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Aria Dean

TRAUMA UND VIRTUALITÄT

Jordan Wolfson, „Real Violence“, 2017, Installationsansicht / installation view

Jordan Wolfson, „Real Violence“, 2017, Installationsansicht / installation view

Bilder von Gewalt in den USA sind allgegenwärtig und höchst beunruhigend, aber es gibt auch eine Politik der Zuschauerschaft, die jede Erfahrung dieser barbarischen Szenen begleitet. Wie entscheiden wir, welche Rolle wir dabei spielen wollen, wenn wir diese Bilder immer und immer wieder ansehen? Wie lässt sich zwischen Beobachten und Mitmachen unterscheiden? Die Künstlerin und Schriftstellerin Aria Dean untersucht die Art und Weise, wie zwei aktuelle Arbeiten amerikanischer Künstler sich mit der komplexen Natur von Zuschauerschaft und Erfahrung im Lichte der weit verbreiteten Bilder von Brutalität insbesondere gegen Schwarze Körper auseinandersetzen. Sind Kunstwerke heute noch in der Lage, kritische Formen der Auseinandersetzung darzustellen, die uns helfen können, nicht nur über das Was, sondern auch über das Wie der Zeugenschaft nachzudenken?

„Das Reale ist kein Kern, kein passenderweise felsenfestes Inneres, das man hinter dem Schleier der Fiktion ausmachen kann. Es ist vielmehr die Struktur dieses Schleiers selbst: Kette und Schuss seines Gewebes.“ Susan Willis [1]

Auch wenn wir – in unseren westlichen, vernetzten Gesellschaften – uns schon ein wenig aus dem Irrtum befreit haben, dass das „Digitale“ und das „Physische“ getrennte und unterscheidbare Sphären sind, so ist doch über die Natur des Realen auffällig weniger angemessen artikuliert worden: das Reale inmitten der schmutzigen, durchmischten Welt, in der wir leben. Das heißt, dass wir zwar mit einem hohen Grad an Sicherheit wissen, dass das Internet real ist, wir uns aber zunehmend unsicher darüber sind, wie sich diese Realität anfühlt und wie sie mit uns verfährt. Um die oben zitierte Formulierung von Susan Willis zum Ausgangspunkt zu nehmen: Die Zusammensetzung des Schleiers zwischen Realität und Fiktion scheint sich im Laufe der Zeit zu verändern. Was sind konkret Kette und Schuss in diesem „Schleier“? Was ist seine Textur? Wie fühlt sich Realität heute an?

Wenn wir in das glücklose Geschäft hineinstolpern, eine Definition des Realen zu versuchen oder der Realität Gestalt zu verleihen, vor allem nach oder seit dem Internet, dann wird oft als Gegenpol das Konzept des „Virtuellen“ bemüht. So ist das seit den späten 1990ern, und so wurde es durch die Plots von Science-Fiction-Romanen und Filmen verbreitet. Neuerdings hat auch noch die zeitgenössische Kunst mit ihrer eigenen, holprigen Liebesaffäre mit dem Virtuellen dazu beigetragen. Die zeitgenössische Kunst nimmt es in zweifacher Weise mit dem Virtuellen auf: durch die direkte Verwendung von Technologien der Virtual Reality (VR) und durch die Implementierung von Rhetoriken der Virtualität, die es erlauben, Werke zu beschreiben, die sich mit der wahrgenommenen Trennung zwischen diesen beiden entfremdeten Geschwistern – dem Realen und dem Virtuellen –herumschlagen.

Für eine Geschichte dieser Vernarrtheit müsste man viel weiter ausholen, als es hier der Platz und meine Expertise erlauben. Ich interessiere mich daher vorläufig einmal einfach für zwei Kunstwerke, beides Bewegtbilder: „Real Violence“ (2017) von Jordan Wolfson und „Mechanics of Empathy“ (2017) von Arthur Jafa. Beide holen diese Frage des Virtuellen an den Tag, mit vergleichbaren Zielen. Auf dem Weg nach unten ziehen sie höchst gegenwärtige Themen in ihren Orbit: Gewalt, Trauma, Zuschauerschaft und Ethiken der Zeugenschaft in einem sehr spezifisch amerikanischen Kontext.

