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Lee Lozanos Traum des Lebens von Branden W. Joseph

Für unsere kommende Ausgabe #111 haben wir Künstler/innen und Kunsthistoriker/innen gebeten, ihre Gedanken und Befürchtungen zur aktuellen politischen Lage in Amerika zu formulieren. In diesem Zusammenhang, zum fünfzigjährigen Jubiläum von 1968, lohnt es sich noch einmal einen Blick auf die Arbeit Lee Lozanos zu werfen, um zu hinterfragen, inwieweit sich die Verschränkungen von politischem Aktivismus und Kunstproduktion, von Kulturinstitutionen und Politik über die Jahre verändert hat.

Die US-amerikanische Künstlerin Lee Lozano zog sich Ende der 60er Jahre aus der New Yorker Kunstszene zurück. In ihrer Malerei, die auch auf der letzten documenta zu sehen war, übersetzte sie in einer zuerst comic-haft anmutenden Bildsprache feministische Themen um Sexualität und Herrschaft, die, gleichfalls beeinflusst von der Minimal Art, zu monochrom-abstrakten Formen führte.

Ihre Auffassung von Kunst beruhte auf der Überzeugung, dass sie nicht ohne alle anderen Bereiche des Lebens zu denken sei und dementsprechend auch Revolutionen nur ganzheitlich betrachtet werden können. Was heißt es vor diesem Hintergrund aber, wenn Lozano zu Protokoll gibt, träumen zu wollen statt zu arbeiten?

Im Zusammenhang mit der anhaltenden Rehabilitierung von Lee Lozano in der Kunstwelt sorgt ihre Aussage auf dem Open Hearing der Art Workers’ Coalition (awc) im Jahr 1969 immer noch für einige Verlegenheit. Die awc war im selben Jahr gegründet worden, um für Museumsreformen (u. a. im Hinblick auf den Mangel an Repräsentation von schwarzen und puerto-ricanischen Künstlern) sowie für größeren Einfluss von Künstlern und Künstlerinnen auf das Urheberrecht, das Ausstellungsprogramm und die Reproduktion von Werken zu demonstrieren – Fragen, die bald auch die Verbindungen der Museen (insbesondere ihrer Vorstandsmitglieder) mit einer den Krieg in Vietnam unterstützenden Politik mit einschlossen. Lozanos Erklärung wies entgegen dem allgemeinen Tenor beim Open Hearing offen und entschieden die Prämisse der Coalition zurück: Dass Kunst als ein semiautonomes Reich des sozialen Kampfes fungieren könne. Für mich“, begann sie ihre aus drei Sätzen bestehende Proklamation, die ebenso wegen ihrer Kürze wie wegen ihres Inhalts hervorstach, „kann es keine Kunstrevolution geben, die von einer wissenschaftlichen Revolution, einer politischen Revolution, einer Bildungsrevolution, einer Drogenrevolution, einer sexuellen Revolution oder einer privaten Revolution unterschieden wäre.“ Nachdem sie die Vorstellung zurückgewiesen hatte, Museumsreformen könnten von Reformen der Galerien und Zeitschriften getrennt werden (eine Überzeugung, die trotz des fast ausschließlichen Fokus der Gruppe auf das MoMA auch von einigen anderen Rednern auf der Versammlung geteilt wurde), schloss sie mit dem Bekenntnis: „Ich werde mich nicht als Kunstarbeiterin bezeichnen, sondern vielmehr als Kunstträumerin, und ich werde mich nur an einer totalen Revolution beteiligen, die gleichzeitig persönlich und gesellschaftlich ist.“ [1] Die größte Schwierigkeit für die kritische Beschäftigung mit Lozano besteht in ihrer Verwendung des Wortes „Träumerin“, eines Begriffs, der die rückschrittlichsten Tendenzen der Romantik des 19. Jahrhunderts aufruft. [2] Einem solchen Verständnis folgend, erscheinen Lozanos Kommentare merkwürdig aus der Zeit gefallen, als preise sie trotz eines Jahrzehnts künstlerischer Entwicklungen (nicht zuletzt die von Lozanos Konzeptualismus selbst) die traditionellsten Attribute künstlerischer Kreativität – Kunst als imaginärer Fluchtort vor den sozialen, politischen und ökonomischen Kämpfen der realen Welt“, in die sich die awc explizit einzumischen beabsichtigte. Lozanos totale Revolution“ scheint reiner Idealismus zu sein, irritierend, doch leicht abzutun.

