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SITUATIVE VERHALTENS-„FORMEN“ Sabeth Buchmann und Ilse Lafer über Marion Baruch im Kunstmuseum Luzern

„Marion Baruch: Retrospektive – innenausseninnen“, Ausstellungsansicht, 2020

„Marion Baruch: Retrospektive – innenausseninnen“, Ausstellungsansicht, 2020

Formen der Auslassung. Das Kunstmuseum Luzern zeigt noch bis Mitte Oktober eine umfangreiche Retrospektive der im Spannungsfeld zwischen Kunst, Design und Architektur angesiedelten Arbeiten Marion Baruchs. Zwar werden diese hier durchaus als „negative Objekte“ eindrücklich. Die konzeptuellen Leerstellen von Baruchs umgebungssensiblen Behältnissen, Stoffgebilden und Interventionen entziehen sich jedoch notwendig der Verdinglichung einer musealen Werkschau. Zu diesem Urteil kommen Sabeth Buchmann und Ilse Lafer.

Marion Baruchs Werke verfügen über eine eigenwillige Qualität: Sie sind formsensible, bedeutungsoffene, zwischen Bild und Objekt, Grafik und Malerei, Skulptur und Architektur, Zeichnung und Design oszillierende Mischwesen, dazu angetan, ihre Umgebung zugleich einzubeziehen und mit ihr zu interagieren. [1] Die „Idee der Form als Behälter“ [2] stellt sich dabei als eine Art Grundmotiv des ästhetisch heterogenen Œuvre der mittlerweile 91-jährigen rumänisch-jüdischen Künstlerin dar. Gemeint ist Baruchs Spiel mit der Form – ein buchstäblich performatives Spiel, das darin besteht, über Auslassungen und Lücken auf ein „Außerhalb“ zu reagieren, um auf diese Weise raumzeitliche Ereignisse zu initiieren, die immer auch Leerstellen zum Gegenstand haben.

Bezeichnend hierfür auch der von ihr gewählte Titel „innenausseninnen“ für die von Fanni Fetzer und Noah Stolz realisierte Werkschau im Kunstmuseum Luzern, die just an dem Tag eröffnen sollte, als die Schweiz den Corona-bedingten Shutdown ausgerufen hatte. Rückblickend lässt sich diese kontingente Ereigniskette auf die Ausstellung selbst beziehen, insofern das bei der Eröffnung fehlende, von den zwei „Innen“ gerahmte „Außen“ in der musealen Zusammenschau nur bedingt als werkimmanente Kategorie zum Vorschein trat. Dies gelingt am besten dort, wo die Form als ein körperbezogenes „Behältnis“ erkennbar ist: so etwa in dem partizipativen, zwischen Skulptur und Körperperformance angesiedelten Abito-Contenitore („Kleid-Behälter“) von 1970 und auch in dem ein Jahr später realisierten kugelförmigen Plexiglas-„Umgebungsbehälter“ Contenitore-Ambiente. Beide Objekte umschließen den Körper und transformieren ihn so in eine im öffentlichen Raum platzierte Form autonomer Partizipation: Insofern Contenitore-Ambiente auf dem Gedanken der Allround-Bewegung basiert, impliziert das zu einer Ikone avancierte Objekt die Möglichkeit einer 360-Grad-Wahrnehmung seiner jeweiligen Umgebung. Der (neo-)avantgardistische Gedanke vom autonomen künstlerischen Subjekt wird hier um das politische Potenzial des Körpers als eines ästhetischen Materials und Bedeutungsträgers erweitert.

Wie insbesondere die 1970 mehr oder weniger spontan realisierte Abito-Contenitore-Intervention verdeutlicht, geht es dabei auch immer um den feministischen Einspruch gegen patriarchale Schönheitsnormen, denn der durch die Via Monte Napoleone (Mailands Modehauptstraße) von Baruch getragene Kleid-Behälter stellte zugleich eine Abstraktion der Körperform dar. In Luzern ist Abito-Contenitore in mehrfacher Ausführung (in Schwarz und gebrochenem Weiß) zu sehen – in Gestalt von aneinandergereihten Stoffsäcken auf Metallbügeln, flach an der Wand und mit Bedacht auf die strenge Geometrie ihrer Form installiert. Demgegenüber eine Reihe von kleinformatigen dokumentarischen Fotografien, die die Künstlerin wiederum in actu zeigen, dieses Mal, indem sie den „Kleid-Behälter“ als deklinierbare Form vorführt – einmal als zeltartige Behausung, ein anderes Mal als burkaartige Verhüllung von Körper und Gesicht. Hier wird nicht nur die Verbindung zwischen den partizipativen Textilobjekten der 1970er Jahre und ihren kritischen Appropriationen kultureller Stereotype im Spannungsfeld zwischen Kunst, Design und Architektur deutlich, sondern ebenso die sozialhistorische Dimension des auf die Modeindustrie rekurrierenden ‚Grundstoffs‘. [3]

