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BILDUNG ZWISCHEN BATTLEFIELD UND SPIELPLATZ? Marietta Kesting über „Bildungsschock: Lernen, Politik und Architektur in den 1960er und 1970er Jahren“ im Haus der Kulturen der Welt, Berlin

„Bildungsschock. Lernen, Politik und Architektur in den 1960er und 1970er Jahren“, Haus der Kulturen der Welt, Berlin, 2021, Ausstellungsansicht

„Bildungsschock. Lernen, Politik und Architektur in den 1960er und 1970er Jahren“, Haus der Kulturen der Welt, Berlin, 2021, Ausstellungsansicht

Räume des Lernens. Die kürzlich im Berliner Haus der Kulturen der Welt zu Ende gegangene Ausstellung „Bildungsschock: Lernen, Politik und Architektur in den 1960er und 1970er Jahren“ war ein Gemeinschaftsprojekt von Kurator Tom Holert mit verschiedenen Künstler*innen, Wissenschaftler*innen und Architekt*innen. Die im Titel angesprochenen 1960er und 1970er Jahre stellten den zeitlichen Rahmen dar, der hier als Ausgangpunkt für aktuelle Debatten rund um das Thema Bildung diente. Umso dringlicher erscheint diese Anschlussfähigkeit an die Gegenwart unter dem Eindruck einer Pandemie, die nicht nur infrastrukturelle Lücken im Bildungssektor sichtbar werden lässt, sondern auch dafür sorgt, dass reformpädagogische Ideen einmal mehr im Modus der Krise, der Katastrophe und des Mangels diskutiert werden, wie die Medien- und Kulturwissenschaftlerin Marietta Kesting argumentiert.

Beim Betreten der von Tom Holert kuratierten Ausstellung „Bildungsschock: Lernen, Politik und Architektur in den 1960er und 1970er Jahren“ im Berliner Haus der Kulturen der Welt fand sich die Besucherin in einer halbdunklen Archiv-Atmosphäre zum Studieren und Betrachten eingeladen, aber auch zu einer Zeitreise bis weit zurück in ihre eigene Grundschulzeit. Eine rudimentäre Rutsche samt Klettergerüst war aufgebaut, lud aber durch ihre metallene Kühle nicht zum Spielen ein. Die eigens für die Ausstellung hergestellten Betonelemente dienten sowohl als Sitzmöbel wie auch als Unterlage für Glasvitrinen und Exponate. Farblich dominierten Betongrau, Braun und Orange; die Möbel und Teppiche waren im Design der 1970er Jahre gehalten.

Obwohl Bildung meist positiv konnotiert ist – sei es im Sinne emanzipativer Prozesse, sei es als Grundlage für ökonomische Erfolge –, hat die an Schulen vermittelte Bildung politisch und gesellschaftlich keine hohe Priorität. Dies zeigt sich nun insbesondere in der Corona-Pandemie, in der Lehrer*innen und Schüler*innen vielfach ohne funktionierende digitale Infrastruktur ins Homeschooling geschickt wurden. Wenn Schule und Formate des Unterrichtens denn mal ins politische Blickfeld geraten, geschieht dies gerade in Deutschland gern im Modus der Krise, der Katastrophe und des Mangels – ob 2001 bei PISA oder aktuell in der Misere des digital gestützten Distanzunterrichts, bei dem regelmäßig Schul-Server zusammenbrechen und die Interaktion in der Lehrsituation (selbst wenn die Software stabil läuft) stark eingeschränkt ist. Warum ist es so schwierig, sich stattdessen Bildungserfolge, Utopien und andere positive Aspekte der schulischen Bildung vorzustellen? Wieso scheint immer zu wenig von der Bildung da zu sein, obwohl es eigentlich mehr technische und mediale Mittel gibt, um sie auf vielfältige Art und Weise umzusetzen?