Im Kontext des Open Hearings ist Lozanos Statement in der Tat ungewöhnlich, doch nicht unbedingt in der Weise, wie es bislang verstanden wurde. Bis heute wird dabei nämlich übersehen, in welchem Maße ihre Deklarationen die der radikalen, mit den Situationisten verbundenen Linken jener Zeit aufnehmen. Am 10. Oktober 1966, Jahre bevor die awc sich auf das MoMA einzuschießen begann, setzte das von den bildenden Künstlern Ron Hahne und Ben Morea gegründete New Yorker Kollektiv Black Mask – besser bekannt in seiner späteren Verkörperung als Up Against the Wall Motherfucker (bzw. The Motherfuckers) – die Schließung des Museums als Akt des Protests gegen dessen stillschweigende Unterstützung des Vietnamkriegs durch. Auf bei diesem Anlass verteilten Flugblättern wurde proklamiert: „Wir wollen eine totale Revolution, eine kulturelle wie soziale und politische – nehmt den kampf auf.“ [3] Im Laufe seines kurzen, aber lautstarken Bestehens vertrat das Kollektiv Black Mask stets die Position, dass (anti)ästhetische Aktion nur als Bestandteil einer Kampagne zur totalen Revolte gerechtfertigt sei: „Wir haben eine Kunst, die ein Ersatz für das Leben ist, eine Kultur, die eine Entschuldigung für die völlige Armut des Lebens ist. Der Aufruf zur Revolution kann nur ‚total‘ sein.“ [4] Black Mask lehnte insbesondere die Art institutioneller Identifikation ab, wegen der sich die awc veranlasst sah, ihr Vorbild in der Arbeiterbewegung zu finden, und wonach der Künstler im selben Verhältnis zum Museum stehe wie der Arbeiter zur Fabrik (oder der Student zur Universität). [5] In der Black Mask-Ausgabe vom Dezember 1966 erklärte Morea: „Zu lange schon haben wir zugeschaut, wie radikale Bewegungen durch erzwungene Spezialisierung geschwächt und schließlich zerstört wurden. Natürlich kann man nur innerhalb eines Feldes persönlicher Konfrontation agieren, sei es in der Fabrik, im Ghetto oder an der Universität, doch muss immer die innere Ausrichtung auf eine Totalität bestehen. Dass die Gewerkschaften sich ausschließlich mit Löhnen und Arbeitsbedingungen beschäftigt haben, hat ihre ursprüngliche Radikalität geschwächt.“ [6] Als das politische Subjekt, das gegen solchen fraktionalisierten Reformismus auftreten konnte, positionierte die Rhetorik von Black Mask den Menschen als Ganzes, der nach der Selbstorganisation seines Lebens trachte: „Leben, nicht Überleben – Selbstverwaltung, nicht Unterwerfung muss das Ziel sein, sonst kann es keine Revolution geben.“ [7]