Brian Massumi hat versucht, die Gegenwart des Virtuellen im populären Diskurs zu historisieren und zu definieren. Obwohl es populär ist, vom Virtuellen zu sprechen, „muss es als eine Dimension der Realität verstanden werden, nicht als deren illusionäres Gegenüber und kunstvolle Überwindung“ [2] . Massumis Klärung ist weniger simpel, als sie zuerst erscheinen mag; sie läuft aber darauf hinaus, dass das Virtuelle keinen Gegensatz zum Realen darstellt. Wenn schon, dann wäre das „Aktuelle“ als ein solches Gegenüber zu sehen.

Massumi schreibt: „Die Frage des Virtuellen, die auf diese Weise mit der Idee der Wahrnehmung zusammenhängt, ermutigt uns dazu, den Ort der Abstraktion in unserem Leben neu zu bedenken. Sie verunmöglicht eine einfache Entgegensetzung des Abstrakten und der Konkretheit der Erfahrung. Auch eine mechanische Alternative zwischen dem Künstlichen und dem Realen lässt sich nicht fabrizieren – als hätte das Artifizielle nicht seine eigene Realitätsweise. Die Angelegenheit wird nicht zu einer epochalen Auseinandersetzung zwischen dem Künstlichen und dem Realen, sondern positiver gesprochen zur formativen Beziehung zwischen dem Virtuellen und dem, was tatsächlich erscheint. Es geht um die Beziehung des Tatsächlichen zum Virtuellen, insofern sie die Wahrnehmung betrifft.“ [3]

Wenn man das „Virtuelle“ in der heutigen Kunst als Massumis Virtuelles rekontextualisiert, wenn man also über die Popvirtualität der Science-Fiction hinausgeht, dann rückt in den Blick, wie bestimmte Kunstwerke „die formative Beziehung zwischen dem Virtuellen und dem, was tatsächlich erscheint“, zu ihrem Gegenstand machen. Damit geben sie umgekehrt auch gewichtige Kommentare zu dem spontanen Gefühl, das wir von der Realität haben, wie wir sie erfahren. Um es ein wenig gestelzt auszudrücken: Kommentare zur Phänomenologie der digital vernetzten Realität. Die zwei Arbeiten, um die es hier geht, „Real Violence“ und „Mechanics of Empathy“, leisten dies, wie ich im Folgenden zeigen möchte.

In vielerlei Hinsicht könnten „Real Violence“ und „Mechanics of Empathy“ nicht unterschiedlicher sein. Zum einen ist die Arbeit „Real Violence“ – die bisher nur einmal in einem Ausstellungszusammenhang in Amerika zu sehen war, bei der Whitney Biennial 2017 – eine Virtual-Reality-Erfahrung, die das Publikum mithilfe von Oculus-Rift-Headsets macht. Sobald man sich die Apparatur aufgesetzt hat, landet man auf einer Straße von New York. Davor rotiert man aber noch durch die Lüfte, wovon einem ganz schön schwindlig werden kann. Der Künstler Jordan Wolfson steht im Zentrum des Blickfelds, vor ihm kniet ein Mann mit rotem Kopf. Man denkt unwillkürlich an IS-Bilder. In einiger Entfernung sind weitere Menschen zu sehen. Im Hintergrund ist ein Chanukka-Segen zu hören, während Wolfson den Mann zu schlagen beginnt. Das Gebet endet, und wir hören nur noch den diegetischen Lärm, während das Schlagen weitergeht. An einem bestimmten Punkt setzen auch diese Geräusche aus, und wir sehen nur noch die Schläge. An einem weiteren Punkt dreht sich die Kameraperspektive, und wir sehen alles auf den Kopf gestellt. An einem nächsten Punkt, vielleicht gerade in dem Moment, in dem man sich darauf eingestellt hat, dass das noch eine Weile so weitergehen wird, wird alles schwarz, und wir kehren in das helle Licht des Ausstellungsraums zurück. „Mechanics of Empathy“ hingegen ist ein Film. Auf den ersten Blick besteht eine große Ähnlichkeit mit „Love is the Message, the Message is Death“, einem weithin bekannten Werk von Jafa. In beiden Fällen werden Clips von Schwarzen Menschen aufgereiht. In „Mechanics of Empathy“ ist das Footage allerdings spezifischer. Es geht um Polizeibrutalität gegen Schwarze, um Waffengewalt; die Clips stammen aus einem stärker eingegrenzten Bereich von Quellen. Dazu kommt, anders als in „Love is the Message“, auch Material von Jafa selbst – vor allem Großaufnahmen einer jungen Schwarzen Frau, die in Tränen ausbricht.