Die HKW-Ausstellung nahm den Sputnik-Schock nach dem für den Westen überraschenden Erfolg der ersten sowjetischen Satellitenmission im Weltraum 1957 zum Ausgangspunkt für eine reiche Recherche über reformpädagogische Ansätze und Versuche, die Räume des Lernens neu zu denken. Beim Sputnik-Schock ging es hauptsächlich um einen Rückstand in den Naturwissenschaften, initiiert durch den westlichen Rückschlag bei der „Eroberung“ des Weltraums. Die Ausstellung und die darin präsentierten Ideen der 1960er und 1970er Jahre gingen aber weit darüber hinaus. Dennoch blieben der Kalte Krieg und die Unterschiede zwischen sozialistisch-kommunistischen und westlichen Bildungssystemen bis heute bildungspolitisch relevante Fixpunkte.

So erinnerte z. B. eine Poster-Recherche der Urbanismusforscherin Elke Beyer an die „Bildungsexporte“ der Sowjetunion (1962–1979), die Uni-Campus in Äthiopien, Myanmar, Burma, Kabul, Afghanistan und Guinea finanzierte. Weitere Arbeiten gaben kurze Einblicke – zumeist visuell und textbasiert, über Fotos, Interviews und Auszüge aus historischen Zeitschriften – in Bildungsarchitekturen und -perioden in Ländern wie dem Iran, der Sowjetunion, Kuba, Guinea-Bissau, den USA und Kanada. Dabei wurden die globalen Bezüge zwischen diesen politisch, sozial und kulturell unterschiedlichen Schul-Geschichten teilweise zu wenig kontextualisiert, was bei der Vielzahl zusammengetragener Recherchematerialien und individueller Fallstudien jedoch auch kaum leistbar scheint.

Filipa César, Sónia Vaz Borges, „Skola di Tarafe“, 2020, Filmstill

Filipa César, Sónia Vaz Borges, „Skola di Tarafe“, 2020, Filmstill

Im historischen Rückblick diagnostizierte die Ausstellung die spezielle Beziehung zwischen Architektur und möglichen Formen des Unterrichtens und Lehrens. Wie sind beispielsweise die jeweiligen Lerngruppen untergebracht? Gibt es größere Gemeinschaftsräume, die unterschiedlich genutzt werden können, z. B. auch für klassenübergreifende Begegnungen? Wie und wo sitzen die Schüler*innen – einzeln an einem Stuhl mit integriertem Klapptisch (wie häufig in den USA und seit Covid-19 auch anderswo) oder in Kleingruppen? Überhaupt: Sitzen sie an Tischen und Stühlen oder am Boden bzw. auf mobilen Elementen? Wie frei können die Schüler*innen sich bewegen?

Die Ausstellung kam trotz mehrfacher Verschiebungen aufgrund der Covid-19-Pandemie genau zur richtigen Zeit; lassen sich doch gerade jetzt viele Parallelen zwischen den Bildungs- und Schulproblemen der 1960er und 1970er Jahre und denen der Gegenwart erkennen. Neben den thematisch angeordneten Film- und Hörstationen wurden auch so kleinteilige Dinge wie thematisch gestaltete Briefmarken von Äthiopien bis Vietnam des 1970 von der UNESCO ausgerufenen Jahres der internationalen Bildung gezeigt. Die Briefmarken stellen den damaligen universalistischen Anspruch eines international einheitlichen Bildungsstandards dar und scheinen stellvertretend eine Reihe obsoleter Medientechniken aufzurufen, die früher im Unterricht eingesetzt wurden: darunter die Fotokopie, die Chemikalien ausdünstende Matrize oder der Tageslichtschreiber mit Folien.

Ohnehin war die Ausstellung sehr materialreich. Allein für die zahllosen Reportagen und Interviews aus den TV-Archiven der BRD (u. a. über die Integration von Migrant*innen oder die Lohnarbeit von Frauen und Müttern [1]) wie für die Videodokumentation von künstlerischen Projekten mit Berliner Schüler*innen lohnte es sich, viel Zeit mitzubringen. Gemeinsam mit der Künstlerin Cana Bilir-Meier und der Bildungsforscherin Caroline Assad fertigten sie ein Manifest für ein besseres Lernumfeld an, in dem sie u. a. fordern: „21. Jahrhundert, jetzt! […] Bessere Computerräume, (stabiles) WLAN, Smartboards, Tablets! Handys gehören zum Alltag. Deshalb fordern wir eine Handy-Stunde! VR-Brillen und ein Schul-Roboter wären auch nicht schlecht.“ [2]