Als Schüler der historischen Avantgarde-Bewegungen von Konstruktivismus und Dada brachten Hahne, Morea und ihre Verbündeten im Kampf gegen die Entfremdung der „Kunst“ (als getrennter kultureller Sphäre) und die Institutionalisierung des Museums das „Leben“ in Stellung. Als integrale kreative Kraft gesehen stand das Leben nicht nur der Kunst (als „falscher Begriff“) gegenüber, sondern auch Arbeit, Bildung und – im Anschluss an die Situationisten – der Stadtplanung. Mithilfe einer wahrhaft lebendigen Kultur, so erklärte der Leitartikel in der ersten Ausgabe von Black Mask, „können wir die verdummenden Klassenzimmer, die unmenschliche Stadt, den Begriff der unnötigen Arbeit sowie alles andere ändern, wodurch das Leben unterdrückt wird, anstatt ihm seine volle Entfaltung zu ermöglichen“. [8] Der Begriff des Lebens in seiner Totalität, der künstlichen Trennungen per se entgegengesetzt war, diente als Schlüssel für die Vorstellung von einer totalen Revolution; es handelte sich dabei allerdings nicht bloß um eine Idealisierung, um einen leeren und mithin leicht aufzuwertenden Begriff. Leben war vielmehr genau als der Ort und das Kampfgebiet bestimmt, auf dem sowohl Repression (die Kolonisierung des Lebens“) als auch Widerstand ausgetragen wurden. [9] Wie in Black Mask Nummer 9 in einer Rhetorik erklärt wird, die heutige post-situationistische und post-autonomistische Theorien vorwegnimmt: Der Kampf gegen diese Verhältnisse muss total sein, weil die Armut, die wir bekämpfen, total ist: Es ist die repressive Struktur des Lebens in seiner Gesamtheit, die uns der Möglichkeit beraubt, vollständig menschlich zu sein. Und wenn das Leben in seiner Gesamtheit (buchstäblich der Planet und die Spezies) von einer allumfassenden, auf dem Tod basierenden Kultur unterworfen wird, dann können wir nur diejenigen Kämpfe ‚revolutionär‘ nennen, welche die Revolution in ihrer Totalität anstreben: die Schaffung eines neuen Lebens in einer neuen Umwelt, die wir selbst herstellen müssen.“ [10]

Lee Lozano, ohne Titel, 1969.

Black Mask wies bereits auf den doppelten Aspekt dessen hin, was Michel Foucault später als das zeitgenössische Machtregime beschrieb: die biopolitische“ Regulierung von Bevölkerungen auf der einen Seite, die anatomopolitische“ Disziplinierung des individuellen Körpers auf der anderen. [11] Dabei kennzeichnete Black Mask das Leben ausdrücklich als Arena für den Kampf an beiden Fronten. Auch wenn sie wiederholt den Genozid in Vietnam und die Bürgerrechtskämpfe von Afroamerikanern, Amerikanern puerto-ricanischer Herkunft und den Ureinwohnern Amerikas anführten (Gibt es ein schlimmeres rassistisches Verbrechen“, fragen sie angesichts der Verhältnisse, denen sich Letztere gegenübersahen, als der Diebstahl des Lebens selbst?“), beschäftigte sich der Großteil der produktivsten Erklärungen der Gruppe jedoch mit der mikropolitischen Besetzung und Unterdrückung der individuellen, psychobiologischen Lebensform. [12] Gemessen am Quantum von Tinte und Analyse, das die Gruppe für den Versuch aufbrachte, das anzugreifen, was sie als konterrevolutionäre „bürgerliche Persönlichkeitsstruktur“ ausmachte, wie sie sich durch die aktuellen Bedürfnisse des Lebens und in ihrer täglichen Existenz“ äußere, spielte er für sie tatsächlich eine weitaus wichtigere Rolle als ihre Proteste gegen das MoMA oder die Wall Street. [13] Im Rekurs auf Quellen, die neben der historischen Avantgarde Bertrand Russells moralische Appelle an die Menschlichkeit“, Sigmund Freuds und (insbesondere) Wilhelm Reichs Theorien der Sexualität sowie zeitgenössische Erfahrungen mit psychedelischen Drogen umfassten, betrachtete Black Mask den Körper nicht primär als einen Ort des befreiten Begehrens, sondern stets als zutiefst in denselben Komplex von Macht-Wissen verstrickt, der ihn unterdrückte. Für Black Mask war die Avantgarde-Ästhetik in der Tat untrennbar mit einem solchen Einsatz verbunden: „Der revolutionäre Trieb des kreativen Menschen“, stellte Morea in der zweiten Black Mask-Ausgabe fest, war stets ein Teil seines Verlangens nach einem tieferen Verständnis des Lebens und der Kräfte, die es bestimmen.“ [14] Das Projekt und Programm bestand daher in der „direkten“ und „konzentrierten“ „Veränderung“ der „negativen Kräfte“, die den Körper besetzen. [15] Im Jahr 1968 wird dies in Black Mask erläutert: [W]ir müssen unseren Weg zurück zum Körper finden; die Sprache muss gezwungen werden, sich selbst zu zerstören; wir müssen einen Weg finden, unser Gefühl des Körpers zu kommunizieren und dabei all jene wissenschaftlichen und historischen Kategorien zu unterlaufen, die bisher bloß Komplizen der Unterdrückung waren. Genauer, wir müssen uns der Bedeutung wissenschaftlicher Beschreibung bewusst werden. Sie ist nur insofern gültig, als wir versklavt sind; sie ist es, weil wir es nicht sind. Sobald wir dies verstehen, sind wir bereits in der Lage, unsere Körper aus dem Griff der bürgerlichen Ordnung zurückzugewinnen. Aber als Bedingung für diese Zurückgewinnung bedarf es der Entwicklung einer sexuell-revolutionären Bewegung gegen die Routine und die Ordnung des bürgerlichen ‚Lebens‘. Die Bedingung für die Befreiung – in der Gegenwart – ist die soziale Anerkennung des Lebens.“ [16]

