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JAHRZEHNTE DER IDENTITÄTSPOLITIK Von Coco Fusco

Lyle Ashton Harris, „Ektachrome Archive (New York Mix)“, 2017 (Kinshasha Conwill at the Black Popular Culture conference, Dia Art Foundation, New York, 1991)

Lyle Ashton Harris, „Ektachrome Archive (New York Mix)“, 2017 (Kinshasha Conwill at the Black Popular Culture conference, Dia Art Foundation, New York, 1991)

„Man vergisst gerne, wie uniform die Kunstwelt vor 1990 war und wie nonchalant das Establishment mit seinem Eurozentrismus umging“, schrieb Coco Fusco 2017 in unserer Ausgabe „Identitätspolitik heute“. Da unter dem Stichwort Identität weiterhin viele polarisierte Debatten laufen, macht es Sinn, Fuscos Erinnerung an die Zielsetzungen früherer identitätspolitischer Diskurse ab den 1980ern aufzufrischen. Damals ging in erster Linie darum, sich kollektiv Gehör und Sichtbarkeit zu verschaffen sowie die Bedeutung prägender Erfahrungen und Kontexte hervorzuheben. Im Rückblick auf diese Ziele und ihr eigenes Engagement, stellte Fusco in ihrem Beitrag eine Fokusverlagerung der Identitätspolitik fest: Schuldzuschreibungen sowie Formen von Anerkennung richteten sich zunehmend an Einzelne, anstatt an jene Gemeinschaften oder Systeme, in denen sie verwurzelt sind und aus denen heraus sie agieren. Angesichts der Tatsache, dass sich die Tendenz, die Fusco 2017 beschrieb, fortbesteht und zu immer festgefahrenen Positionen führt, republizieren wir ihren Text hier erstmals online, als Erweiterung unserer aktuellen Ausgabe, „Ohnmacht“.

Ich verstehe, warum die Zeitschrift mit 1990 als Schlüsseldatum beginnt. Aus persönlicher Erfahrung kann ich jedoch sagen, dass es bereits seit den späten 1970er Jahren einen aktiv geführten Diskurs über Identitätspolitik gab. Es begann mit der Gründung von Kulturräumen für Minderheiten und mit der Einführung von Ethnic Studies; danach rückten die Streitthemen Schwarzer Feminismus und Schwarze Maskulinität in den Brennpunkt, und all das überschnitt sich dann in den 1980er Jahren mit verschiedenen anderen Tendenzen wie Institutionskritik, Poststrukturalismus und Feminismus.

Identitätspolitik hat über die Jahre einen derart negativen Beigeschmack erhalten, dass mir die aktuelle Phase manchmal fast höhnisch vorkommt. Ich erinnere mich nur allzu gut daran, mit welcher Herablassung Kunstwelt und Presse der 1980er Jahre nichtweiße Künstler*innen und die von Förderer*innen und Kunstorganisationen auf die Beine gestellten multikulturellen Initiativen behandelt haben. Ihre Haltung war bis zu einem gewissen Grad eine Gegenreaktion auf die Bemühung staatlicher Stellen, mithilfe finanzieller Zuschüsse eine breitere Definition dessen, was „Öffentlichkeit“ bedeutet, durchzusetzen, wie auch auf das wachsende Interesse von Sponsor*innen an Minderheiten und an den neuen Märkten, die diese eröffneten. Kunstförderung wurde nun als Chance gesehen, Zugang zu marginalisierten Bevölkerungsschichten zu gewinnen. Die amerikanische Avantgarde hatte die kulturelle Differenz bis dahin nur als Fundus von Anregungen und Inspirationen wahrgenommen: Sandbilder der Navajo, Jazz, afrikanische Masken und was sich sonst noch anbot. Die Privatisierung der Kultur und die Einengung der Debatte auf die individuelle Identität veränderten die Dinge in den 1990er Jahren noch einmal radikal.

