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Relativ unfassbar für eine Entmystifizierung von Sound

Der Begriff „Sound“ ist notorisch unscharf, denn er lässt sich im Sinne von „Geräusch“, „Klang“, „Stimmung“ aber auch Stilbegriff verstehen. Diese Unklarheit lädt unter Umständen zu emotionalen Vereinnahmungen und eilfertigen Dichotomien von „echt“ und „falsch“, „authentisch“ oder „künstlich“ ein. Vor allem dann, wenn auf der Rezipientenseite Wirkungen der Soundquelle objektiviert werden sollen. Auch wenn die Nachbarschaft zu metaphysischen Vereinfachungen diese Beschreibungen riskant macht, zeigen Konzepte wie Walter Benjamins „Aura“-Begriff oder Hans-Ulrich Gumbrechts „Präsenz“, dass physikalisch subjektives Erleben von Sound und Sound-Theorie einander nicht ausschließen.

In einem Interview berichtete der Bassist, Gitarrist und Sänger Chris White einmal von den Schwierigkeiten, denen sich seine Band „The Zombies“ bei den Aufnahmen zu „Odessey and Oracle“ [1] ausgeliefert sah. Als sich die mit einer Woche knapp bemessene Studiozeit am letzten Aufnahmetag dem Ende näherte, waren die Backgroundgesänge noch nicht eingesungen, was im streng gewerkschaftlich organisierten England der späten Sechziger, in dem jede Bandmaschine um 18 Uhr zu ruhen hatte, für den erfolgreichen Abschluss der Produktion nichts Gutes verhieß. Dies führte dazu, dass man sich eilig um die Mikrofone gruppierte, während wenig einfühlsame Studioarbeiter bereits das Klavier und anderes musikalisches Gerät aus demselben Raum entfernten. Die Anekdote hat bei der Verfasserin dieses Textes hinsichtlich ihrer persönlichen Soundzuschreibung insofern tiefen Eindruck hinterlassen, als sie bei jedem erneuten Hören des Albums zu einem Gefühl heftiger Rührung beiträgt, was mit der (sicherlich eingebildeten) schreienden Verzweiflung zusammenhängt, die in den Backgroundgesang hineingehört wird. Im (Gesangs-)Sound der Platte scheint sich ein ebenso kraftvolles wie zum glanzvollen Scheitern verurteiltes Aufbegehren gegen die Umstände ihres Produktionsprozesses zu offenbaren, eine Einschätzung, die verstärkt wird durch die Tatsache, dass sich die Band noch vor dem Erscheinen des Albums 1968 auflöste.

Derlei Interpretationen, die der Reibungsfläche zwischen Soundproduktion und individueller Soundzuschreibung entspringen, verdeutlichen einen Aspekt, der — bei aller Problematik der verschiedenen Verwendungen des Sound-Begriffs und einer sicher noch am Anfang stehenden theoretischen Beschäftigung mit Sound in all seiner semiotischen Komplexität — bisweilen nicht ganz deutlich wird: dass in die Rezeption von Sound ebenso wie in seine Produktion neben allem physikalisch Erfassbaren und musikalisch Notierbaren selbstverständlich auch ein Mehrwert an Weltkonzeptualisierung, der mentalen Konstruktion von Welt und Wirklichkeit mit einfließt.

Unter musikalischem „Sound“ wird gemeinhin die Gesamtheit aller den klanglich-musikalischen Eindruck der Musik bestimmenden Elemente bezeichnet, was den Begriff oftmals auch in die Nähe von Stil rückt. [2] Es ist jedoch auffällig, und in allen Musikzeitschriften dieser Welt nachzuprüfen, dass bei der Behandlung von musikalischem Sound immer auch die Meinung mitschwingt, man stünde hier vor etwas, das — im Gegensatz zu Melodik, Rhythmik, Harmonik, Arrangement, Instrumentarium samt spezifischer Klangfarbe, Aufnahmetechnik etc. — nicht beschreibbar, da eben nicht notierbar und demnach nicht operationalisierbar sei. Das gilt sowohl für die traditionelle, nach wie vor äußerst konservativ geprägte Musikwissenschaft wie in — aus nahe liegenden Gründen — noch stärkerem Maße für den popkulturellen Kontext. In den Jahren nach dem Erscheinen von „The Soft Bulletin“ beispielsweise hat so mancher Produzent sich und die Band bei dem Versuch einer genauen Rekonstruktion des Flaming-Lips-Sounds im Studio an den Rand eines Nervenzusammenbruchs katapultiert, um schlussendlich zu der Feststellung zu gelangen, dass hier die spezifische „Magie“ nur jenseits der Summe ihrer Teile zu finden sei. Prominentes Beispiel jüngeren Datums für die sich solchermaßen offenbarende Auffassung, Sound enthalte auch immer eine über alles Erfassbare hinausweisende Komponente, ist Brian Wilsons letztjährige Präsentation des lang erwarteten „Smile“-Albums, das vielfach auf enttäuschte Reaktionen stieß, zumeist mit dem Hinweis darauf, dass bei aller handwerklichen Geschicklichkeit, Genauigkeit und Verpflichtung gegenüber der Rohfassung der „Wahnsinn“ fehle. Verwunderlich ist an so einer Kritik die muffelige Verwunderung. Gerade in diesem Fall haben die mit dem über Jahrzehnte nur in schönstem Fragmentarismus existierenden Kunstwerk verbundenen Erwartungen in einem solchen Maße zu seiner Auratisierung beigetragen, dass eine im Jahr 2004 fertiggestellte „Smile“-Produktion wohl kaum mit diesen mithalten konnte.