Körper, Sprache, Wissenschaft, Sex: All diese Themen waren für Lozano von wesentlicher Bedeutung. Und ihr Statement gegenüber der awc wird genau dann lesbarer, wenn man es vor dem Hintergrund der Rhetorik zeitgenössischer radikaler Gruppen wie Black Mask betrachtet. Ihr Bekenntnis zur „totalen Revolution“ und die scharfe Zurückweisung sowohl der Identifikation der Coalition mit Arbeit wie deren Vorstellung von der Revolution als einer Reihe unabhängiger institutioneller Kämpfe (Arbeiter gegen Fabriken, Studenten gegen Universitäten, Künstler gegen Museen) schließen an die Positionen von Black Mask an. Angesichts der Ubiquität solcher Rhetorik im Jahr 1969, insbesondere in der Kiffer“-Gemeinschaft von Drogennutzern, zu der Lozano gehörte, muss sie Black Mask (oder einer verwandten Gruppe) nicht unbedingt persönlich begegnet sein. [17] Und dennoch, so ist zu bemerken, waren sie als The Motherfuckers (die weiterhin zur totalen Revolution aufriefen und das Leben als (bio)politische Kategorie beschrieben) beim Open Hearing von awc nicht abwesend; sie wurden vom Künstler und Dichter Farman erwähnt, und der Maler (und Lozano-Vertraute) David Lee zitierte sie ausführlich. [18]