Im Arsenal-Kino wurde ergänzend zu der Ausstellung ein kuratiertes Filmprogramm mit Spiel- und Dokumentarfilmen gezeigt, in dem die bildungspolitischen Themen der Ausstellung nicht nur filmisch verhandelt wurden, sondern auch in angrenzende Themenbereiche wie Stadtpolitik, Exklusion, Klassengesellschaft und Migration ausstrahlten, wobei Schüler*innen zu Akteur*innen werden konnten. In Un film dramatique von Eric Baudelaire (2019) etwa nahmen Schüler*innen aus Pariser Banlieus die Kameras selbst in die Hand und mit nach Hause, wodurch ein Reflexionsprozess über ihr Umfeld, aber auch ganz allgemein über das Machen von filmischen Bildern in Gang gesetzt wurde.

Die Videoinstallation mit gleichnamigem Begleitheft Kein schöner Archiv: Der Klassenkampf (2021) von Michael Annoff und Nuray Demir erzählt dreisprachig die Geschichte mehrerer Schüler*innen ohne deutsche Staatsbürgerschaft Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre. Zuerst wurden sie in sogenannten Ausländerregelklassen segregiert und separat beschult. Das Kriterium der Staatsbürgerschaft wurde seit Mitte der 1990er Jahre durch die Einstufung je nach Sprachkompetenz ersetzt. Anders, aber in Teilen durchaus vergleichbar mit dem Widerstand gegen die Desegregation des Schulsystems in den USA, haben

„weißdeutsche bürgerliche Eltern immer wieder aktiv daran gearbeitet, dass ihre Kinder unter sich bleiben. […] Besonders in Berlin werden strukturelle Ausschlüsse durch alltägliche Praktiken der Segregation verstärkt: Die deutsche weiße Mittelschicht verfügt über ein komplexes Repertoire urbaner Praktiken, um unter sich zu bleiben: Umzug oder Ummeldung in wohlhabendere Schulbezirke, offensive Gruppenanmeldungen der Kinder aus den eigenen Netzwerken und tägliche Fahrdienste zur Wunschschule am anderen Ende der Stadt.“ [3]

Annof und Demir thematisieren hier außerdem die Schwierigkeit, an migrantischen Widerstand gegen die deutsche Bildungsdominanzkultur zu erinnern, da sich in den Archiven vor allem Bilder, Erzählungen und Rechtfertigungen der Mehrheitsgesellschaft finden lassen. In diese kanonische Geschichte versuchten Michael Annoff und Nuray Demir die Ausstellung auch an anderen Stellen zu intervenieren, etwa indem sie historische Fotos des sogenannten busing in den USA zugänglich machten, jener antisegregationistischen Praxis des Beförderns von weißen und Kindern of Color in öffentlichen Schulbussen.

„Bildungsschock. Lernen, Politik und Architektur in den 1960er und 1970er Jahren“, Haus der Kulturen der Welt, Berlin, 2021, Ausstellungsansicht

„Bildungsschock. Lernen, Politik und Architektur in den 1960er und 1970er Jahren“, Haus der Kulturen der Welt, Berlin, 2021, Ausstellungsansicht

Als Anekdote zum Bildungsversprechen der sozialistischen UdSSR wird oft die Biografie Juri Gargarins erzählt, des ersten Kosmonauten, der in einer Kolchose in eine Bauernfamilie geboren wurde und zunächst Gießereitechnik gelernt hatte. Die Ungerechtigkeit des (west-)deutschen Schulsystems ließ sich wiederum prototypisch an der Lebensgeschichte des BioNtech-Impfstoff-Entwicklers und Spitzenforschers Uğur Şahin festmachen, der als Jugendlicher in Westdeutschland die Empfehlung bekam, auf eine Hauptschule zu gehen, und nur durch das Insistieren eines deutschen Nachbars dann schließlich aufs Gymnasium kam. [4]