Man vergisst gerne, wie uniform die Kunstwelt vor 1990 war und wie nonchalant das Establishment mit seinem Eurozentrismus umging. Ich weiß noch, wie sich der venezolanische Künstler Rolando Peña 1987 auf einer Pressekonferenz der „documenta 8“ beklagte, dass kaum Künstler*innen aus Lateinamerika, Afrika und Asien vertreten waren – und ausgebuht wurde. Ebenso gut ist mir in Erinnerung, wie mich ein Kunstmagazin etwa zur selben Zeit wegen meines „aggressiven“ multikulturellen Engagements mit dem rechtspopulistischen Radiomoderator Rush Limbaugh verglich. Als ich John Akomfrah, Isaac Julien und andere Sankofa- und BAFC-Mitglieder 1988 einlud, in Downtown Manhattan ihre Werke zu zeigen, waren weiße Intellektuelle ganz hingerissen von der Eloquenz der Schwarzen britischen Künstler*innen – als hätten sie das nie erwartet. Die wenigen divers besetzten Ausstellungen (ich denke da etwa an die „Decade Show“, die im Sommer 1990 drei New Yorker Institutionen bespielte – das Museum of Contemporary Hispanic Art, das New Museum und das Studio Museum in Harlem) wurden als Barbareninvasion empfunden, als beklagenswerter Verlust jeglichen Respekts für ästhetische Werte. Im selben Atemzug wurden renommierte postkoloniale Theoretiker*innen wie Edward Said, Homi Bhabha und Gayatri Spivak von der Kunstelite hofiert und von den Kunstzeitschriften publiziert. Theorie mit ausländischem Akzent erregte offenbar weniger Missbehagen als die Aufmüpfigen aus dem amerikanischen Hinterhof, die es wagten, auf ihrem Mitspracherecht zu bestehen.

Man darf nicht vergessen, dass es in den multikulturellen Debatten der 1980er Jahre nicht in erster Linie um den Kunstmarkt ging. Womöglich deshalb, weil damals nur sehr wenige nichtweiße Künstler*innen eine feste Galerie hatten und überhaupt regelmäßig Werke verkaufen konnten. Primärer Angriffspunkt waren die Institutionen und Finanzgeber*innen: Welche Maßnahmen wurden von den Museen unterlassen? Warum hielten die Kunstförderer*innen an einer Sicht der ästhetischen Innovation fest, die den Werken nichtweißer Produzent*innen jeglichen Wert absprach? Als Nächstes folgte der Kulturkrieg der frühen 1990er Jahre, in dem Multikulturalismus diffamiert wurde – aus der Privatisierung der Kultur folgend. Im Gegenzug explodierte das Interesse an zeitgenössischer afroamerikanischer Kunst, und überhaupt wurde das Sammeln von Gegenwartskunst mehr und mehr zum globalen Geschäft. Der Markt trug wesentlich dazu dabei, den politischen Aktivismus um Fragen der Identität einzudämmen. Dies führte auf lange Sicht zu einer Identitätspolitik mit deutlich heruntergeschraubten Ansprüchen. Heutzutage konzentriert sich der öffentliche Diskurs auf Attacken gegen Einzelne im Namen imaginärer Gemeinschaften, die in Wirklichkeit selbst zersplittert sind. Für die systematische Analyse institutioneller Praktiken oder für die organisierte Forderung nach Inklusion werden weitaus weniger Energien aufgewandt – eine traurige Folge der Marktherrschaft im Kunstsektor und des Versagens der Kunstschulen, Lehrpläne mit globalem Horizont und fundierte Kurse für postkoloniale Theorie zu entwickeln. Ich finde es traurig zu sehen, wie junge Künstler*innen einzig das individuelle „Recht“ auf Repräsentation einer Kultur oder Geschichte einfordern, anstatt die Politik und Praxis der Kunst- und Bildungsinstitutionen aus allgemeinerer Perspektive ins Auge zu fassen. Man findet aktuell nur wenig Verständnis für geschichtliche Zusammenhänge oder dafür, wie auf dem heutigen Kunstmarkt alle Beteiligten Identität kommodifizieren.

