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Ulrich Gutmair über „Panikherz“ von Benjamin von Stuckrad-Barre Urlaub vom Ich

Foto: rbb

„Stuckiman“ nennt Udo Lindenberg seinen Freund Benjamin von Stuckrad-Barre liebevoll. Das ist das schöne Ende der Geschichte, die Stuckrad-Barre in „Panikherz“ erzählt. Sie hätte auch anders ausgehen können. Als Kind entdeckt Stuckrad-Barre seine Liebe zu den Liedern von Udo Lindenberg. Lindenbergs nuschelnd vorgetragenes Kunstdeutsch hat in den Siebzigern das Lebensgefühl der Nachkriegsgeneration ausgedrückt. High sein, unterwegs sein, und vor allem immer schön locker bleiben. Als der kleine Benjamin Udos Frühwerk in den Achtzigern hört, ist es selbst schon längst Geschichte. Der Junge kann gleich zwei Alben des Rockers zum Nice Price von neun Mark fünfundneunzig erwerben, wenn Opa ihm zwanzig Mark schenkt. Nur wissen darf der Großvater das nicht, von Verschwendung hält er nichts.

Benjamin wird größer, und seine Sturm-und-Drang-Zeit als aufstrebender Journalist fällt in die ungefähr zwanzig Jahre dauernde Phase in Lindenbergs Leben, in der nicht mehr viel läuft. Stuckrad-Barre verreißt die neuen Songs seines Kindheitshelden. Dann aber geht es selber mit ihm bergab. Essstörung, Drogen, totaler Absturz, engültiger Abgang des jungen Helden von der Bühne nicht unwahrscheinlich. In letzter Minute die Umkehr. Scham, Reue, Wiederauferstehung. Udo, der Freak mit dem großen Herzen, verzeiht dem jungen Pinscher nicht nur, der ihm einst ans Bein pinkelte, als er selbst nicht mehr so ganz im Flow war. Stuckiman, der verlorene Sohn, wird mit offenen Armen in Udos weitverzweigte Familie von Freaks aufgenommen.

Der kindliche Wunsch wird also wahr, teilzuhaben an der phantastischen Welt des Udo Lindenberg. Vorher aber muss der Held vierzig Tage durch die Wüste marschieren, wo allerlei Dämonen ihm auflauern. Stuckrad-Barre ist der Sünde der Zeit verfallen, Narzissmus, dann wird er erlöst, durch den Prediger des Rock'n'Roll, der – wo er geht und steht – die Kommunion mit den Menschen praktiziert. Das ist im Kern die durchaus christliche Geschichte, die Stuckrad-Barre erzählt. (Der Vater ist Pastor, jeden Morgen wird die Bibellosung des Tages vom Vater am Tisch vorgetragen.)

„Panikherz“ erzählt dieses Gleichnis im Gewande des ultimativen Popromans, als den man die Autobiografie eines gerade mal Vierzigjährigen nur begreifen kann. Hier darf man nicht nur hemmungslos „Ich“ sagen, hier geht’s nicht anders. „Ich” ist dem Autobiografen Motor, Gegenstand und Rechtfertigung. Anlässlich einer Joe-Cocker-Konzertkritik, die er als Praktikant bei der taz in Hamburg schreibt, wird er gerügt: „Als der Kulturchef meine Kritik las, sagte er in Ordnung, hier ein bisschen streichen – und wenn du in einer Konzertbesprechung noch einmal das Wort 'ich' verwendest, hack ich dir die Finger ab. ICH dachte, über was soll ich denn sonst schreiben als über mich, wenn es um ein Joe-Cocker-Konzert geht?“

Pop erscheint in dieser Perspektive als Identifikationsangebot, das man auch ablehnen kann. Selbst wenn man es zu einem anderen Zeitpunkt als glückversprechend angenommen hat. Und so ersetzt Stuckrad-Barre in jener Zeit Udo Lindenberg durch Kurt Cobain. Die Popliteratur der Neunziger, der auch Stuckrad-Barres Bücher zugeschlagen worden sind, sei „das verspätete Aufbegehren gegen die Meinungsmacht der 1968er und deren politischen Nachfolgeorganisationen (Die Grünen, ATTAC usw.)“, behauptet Wikipedia, und vollführt damit dieselbe Enthistorisierungsbewegung, die es den späten, auf Deutsch schreibenden Popliteraten ermöglichte, ihre Texte mit dem Gestus von Rebellen zu schreiben: So zu tun, als habe es Punk niemals gegeben. Das ist logisch, weil das Neuigkeitsversprechen von Pop nur eingelöst werden kann, indem das gerade eben Vergangene konsequent als irrelevant, weil von gestern begriffen, und sodann schnell vergessen und überschrieben wird. Pop zitiert immer, aber niemals die Mode von gestern, sondern die von vorgestern. Ironischerweise war Kurt Cobain selbst ein verspäteter Punk. (Bret Easton Ellis macht sich über Stuckrad-Barres Helden lustig, als die beiden sich in Los Angeles treffen: Wie albern, sich umzubringen, weil man den Erfolg nicht aushält! Sonst hat der Mann keine Probleme?)