Etwas zu kurz kam in der Ausstellung der Link zur Gegenwart und ihrer aktuellen Frontenbildung zwischen Präsenzlehre und Onlineunterricht – gleichzeitig Echos früherer Kämpfe um das Recht auf Homeschooling [5], Privatisierung von Bildung sowie gegen die Unterfinanzierung öffentlicher Schulen. Insgesamt fehlte die Perspektive von Lehrer*innen, stattdessen dominierten Aussagen von Architekt*innen, Schul-Reformer*innen oder Bildungsexpert*innen. Auch die Frage der Kommunikation ging zum Teil unter, wenn beispielsweise nur von den Idealvorstellungen der Schuldesigner*innen ausgegangen wurde, obwohl für viele vielleicht gerade der Schulhof mit Aktivitäten wie „Pausendisko“, egal ob zubetoniert oder bepflanzt, ein formativer Teil der Schulzeit war und ist.

Der erdrückenden Erkenntnis nach dem Besuch von „Bildungsschock“, wie wenig sich geändert hat, steht der ermutigende Impuls der Ausstellung gegenüber, sich genauer mit reformpädagogischen Ideen zu beschäftigen und so eine Bestandsaufnahme dessen zu leisten, was es schon gab, was funktioniert hat und was nicht. Doch warum sind deutsche Schulen meistens keine Bildungspaläste, die man gerne besucht? Und warum muss die Schule erst ins Kunstfeld transferiert werden, damit wir uns für sie interessieren?

Es gab lange Zeit relativ wenig Künstler*innen, die sich explizit mit dem Thema Bildung beschäftigten, von Mike Kelleys Educational Complex oder Jef Geys’ künstlerisch-pädagogischer Praxis einmal abgesehen. Heute dagegen sind es einige, die das Feld zwischen Kunst, Pädagogik und Vermittlungsprozessen vermessen, wie etwa die aktuelle Ausstellung von Maximiliane Baumgartner „Auf Fassaden schauen oder Die vierte Wand der dritten Pädagogin“ im Kunstverein München beweist. Die Eindrücke von „Bildungsschock“ werden so andernorts wieder aufgenommen und können jenseits des Krisenmodus eine Wahrnehmung – aisthesis eben auch verstanden als Teil der Didaktik – in der Diskussion um Verbindungslinien zwischen Lernen, gesellschaftlichen Räumen und Kunst etablieren.

„Bildungsschock: Lernen, Politik und Architektur in den 1960er und 1970er Jahren“, Haus der Kulturen der Welt, Berlin, 27. Mai bis 11. Juli 2021.

„Auf Fassaden schauen oder die vierte Wand der dritten Pädagogin“, Kunstverein München, 26. Juni bis 20. August 2021.

Marietta Kesting ist Medien- und Kulturwissenschaftlerin und Juniorprofessorin an der Akademie der Bildenden Künste München.

Image credit: 1. & 3. Silke Briel / HKW; 2. Courtesy Filipa César, Sónia Vaz Borges

Anmerkungen

[1]So durfte etwa eine Frau in Westdeutschland noch bis 1977 nur dann berufstätig sein, wenn ihre Tätigkeit mit ihren „Pflichten in Ehe und Familie“ vereinbar war.
[2]Hergestellt im Zuge des Schulprojektes „Bildung in Beton“ 2020/2021) und im Rahmen des HKW-Langzeitprojekts „Das Neue Alphabet“, das gesamte Manifest ist abrufbar unter: hkw.de/bildunginbeton, zuletzt gesehen am 24.7.2021.
[3]Michael Annoff/Nuray Demir, Kein schöner Archiv, 2021, o. S.
[4]Siehe z. B. https://www.migazin.de/2021/03/01/biontech-gruender-grosses-verdienstkreuz-stern/, zuletzt gesehen am 19.7.2021. Uğur Şahin und Özlem Türeci entwickelten gemeinsam den BioNtech-Impfstoff gegen Covid-19. Sie sind verheiratet.
[5]So ist es beispielsweise Eltern in den USA möglich, ihre Kinder zu Hause zu beschulen. Dieses Recht wurde von konservativen christlichen Gruppen wie den Amish People in den 1970er Jahren erstritten. In Deutschland herrscht hingegen die allgemeine Schulpflicht, vor der Corona-Pandemie war Homeschooling z. B. aus religiösen Gründen explizit verboten.