reinhardt und Piero Manzoni; Pierre Restany tritt als Vermittler auf. Aber die Vorzeichen der künstlerischen, politischen und philosophischen Auseinandersetzung sind andere. Die gilt es zu verstehen, und das Buch liefert eine hervorragende Grundlage dafür. Es zeigt, der aggressive Ausgriff von Filko, Laky und Zavarský auf metaphysische Ideen – von der subjektiven Aufhebung objektiver Realität durch eine Kunst der Leere – hat eine taktische Dimension: die Staatsdoktrin vom „sozialistischen Realismus vs. leerer Formalismus“ auf den Kopf zu stellen und dabei zugleich andere Künstler*innen zu provozieren.

Auf Grúňs Frage, warum bei der Suche nach Medien zur Aufhebung der Wirklichkeit die Wahl ausgerechnet auf die Malerei fiel, antwortet Zavarský im Interview verschmitzt, man habe damit Kolleg*innen in Bratislava verprellen wollen, die Malerei für erledigt hielten. Mit Erfolg: Zu den im Buch enthaltenen Texten zählt eine bissige Replik von Július Koller, verfasst um 1975. Auch er wählte die Form eines logisch-philosophischen Traktats mit zwölf Thesen. Selbst kritischer Kosmiker und zuvor Weggefährte Filkos im Widerstand gegen staatlich verordnete Wirklichkeiten, nimmt Koller nun das Manifest von Filko, Laky und Zavarský analytisch auseinander: Dass leere Leinwände die Unendlichkeit vergegenwärtigen könnten, sei absurd. Sie zeugten von dem Versuch, Kunst zu machen, statt Philosophie zu wagen. Kein dialektischer Umschlag in Grenzenlosigkeit. Nur übergeschnappte Behauptungen! Eine offene Frage – Banai reißt sie in ihrem Essay an – bleibt: Wie viel vom diskursiven Scharmützel zeugt, bei aller Liebe zu avantgardistischer Polemik, nicht zuletzt auch vom Territorialstreit unter Männern. Im Gegensatz zu Banai sehe ich die Anzeichen für maskulines Machtgebaren dabei weniger in der (über die Jahre immer weiter) ausufernden Kosmologie eines Filko als vielmehr im professoralen Gestus ihrer Ausleger. Erstere macht Räume auf, letzterer macht sie dicht. Den Ton der ursprünglichen Begleittexte zu Biely priestor v bielom priestore kennzeichnet zum Beispiel der gleiche staatsmännische Duktus, mit dem etwa auch Alfred Barr seine Einordnungen vornimmt: Historiker der Gegenwart organisieren Avantgardisten im erweiterten Feld der Moderne wie Feldherren ihre Truppen auf der Landkarte. Sie tun es kraft ihres Amtes.

Stano Filko, „Emotion – 1977“, Galeria LDK Labirynt, Lublin, 1978

Stano Filko, „Emotion – 1977“, Galeria LDK Labirynt, Lublin, 1978

Von solchen hochamtlich territorialen Aufstellungen ist dagegen der existenzielle Irrwitz weit entfernt, der sich zum Beispiel in der Taufe von Filkos Flucht-Škoda auf den Namen Liebe zur Ontologie zeigt. Auch bei den zwölf Thesen zu Biely priestor v bielom priestore von 1974 überspannen Filko, Laky und Zavarský den Bogen ihrer künstlerischen Metaphysik derart, dass ihre Behauptungslust ihren Thesen eine hyperbolische Fliehkraft gibt, die deren Ernst nicht mindert, aber deren Status in eine gewisse Schwebe versetzt: Welt ohne Grenzen erfahren! Hier und jetzt! Geht das? Wenn nicht, warum nicht? Wer hat was dagegen? Fragen wie diese bestimmen den Élan (das Moment) ihrer künstlerisch-politisch-spirituell-philosophischen Provokation.

Die Publikation White Space in White Space geht sehr weise mit der avantgardistischen Lust am Streit um. Weder feiert das Buch seine Protagonisten lediglich, noch schwört es die Deutungen ihrer Arbeit auf einen Konsens ein. Es breitet vielmehr detailreich die Materialien aus und rahmt sie mit präzisen Recherchen und vielgestaltigen Kommentaren. Es liefert Stoff für eine Debatte über die Notwendigkeit, die Vorzeichen künstlerischer Kritik (bezogen auf ihre Ausgangs- und Angriffspunkte) in ihrer Besonderheit zu begreifen: Die im New York der 1970er Jahre geborene Schule theoretisch versierter Kunstgeschichte bleibt dem Credo der angloamerikanischen Tradition insofern treu, als sie analytischen Materialismus zum Prüfstein dafür macht, welche Kunst ihr als kritisch gilt und welche nicht: solche, die Wirklichkeit auf spezifische Objekte, konkrete Konzepte und sachliche Informationen herunterstutzt, schon. Solche, die den Hang (der „alten Welt“) zum metaphysischen Ausgriff pflegt, auf keinen Fall.

An Orten, an denen der Staat den Materialismus zur Doktrin erhebt und im Namen des Realismus das Sagbare begrenzt und Reisepässe einbehält, stellt sich die Lage aber anders dar. Koller hat im Bratislava der 1970er Jahre für reduktionistische „Miniart“ [sic] eher Spott übrig. Filko, Laky und Zavarský erklären Metaphysik und Latexfarbe auf Leinwand zum Medium ihrer geistigen Revolte gegen die Staatsdoktrin. Diesen rabiaten Zug ins Metaphysische als Mittel der Kritik anzuerkennen, ist keine Glaubenssache. Es ist ein Eingeständnis des Umstands, dass die epistemischen Grundlagen dafür, welche Kunst wo, wann und wie eine kritische Schärfe erhält, weltweit verschieden sind und geschichtlich in Bewegung bleiben. Dafür bietet Biely priestor v bielom priestore ein starkes Beispiel.

Daniel Grúň/Christian Höller/Kathrin Rhomberg (Hg.), White Space in White Space/Biely priestor v bielom priestore, 1973–1982. Stano Filko, Miloš Laky, Ján Zavarský, Publications of the Kontakt Collection Volume II, SCHLEBRÜGGE.EDITOR, Wien 2021.

Jan Verwoert schreibt, lebt in Berlin und lehrt am Piet Zwart Institut in Rotterdam und an der Kunstakademie Oslo.

Image credit: 2. Richard Filko, Fotos: Štefan Tamáš; 3. Richard Filko