1990 war kein „Startpunkt“ für mich: Ich glaube, man erinnert sich heute an dieses Datum, weil die großen Museen und Zeitschriften damals begannen, Plätze für nichtweiße Künstler*innen freizuhalten. Separate Kulturinstitutionen für Minderheiten – wie hilfreich sie auch immer sein mochten – reichten nicht aus und konnten keine Gleichberechtigung bringen, das war klar.

Lyle Ashton Harris, „Ektachrome Archive (New York Mix)“, 2017 (Angela Davis, Ed Guerrero, Manthia Diawara at the Black Popular Culture conference, Dia Art Foundation, New York, 1991)

Lyle Ashton Harris, „Ektachrome Archive (New York Mix)“, 2017 (Angela Davis, Ed Guerrero, Manthia Diawara at the Black Popular Culture conference, Dia Art Foundation, New York, 1991)

Mein aktives Engagement begann in den 1980er Jahren. Wir waren eine Generation, die von der Bürgerrechtsbewegung und von gezielten Fördermaßnahmen profitiert hatte, und wir wussten, wie lange unsere afro- und hispanoamerikanischen Vorgänger*innen in der Kunst gegen die Sexismus und Rassismus gekämpft hatten. Gegen das Unterrepräsentiertsein nicht nur in Ausstellungen und Galerien, sondern auch unter Kurator*innen und Entscheidungsträger*innen, denen es vorbehalten ist, jene ästhetischen Urteile zu treffen, die das Tor zu Stipendien, Ausstellungen und Museumssammlungen öffnen. Wir waren auch stark beeinflusst von kritischer Theorie: waren es antikoloniale Denker*innen wie Frantz Fanon oder radikale Filmemacher*innen aus der sogenannten Dritten Welt, die in Opposition gegen das konventionelle Kino die Solidarisierung der politischen und ästhetischen Avantgarden anstrebten. An den Universitäten, von denen wir kamen, hatten wir gegen die eurozentrischen Studienpläne protestiert. Zugleich war uns klar, dass starre Definitionen von Identität und von „korrekten“ Formen des kulturellen Ausdrucks, wie sie von Kulturnationalistinnen und -nationalisten vorgebracht wurden, eine geistige Verarmung nach sich ziehen mussten. Richtungweisend war für uns die Skepsis, mit der Schwarze Feministinnen den Ruf nach Einheit sowie den moralischen Imperativ, dass Künstler*innen aus Minderheiten ein positives Bild ihrer Gemeinschaft zu zeichnen hätten, beurteilten. So viel ich mich erinnere, rangen wir in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren um eine kritische und nuancierte Stellung zu Fragen der kulturellen Repräsentation. In den 1980er Jahren war uns eine andere Terminologie geläufig als heute. Niemand sprach von Subalternität – außer Spivak. Wir sprachen von Kolonialismus, Neokolonialismus, Antikolonialismus und so fort. Diese Begriffe determinierten unsere Untersuchungen von vornherein als die von Systemen und nicht die von Individuen. Darin liegt exakt die Ursache dafür, dass mir „Identitätspolitik“ als Rahmensetzung seit jeher Schwierigkeiten bereitet hat. Unsere Debatten handelten von Multikulturalismus, nicht von Identitätspolitik. Wenn Identität tatsächlich als Kernproblem der Diskussion herhielt, wie etwa in Stuart Halls „The Question of Cultural Identity“ (1992) [1], dann wurde sie als Begriff behandelt, der aus verschiedensten Blickrichtungen zu betrachten war. Hall schöpfte aus soziologischen Disputen um die „Krise der Identität“ (d. h. deren Dezentrierung) als Symptom des Aufbrechens konzeptueller und ideologischer Wertsysteme, die den Menschen vordem Halt gegeben hatten. Als Alternative bot er das Modell der Hybridität an und drängte uns, Wege zu finden, ein Spektrum identitäsbasierter Subjektpositionen zu besetzen. Diese Identitäten sind, wie er hervorhob, nicht biologischer, sondern historischer Natur. Hall übersah dabei keineswegs, wie Rassifizierungsprozesse in modernen Gesellschaften gerade nichtweißen Subjekten feste Identitäten aufprägen.