Für Black Mask und The Motherfuckers bedeutete Leben direkte Aktion, was sich in ihrem berüchtigten Faible für gewaltsame Konfrontation, Straßenschlachten, Kampfkunst, Waffensport und Aufruhr niederschlug. [19] Obwohl Lozano gegen ähnlich problematische aufwieglerische Rhetorik nicht immun war (Kunstschweine flüchten aus Angst vor New Yorker Revolution“), hielt ihr Projekt sich viel enger an die Untersuchung „des Lebens und der Kräfte, die es bestimmen“, wie sie Morea der Avantgarde zugeschrieben hatte. [20] Ob sie sich mit Wahrnehmung, Verhalten, Kommunikation, Sex, Ernährung, Geldaustausch oder Wachen und Schlafen beschäftigen, versuchten Lozanos Arbeiten – wie etwa „Grass Piece“ (1969; Den ganzen Tag high bleiben, jeden Tag. Schauen, was passiert.“), No Grass Piece“ (1969), Masturbation Piece“ (1969), Real Money Piece“ (1969), Dialogue Piece“ (1969),„No-Info Piece“ (1969; „Dabei würde ich hier so lange in einsamer Abgeschlossenheit leben, wie ich es aushalten kann.“), Diminished Consumption“(1970; [verminderter Konsum] von Kalorien, Zigaretten, Drogen; von Freude, Energie (wie Tanzen), Emotionen, Intensität“) und andere – die intimsten Rhythmen und habituellen Formen des täglichen Lebens zu untersuchen, zu regulieren und letztlich zu transformieren, oftmals auf einer tiefgreifend körperlichen Ebene. [21] Im Gegensatz zu Lozanos frühen Gemälden, die in Bezug auf die anarchische Befreiung polymorpher Sexualität diskutiert worden sind, ist ihr konzeptuelles Werk stets mit intensiven selbstdisziplinierenden Erforschungen mitsamt Diagrammen, Zeitleisten und anderen ähnlich akkuraten Formen der Dokumentation verbunden. Wie Dan Graham über Lozano schrieb, werden alle persönlichen Reaktionen (auch jene von externen Beobachtern, die der Künstlerin zugetragen werden) von der Künstlerin so wissenschaftlich wie möglich aufgezeichnet und später zur Grundlage ihrer Reihen von Erfahrungs-Arbeiten gemacht“. [22]

Lee Lozano, 1971

In schriftlicher Form dienen Lozanos‚Lebens-Kunst‘-Werke“(Life-Art‘ pieces“) gleichzeitig als Mittel für und als Aufzeichnung von psychophysiologischen Transformationen, wie sie die Vehikel ihrer Verbreitung für eine größere Öffentlichkeit sind. [23] Diese konzeptuellen Arbeiten, weit davon entfernt, hauptsächlich als Beispiele für Lucy Lippards bekannte, gegen die Warenförmigkeit gerichtete„Dematerialisierung des Kunstobjekts“ gesehen zu werden (auch wenn sie für Lozano diese Rolle gleichfalls erfüllten), könnten angemessener als symptomatische Nachbildungen des geschriebenen Ektoplasmas“ betrachtet werden, das jeden Körper innerhalb des anatomopolitischen Regimes begleitet. [24] Lozanos eigentümliche Übungen der Selbstbeobachtung und -regulierung wurden jedoch im Sinne eines Gegen-Verhaltens“ durchgeführt, das der herrschenden disziplinierenden Ordnung und der konterrevolutionären Persönlichkeitsstruktur“ entgegengesetzt war, die Black Mask zufolge zwischen individueller und sozialer Unterdrückung vermittelte. [25] Wie Lozano 1969 schrieb: Der einzige Kampf ist der ‚Kampf gegen meine Programmierung‘, das heißt, es ist die einzige Form des Kampfes, die ich ‚billige‘.“ [26] Lozanos Politik, ihre totale Revolution, sollte auf der Ebene des Körperlichen, des Anatomopolitischen stattfinden, dort, wo sich das Private und das Öffentliche überlagern (irgendwo zwischen dem Slogan „Das Persönliche ist das Politische“ des Feminismus, den sich Lozano nie zu eigen gemacht hat, und der Therapeutik des New Age, dem sie sich bisweilen unbehaglich annäherte). [27] Für Foucault war Gegen-Verhalten ein Versuch – so alt wie die Entwicklung der Disziplin selbst –, „der Verhaltensführung der anderen, die danach streben, für jedermann die Art und Weise des Verhaltens zu definieren, zu entgehen“. [28]

Lozano hat es bündiger formuliert: Mehr & mehr Freiheiten sind von der Menschheit zu erfinden […] Wir müssen neue Freiheiten erfinden.“ [29] Um 1968 veröffentlichten The Motherfuckers ein Flugblatt mit der Überschrift Revolution in Dreams“, in dem das Leben sowohl als Ort der Unterdrückung (unterdrücktes Leben als die Erfahrung des täglichen Lebens“) wie als Stätte potenzieller Freiheit bestimmt wurde: Der Bossmann (No-Balls/man) sieht die Bedrohung durch die Straßennutte, die ‚seine‘ Jugend von der programmierten Möglichkeit ihrer Existenz zu der einzig wahren Möglichkeit der Existenz lockt – die den Arbeitersohn vom Fabrikrauch zum Rauch brennender Fabriken lockt – und nun ist es für alle möglich, zu ‚leben‘.“ [30]