„Marion Baruch: Retrospektive – innenausseninnen“, Ausstellungsansicht, 2020

„Marion Baruch: Retrospektive – innenausseninnen“, Ausstellungsansicht, 2020

Ein Aspekt, der auch für die Stoffgebilde gilt, die Baruch zwischen 2011 und 2019 in ihrem Wohn- und Atelierhaus in Gallarate ‚gefertigt‘ hat. Diesen ausgefransten, von Löchern durchsetzten Objekten liegt nunmehr ein ‚negativer‘ Bezug auf Kleidung, das heißt das normierte Körperideal, zugrunde, und zwar im Sinne von Cut-Outs, insofern Baruch die von der industriellen Fertigung anfallenden Stoffreste als Readymades auffasst, sie hinsichtlich ihrer formalen Qualitäten (Größe, Farbe, Art der Leerstellen) und materiellen Eigenschaften (Schwere, Dichte, Elastizität) sichtet, als Wand- oder Raumgebilde in Form bringt und benennt. Diesem Prozess liegt ein dialogisches Prinzip zugrunde, eine Art Duchamp’sches Rendezvous mit einem (formlosen) Objekt, das selbst im Moment der Formfixierung und Benennung seine Qualität als bedeutungsoffenes Behältnis nicht verliert. Im Gegenteil, die negative Form entspricht der Logik des „Umgebungsbehälters“: Sie inkorporiert Umgebung und setzt diese zugleich voraus. Dementsprechend entziehen sich die in Baruchs Werkschau dominanten Stoffgebilde der Verdinglichung; sie stellen sich vielmehr als situative „Verhaltensformen“ oder auch ortsspezifische Haltungen zum ästhetischen Umgang mit gefundenen Materialien dar.

Dies gelingt etwa am Ort der Produktion – einer am International Style orientierten Villa, die Baruch Anfang der 1970er Jahre gemeinsam mit dem italienischen Architekten Carlo Moretti entworfen hat. Hier erschienen die Stoffgebilde – mal wie „Körper von Gewicht“ (Judith Butler), mal wie tropfende Substanzen, mal wie ausgeweidete Muster – als Elemente eines sich spinnwebartig ausdehnenden ‚Werknetzes‘, das mit dem Raum alltäglicher Handlungen interagiert und ihn zugleich durch signifikante (Ein-)Schnitte perforiert.

Dass eine solche umgebungssensible Bezüglichkeit nur schwer mit dem Vorhaben einer musealen Werkschau in Einklang zu bringen ist, beweist die Ausstellung in Luzern: Hier überkreuzt sich die Betonung des performativen (Anti-)Werkcharakters mit dem Anspruch, Baruchs – der internationalen Kunstöffentlichkeit eher unbekannten – künstlerischen Werdegang vornehmlich biografisch und möglichst umfassend nachzuzeichnen. Dabei überzeugen vor allem die weniger überfrachteten Räume, so die raumgreifende Installation der Traiettorie (2020), mit der die weitgehend chronologisch konzipierte Schau eröffnet: Rote und schwarze, Wand und Boden locker miteinander verspannende, durchlöcherte Stoffbänder setzen auf eine Weise Schnitte im Raum, die ein zugleich zweidimensionales, buchstäblich „textuelles“ Lesen und dreidimensionales, kontextuelles Sehen evozieren. [4] Dieses Vexierspiel aus Material und Zeichen zeigt sich als eine Praxis des Raum-Schreibens, die nicht nur die Körper der Betrachtenden und die institutionelle Trägerstruktur in die Wahrnehmung miteinbezieht, sondern ebenso das Textil als ein dem Design und der Kunst anverwandtes Genre adressiert.