Die Verwobenheit des Soundbegriffs mit dem Unfassbarkeitstopos mutet erstaunlich an in einem Zeitalter, das mit allen Varianten modernster Samplekunst Benjamins technische Reproduzierbarkeit in ein noch grelleres Licht rückt, und scheint das gewohnte Wort von der Entauratisierung Lügen zu strafen. Dieser Feststellung mag man auf dem ersten Blick entgegenhalten, dass dies doch primär für die nicht-kritische Rezeption aller künstlerischen Bereiche gelte, wie sie sich tagtäglich in den Medien beobachten lässt, die nach wie vor von vorrangig romantischen Konzepten geprägt ist. Diese generieren zwar das Verlangen nach einer metaphysischen Qualität der Dinge nicht automatisch (ein verbreitetes Pauschalurteil gegenüber dem Romantizismus), können ihm aber durchaus förderlich sein. Der Fetischcharakter von „Sound“ jedoch hält sich hartnäckig und macht noch aus jedem populärmusikalischen Pseudo-Genre ein epigonenhaftes Getümmel, auf der Suche nach dem „Strokes“-Sound, dem „The Fall“-Sound, meinethalben auch dem Beatles“-Sound, und wie sie alle heißen.

Nichtsdestotrotz existiert offensichtlich und paradoxerweise ein erkenntnistheoretisches Anrecht auf das, was Baumgarten das „relativ Unfassbare“ genannt hat, das sich als heuristisches Verfahren als durchaus nützlich erweisen kann. Ausgerechnet der Ultrahermeneutiker Hans-Georg Gadamer spricht vom „Volumen“ eines literarischen Texts als seine nicht-hermeneutische Dimension und hebt deren Bedeutung hervor. Ebenfalls einfallen könnte einem hier Blumenbergs Auffassung von einer Welterfahrung, die sich gegenüber jeder Theorie resistent zeigt. Der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht stellt — von einer gewissen Müdigkeit ob aller Theoretisiererei, so scheint es, angetrieben — den Begriff der „Präsenz“ als Raum außerhalb der Interpretation Begriffen wie Sinn und Repräsentation entgegen und spricht sich aus für „ein Verhältnis zu den Dingen dieser Welt [...], das zwischen Präsenz- und Sinneffekten oszillieren könnte.“ [3]

Was man Gumbrecht trotz aller berechtigten Kritik an seinem mitunter etwas kruden Werk zugute halten kann, ist, dass hier nicht der gängige Körper-Geist-Dualismus propagiert werden soll. Seine „Präsenz“ ist nicht mit Begriffen wie Transzendenz und Metaphysik gleichzusetzen, sondern entspringt dem Bedürfnis, das Bewusstsein um die sinnlich erfahrbare Schönheit der Dinge nicht vollständig hinter der Theorie verschwinden zu lassen oder sie gar als Nicht-Operationalisierbares zu negieren. Ein Beispiel aus der Musik wäre die vermeintliche, oft propagierte Diskrepanz zwischen Fan-tum und theoretischer Annäherung, die sich nährt aus der irrigen Annahme, Ersteres verstelle den Blick auf das Material. Dass beide Seiten sich durchaus ergänzend zueinander verhalten können, weiß jeder, der schon einmal so gestaunt hat, dass er begierig hinter die Dinge kommen wollte. Im besten Fall sind Staunen und Begehren dahinter dann meist noch größer als an der Oberfläche.

Auf Soundzuschreibungen bezogen bedeutet dies, dass der oben erwähnte Mehrwert an Weltkonzeptualisierung die Präsenz von Sound wesentlich mitbestimmt, ohne dass dieser auf ein musikalisches Ganzes reduziert würde. Aber auch, ohne ihn ins nur mehr Transzendente und damit in die Sphäre des Unantastbaren zu verlagern. Dieser Mehrwert basiert auf unseren theoretischen, empirischen und sozial vermittelten Annahmen über das Funktionieren und die Beschaffenheit der Welt, die den impliziten Rahmen bilden für unser Welt- und Selbstverständnis und damit eben u. a. auch für unser Soundverständnis. Ebenso basiert er auf Unhörbarem, Störschall und Restsound, auf all dem, was das menschliche Ohr nicht oder nur unbewusst wahrzunehmen vermag. Sound mag damit in letzter Instanz wunderbar unfassbar sein, aber nicht grundsätzlich un- an -fassbar. In Anlehnung an ein Cage'sches Wort sei deshalb gefordert: „Let sound be itself“.

Anmerkungen

[1]Der Rechtschreibfehler auf dem gemalten Cover hatte es seinerzeit unbeschadet in den Druck geschafft und ist damit Teil einer Anzahl von Kuriositäten, die dieses Album umwabern.
[2]Es geht hier, das sei an dieser Stelle sicherheitshalber vermerkt, um den musikalischen Sound eines Künstlers oder einer Gruppe von Künstlern, wie er vom Hörer rezipiert wird, und nicht um Sound als beispielsweise rein physikalisches oder physio-psychologisches Phänomen. Ausgeklammert bleiben auch jene extra-musikalischen Sounds, derer sich die Avantgarde seit Erfindung des Phonographen bevorzugt angenommen hat und annimmt, von den Bruitismen à la Dada über die Klänge, die die Stille bei John Cage hervorbringt bis zu den Sound-Kunstwerken eines Sven Åke Johansson.
[3]Hans Ulrich Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Über die Produktion von Präsenz, Frankfurt/M. 2004, S. 12.