Im Jahr 1969, einige Monate nach dem awc-Treffen, dachte Lozano darüber nach, die Kennzeichnung für ihre konzeptuelle Arbeit zu ändern. Sie hatte bereits erwogen, ihre „Arbeiten“ (pieces“) fortan als ­„Untersuchungen“ (investigations“) zu bezeichnen, mit einem Begriff also, der den Macht-Wissen-Komplex betont hätte, in dem sie operierten. Nun zog sie ungewöhnlichere Benennungen in Betracht, u. a. den Ausdruck, der noch immer die Rezeption ihres Statements beim Open Hearing plagt:„Überlege, statt des Wortes Arbeit das Wort Traum oder Fantasie zu verwenden, oder finde ein besseres Wort. Reverie? Vorstellung? Phantasie? Einbildung? Fantasie? Kaprice? Traum?“ [31] Wenn für Lozano der Traum“ als gültiges Synonym für die antihegemonialen Verhaltensuntersuchungen ihrer „‚Lebens-Kunst‘-Werke“ dienen konnte, dann mag ihre „Kunstträumerin“ letztlich weniger als Idealistin oder Romantikerin denn als Partisanin in aktuellen anatomopolitischen Kämpfen gedacht gewesen sein.

Übersetzung: Robert Schlicht

Titelbild: Black Mask“-Protest, New York, 1967

Anmerkungen

[1]Art Workers’ Coalition, An Open Hearing on the Subject. What Should Be the Program of the Art Workers Regarding Museum Reform and to Establish the Program of an Open Art Workers’ Coalition, New York 1969, S. 92.
[2]Anerkennend wird die Beziehung zur Romantik hervorgehoben in: Ben Kinmont, Project Series. Lee Lozano, New York 1998, S. 5.
[3]Zitiert in Black Mask 1, November 1966, in: Ron Hahne/Ben Morea/The Black Mask Group, Black Mask and Up Against the Wall Motherfucker, London 1993, S. 7.
[4]Black Mask 7, August/September 1967, in: Hahne et al., a. a. O., S. 43.
[5]Eine Darstellung der wechselhaften Beziehungen zwischen Mitgliedern der AWC und der Arbeiter- und Studentenbewegung bietet Julia-Bryan Wilson, Art Workers. Radical Practice in the Vietnam War Era, Berkeley 2009.
[6]BM [Ben Morea], „The Total Revolution“, Black Mask 2, Dezember 1966, in: Hahne et al., a. a. O., S. 13.
[7]Carol Verlaan, „Revolution or Its Abortion?“, Black Mask 7, August/September 1967, in: Hahne et al., a. a. O., S. 45.
[8]FF, „Let the Struggle Begin“, Black Mask 1, November 1966, in: Hahne et al., a. a. O., S. 9.
[9]BM [Ben Morea], „Demonstrations. A Theory of Practice and a Practice of Theory“, Black Mask 9, Januar/Februar 1968, in: Hahne et al., a. a. O., S. 58.
[10]The Totalist, „Fragments of Revolutionary Totality“, Black Mask 9, Januar/Februar 1968, in: Hahne et al., a. a. O., S. 62. Man vergleiche z. B. die Diskussionen der „Lebensformen“, die sich durch die Werke von Giorgio Agamben, Michael Hardt und Antonio Negri, Paolo Virno sowie The Invisible Committee ziehen.
[11]Vgl. Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt/M. 1983, S. 166.
[12]The Survival of the American Indians Association, „‚Hell No‘. Native American Appeal“, Black Mask 5, April 1967, in: Hahne et al., a. a. O., S. 35.
[13]PM, „Revolution and Psychoanalysis and Revolution [sic]“, Black Mask 9, Januar/Februar 1968, in: Hahne et al., a. a. O., S. 59f.