Jetzt zu eurer letzten Frage: „Wie beeinflusst die Identität der Künstler*innen die Rezeption des Kunstwerks, und welchen Wandel hat diese Relation im Laufe der letzten Jahrzehnte durchlaufen?“ Ich verstehe das so: Ihr wollt wissen, wie sich die Wahrnehmung und die Interpretation von Kunstwerken verändert hat, worauf ich antworten würde: Bis zu welchem Grad Identität unser Verstehen prägt, hängt vom Erfahrungsniveau der Betrachter*innen ab und von den politischen Imperativen, die der öffentlichen Präsentation des Werks zugrunde liegen. In den Diskussionen um den Multikulturalismus vor 25, 30 Jahren ging es um institutionellen Rassismus und außerdem um die Realisierbarkeit ästhetischer Projekte, die Kulturen außerhalb des Mainstreams reflektieren. Nichtweiße Künstler*innen waren bis auf wenige Ausnahmen von den dominanten Institutionen und vom Kunstmarkt ausgeschlossen, und diese gemeinsame Erfahrung erzeugte ein Gefühl der Solidarität. Dementsprechend war der Druck auf die Institutionen, Barrieren abzubauen, damals größer als heute. Dessen ungeachtet existierte eine Reihe unterschiedlicher Positionen zu Ästhetik und im Hinblick auf die Frage, ob und inwieweit Identität bei der Bewertung eines Werks in Betracht gezogen werden soll. Nichtweiße abstrakte Künstler*innen wurden von etablierten und alternativen Institutionen oft vernachlässigt, weil sich ihre Arbeiten nicht als narrative Illustration der Lebenserfahrung von Minderheiten verkaufen ließen.

Die Globalisierung des Kunstmarkts und das Renommee einer Handvoll nichtweißer Künstler*innen in den USA – überwiegend afroamerikanischer Herkunft, da andere Minderheiten bislang keine ähnliche Marktattraktivität erringen konnten – hatten einen nachhaltigen Effekt darauf, wie Identitätspolitik in der Gegenwart ausgetragen wird. Den meisten jungen Schwarzen Künstler*innen, denen ich als Professorin begegne, ist der Erfolg auf dem Kunstmarkt wichtiger als der politische oder ästhetische Wandel. Identitätsbasierte Anliegen sind ein zweischneidiges Schwert: Wer sich zu stark auf Kulturpolitik konzentriert, wird an Elite-Kunstschulen schnell zur*m Außenseiter*in oder verärgert ihre*seine Käufer*innen; das richtige Maß an kulturellen Querverweisen fördert hingegen die Erkennbarkeit und Akzeptanz der Künstler*innenmarke. Der breite Kunstmarkt ist im Umgang mit Alterität versierter geworden. Die Erwähnung ethnischer und kultureller Differenzen kann Besucher*innenmassen anziehen, Mäzen*innen zufriedenstellen oder private Geldströme sichern. Die politische, gezielt gegen die Machthaber*innen gerichtete Kritik an Kunstschulen und -institutionen bleibt allerdings weiterhin tabu.

Übersetzung: Bernhard Geyer

Image credit: Courtesy of Lyle Ashton Harris

Anmerkung

[1]„Die Frage der kulturellen Identität“, in: Stuart Hall, Ausgewählte Schriften, Bd. 2 Hamburg 1994