Abgesehen von ihrem fast obsessiven Verhältnis zum Gegenwärtigen, Neuen, medial Vermittelten hatte die deutsche „Popliteratur“ der Neunziger nicht viel mit Pop zu tun. Was die Feuilletons als Popliteratur bezeichneten, war in erster Linie eine radikal subjektivistische, eine Ich-Literatur. Diese Hinwendung zum Subjektivismus ist nicht auf literarische Textformen beschränkt geblieben. Seither ist das Ich als erste Referenz eines Weltbezugs vor allem im Magazinjournalismus (besonders deutlich im Jetzt!-Magazin der Süddeutschen, aber auch anderswo) immer stärker in den Vordergrund getreten. Auch die Flut von Kolumnen in Print- und Onlinemedien in den vergangenen Jahren lässt sich als Ausdruck dieser Liebe zum Subjektiven lesen.

Ein guter Witz ist daher, dass Stuckrad-Barres ICH an der oben zitierten Stelle in Versalien erscheint, analog zu anderen Schlüsselwörtern in „Panikherz“, was nebenbei bemerkt ziemlich OFT passiert und NERVT, weil es beim Lesen stört. Stuckrad-Barre schrieb aber immer auch als Fan, und so handelt „Panikherz“ konsequenterweise auch nicht nur vom Verhältnis von Stuckiman und Udo, sondern auch von seinen anderen Vorbildern und Idolen, zu denen Friedrich Küppersbusch und Harald Schmidt genauso gehören wie der eben schon erwähnte Bret Easton Ellis und die Gallagher-Brüder.

Es liegt nahe, „Panikherz“ psychoanalytisch zu lesen. Die Stuckrad-Barre‘schen Verrisse des Spätwerks von Udo Lindenberg sind offensichtlich symbolischer Vatermord. Das eigene Ich will sich ins Recht setzen, Platz und Anerkennung haben. Stuckrad-Barre scheitert aber an dieser entscheidenden Stelle seines Lebensromans. Er kriegt es nicht hin, sein Selbstbild mit der Wirklichkeit produktiv zu vermitteln, obwohl oder vielleicht weil er zum Vorbild seiner Altersgenossen wird (coole Texte schreiben, für Harald Schmidt arbeiten etc.). „In der Mädchenbranche lief es gut, in der Medienbranche nicht ganz so. Nicht persönlich nehmen, wurde mir allseits geraten; allein, wie eigentlich sonst?“ Er hält sich für zu dick und bildet eine Essstörung aus: „Ständig konfrontiert mit dem eigenen Bild in der Öffentlichkeit, was ich ja forcierte, wollte ich ab jetzt immer dünner werden.”

Die Bulimia nervosa geht bald fließend in eine Kokainsucht über. Koks hat den Vorteil, appetithemmend zu wirken und Distanz zur Welt, bald aber auch zum eigenen Ich herzustellen: „Das ist das Befreiende an einer Sucht: Man hat Ruhe vor sich selbst, Urlaub vom Ich, von der Selbstbewertungsmaschinerie, man hat zu tun, die Sucht gibt Befehle aus, und die schuftet man dann weg. Es ist das Leben in einer Diktatur, ganz der Sucht und ihren herrischen Gesetzen unterworfen.“

Weil Stuckrad-Barre ein großer Neurotiker ist, kann er schließlich zum begnadeten Reporter seiner eigenen Geschichte werden, der sich selbst dabei beobachtet, wie er vom Strudel der Sucht nach unten gezogen wird. Das spätere Ich beschreibt die Eskapaden und Kurzschlüsse des früheren aber nicht mit cooler Ironie, die Distanz herstellen soll, sondern mit Humor. Dass es mit der Ironie vorbei sei, hatten Stuckrad-Barre und seine Popliteratur-Kollegen in Anlehnung an Jarvis Cocker schon lange postuliert – und sich stattdessen selbst ernst genommen. „Panikherz“ dagegen ist ein selbstironisches Bekenntnis des eigenen Scheiterns und zugleich eine Hommage Stuckrad-Barres auf seinen ersten Pop-Helden, wobei das eine das andere bedingt. Das berührt, weil Stuckrad-Barre nicht nur dem lange als Witzfigur verspotteten Altrocker Gerechtigkeit widerfahren lässt, der hier als hochsympathischer Typ erscheint, sondern auch sich selbst.

Benjamin von Stuckrad-Barre, „Panikherz“, Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2016.

Ulrich Gutmair ist Kulturredakteur der taz.