[14]Morea, „The Total Revolution“, a. a. O., S. 13f.
[15]Ebd., S. 14.
[16]JPM, „Revolution and Psychoanalysis“, a. a. O., S. 61.
[17]Eine ähnliche Rhetorik lässt sich in John Sinclairs Gefängnisschriften aus dieser Zeit finden. Vgl. z. B. John Sinclair, Guitar Army. Rock and Revolution with MC5 and The White Panther Party [1972], Los Angeles 2007, S. 232.
[18]Art Workers’ Coalition, An Open Hearing, a. a. O., S. 23 und 41. David Lee taucht in Lee Lozanos „Real Money Piece“ und „Dialogue Piece“ (beide 1969) auf.
[19]Eine besonders anerkennende, wenn nicht unkritische Darstellung dieser Position findet sich in „Blast from the Past. Black Mask and Up Against the Wall Motherfucker“, Fire to the Prisons. An Insurrectionary Quarterly 8, Winter 2010, S. 28–35; online unter http://zinelibrary.info/files/firetotheprisons8.pdf (letzter Zugriff 3. Juli 2010).
[20]Lee Lozano, privates Notizbuch (unveröffentlicht), Nr. 8, S. 68 (Notiz datiert vom 22. März 1970). Mein Dank gilt Barry Rosen und Jaap Van Liere für den Zugang zu den Materialien in Lee Lozanos Archiv; ohne sie wären dieser Aufsatz sowie das größere Buchprojekt, dessen Teil er ist, nicht möglich gewesen.
[21]Die Mehrzahl von Lozanos konzeptuellen Arbeiten findet sich in Lee Lozano, Notebooks, 1967–70, New York 2009. Die weniger bekannten Konzepte für „No-Info Piece“ und „Diminished Consumption“ stammen aus Lozanos privaten Notizbüchern (unveröffentlicht), Nr. 2, S. 99, sowie Nr. 8, S. 120.
[22]Dan Graham, „Subject Matter“ [1969], in: ders., Rock My Religion. Writings and Art Projects, 1965–1990, Cambridge, Mass. 1993, S. 45.
[23]Lozanos Kennzeichnung ihrer Arbeit als „‚Life-Art‘ pieces“ findet sich in ihrem privaten Notizbuch (unveröffentlicht), Nr. 1, o. S. (Notiz datiert vom Mai 1969).
[24]Michel Foucault, Die Macht der Psychiatrie. Vorlesungen am Collège de France (1973–1974), Frankfurt/M. 2005, S. 119.
[25]Michel Foucault, Geschichte der Gouvernementalität 1. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesungen am Collège de France (1977–1978), Frankfurt/M. 2004, S. 292.
[26]Lozano, privates Notizbuch (unveröffentlicht), Nr. 4, S. 62 (Notiz datiert ca. November 1969)
[27]Darstellungen von Lozanos Beziehung zur Unterscheidung des Privaten und des Öffentlichen im Zusammenhang mit ihrem problematischen Verhältnis zum Feminismus in Helen Molesworth, „Tune In, Turn On, Drop Out. The Rejection of Lee Lozano“, in: Art Journal 61, Nr. 4, Winter 2002, S. 64–71, sowie Johanna Burton, „The New Honesty. The Life-Work and Work-Life of Lee Lozano“, in: Helen Molesworth (Hg.), Solitaire. Lee Lozano, Sylvia Plimack Mangold, Joan Semmel, New Haven 2008, S. 17–38.
[28]Foucault, Geschichte der Gouvernementalität, a. a. O., S. 282.
[29]Lozano, privates Notizbuch (unveröffentlicht), Nr. 7, S. 120.
[30]Up Against the Wall Motherfucker, „Revolution in Dreams“, in: Hahne et al., a. a. O., S. 127.
[31]Lozano, privates Notizbuch (unveröffentlicht), Nr. 4, S. 47–47A (Notizen datiert vom 1. Oktober 1969).