Name Diffusion, „Une chambre vide“, 2009

Name Diffusion, „Une chambre vide“, 2009

Dass Baruch die Grenzlinie zwischen den sogenannten freien und angewandten bzw. kommerziellen Künsten auf zuweilen humorvolle Weise herausfordert und verwischt, bezeugen ihre „Nichtobjektobjekte“, die sie in Kollaboration mit dem italienischen Designer Dino Gavina produzierte. In der Ausstellung jeweils auf einem musealen Podest platziert und von einer Reihe neuerer Stoff-Wandgebilde gerahmt, scheint es, als ob dem kugelförmigen schwarzen Hocker RonRon (1972) bzw. Lorenz (1972) – einem tigerartigen, zwischen Teppich und Schlafsack oszillierenden Wesen mit austauschbaren Gummiballaugen – die für ihren Status als Design- bzw. Nicht-Objekt notwendige, funktionale Bezüglichkeit abhanden gekommen wäre. Dieses Moment der indifferenten Positionierung lässt jenes von Baruch angestrebte Spannungsverhältnis zwischen Nicht-Objekt und Objekthaftigkeit, zwischen Kunst und Design weitgehend außen vor, das gerade vor dem Hintergrund ihrer vom Bauhausschüler Mordecai Ardon geprägten künstlerischen Ausbildung an der Academy of Arts and Design in Tel Aviv so relevant erscheint. Dies betrifft auch die Frage der (u.a. vom Design geprägten) Autor*innenschaft, die Baruch auf höchst unterschiedliche Weise zum Thema macht. So liegt es nahe, ihr 1990 gegründetes Unternehmen NAME DIFFUSION sowohl unter dem Vorzeichen avantgardistischer Anonymisierung als auch unter dem Vorzeichen postavantgardistischer Identitätskritik zu sehen. Demgemäß stünde das Label NAME DIFFUSION nicht nur für eine kollektive Praxis mit wechselnden Kollaborateur*innen, sondern gleichermaßen für eine kritische Auseinandersetzung mit urheber- und eigentumsfixierten Marktlogiken und den Bedingungen der Produktion – von arbeitsteiligen Prozessen bis zur künstlerischen Kontrolle. Exemplarisch dafür die 1992 für „Business Art/Art Business“ im Groninger Museum entstandenen Arbeiten: Eine an kommerzielle Messen erinnernde Installation aus Textilerzeugnissen mit dem Label NAME DIFFUSION, dem der Gedanke der kollektiv-anonymen Massenproduktion, einem No-Go des herrschenden Kunstbetriebs, zugrunde zu liegen scheint.

Bemerkenswert auch die selbstreflexive Thematisierung von NAME / DIFFUSION als ein auf mehreren, farbig ausgeleuchteten containerartigen Behältern verteiltes Wortspiel. Hier erscheint der Name selbst als Behältnis im Sinne einer zu besetzenden Leerstelle, die sich potenziell durch stets neue Beziehungen und Kollaborateur*innen konstelliert. An dieser Stelle wären die unter NAME DIFFUSION subsumierten Projekte zu erwähnen, die in Baruchs Parisjahren (1998–2011) gemeinsam mit feministischen bzw. aus ehemaligen französischen Kolonien eingewanderten Akteur*innen der französischen Sans-Papiers-Bewegung entstanden. Dazu zählt u.a. die über Flyer verteilte Einladung zu Treffen ohne vorgebende Szenografie im (Une) chambre vide (2009), wofür die Künstlerin ein Zimmer in ihrer Pariser Wohnung in der Rue Sorbier leerräumte und dieses, abhängig von den natürlichen Lichtverhältnissen im Raum, als Plage de soleil oder Plage de la lune deklarierte. Wenige dokumentarische Aufnahmen belegen die ästhetisch-politische Relevanz dieser Form der programmatisch diffusen, zugleich offenen und opaken Vernetzung. Die Entscheidung, Une chambre vide als konzeptuelle Leerstelle ins Zentrum der Ausstellung zu rücken und über ein bettgroßes weißes Podest als Ort für ausstellungsbegleitende Veranstaltungsformate auszuweisen, erscheint vor diesem Hintergrund nachvollziehbar, wenngleich die für die Intimität des Raums notwendige Kubatur und die ihn konstituierende „Lichtmalerei“ als phänomenologisch erfahrbarer, mithin dynamischer Außenbezug unter musealen Bedingungen augenscheinlich nicht herstellbar war. Aber nur ein solcher hätte jener Dichotomie von Text und Kontext entgegengewirkt, wie sie von Baruchs Formgebilden durch immer neue und überraschende Material-/ Raum-(Be-)handlungen zu Fall gebracht wird.

„Marion Baruch. Retrospektive – innenausseninnen“, Kunstmuseum Luzern, 29. Februar bis 11. Oktober 2020.

Sabeth Buchmann ist Professorin für Kunstgeschichte der Moderne und Nachmoderne an der Akademie der bildenden Künste Wien. Mit-Hg. von PoLYpeN, eine bei b_books erscheinende Reihe zu Kunstkritik und politischer Theorie. Publikationen: u.a. Mit-Hg. mit Ilse Lafer und Constanze Ruhm, Putting Rehearsals to the Test. Practices of Rehearsal in Fine Arts, Film. Theater, Theory, and Politics (2016)

Ilse Lafer ist Leiterin der Galerie der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig.

Image credit: 1. und 2. Marc Latzel. 3. Corinne Vigne-Loup, Courtesy of the artist

Anmerkungen

[1]Vgl. Sabeth Buchmann, „Negative Objekte“, in: Ilse Lafer (Hg.) Deculturalize, Mailand: Mousse Publishing, 2020, S. 312–318, hier: S. 314, erscheint im August.
[2]Noah Stolz, in einem unveröffentlichten Manuskript.
[3]Buchmann, „Negative Objekte“, S. 314.
[4]Ebd.