Arthur Jafa, „Mechanics of Empathy“, 2016, Filmstill

Arthur Jafa, „Mechanics of Empathy“, 2016, Filmstill

Obwohl in den Werken von Wolfson und Jafa sehr unterschiedliche Themen behandelt werden – vereinfacht gesagt: weiße Männer gegen Schwarze –, haben beide jedoch eine ausdrückliche Fixierung auf Gewalt gemeinsam. „Real Violence“ von Wolfson ist zu einem gewissen Grad eine reine Performance von Gewalt: Er knüppelt mit einem Baseballschläger auf einen Mann ein (de facto ist es eine animatronische, computerbearbeitete Figur). Jafa hingegen unterzieht sich der unangenehmen Arbeit, das Internet nach Dokumentationen von Gewalt gegen Schwarze zu durchforsten. Beide Künstler nehmen das notwendigerweise abstrakte Konzept Gewalt und machen es nicht nur zum Gegenstand ihrer Untersuchung, sondern auch zu ihrem Material – sie unterbrechen die Zirkulation und bringen es mit den Themen in Verbindung, die ihnen wichtig sind; letztendlich konstatieren sie Gewalt als eine Grundbedingung für ihr Thema. Für Jafa sind Gewalt und Horror ein unmittelbar verknüpfter Teil Schwarzen Lebens [4] , und für Wolfson ist Gewalt allgegenwärtig – wobei man den Eindruck bekommen könnte, dass sie in seiner Sichtweise ziemlich unterschiedslos zirkuliert, auch wenn sie sich in der Einwirkung auf unterschiedliche Körper mit unterschiedlichen Härtegraden konkretisiert.

Gewalt ist also sowohl für das Konzept als auch für das abgebildete Geschehen in beiden Arbeiten zentral. Für einen Vergleich zwischen Wolfson und Jafa ist das jedoch der geringste Grund. Wichtiger ist, wie beide Gewalt verwenden, um die Erfahrung der Beobachtung von Gewalt herauszuarbeiten. Beide nutzen dabei Taktiken, in denen sie sich gegenseitig ergänzen, und werden dabei zu Landsleuten, die in einem Versuch übereinkommen, die Phänomenologie einer spektakelhaften Social-Media-Gesellschaft und die Virtualität von Trauma in einem vernetzten Internetzeitalter zu kommentieren. Die Virtualität von Trauma, um noch einmal Massumi zu folgen, verwendet das Virtuelle, um das zu beschreiben, was dem „Tatsächlichen“ gegen­übersteht, oder, wie Massumi es auch fasst, dem, was nicht „sinnlich“ ist. Das ist eine hilfreiche Ergänzung: Wenn das Tatsächliche den Bereich des Sinnlichen definiert, dann beschreibt das Virtuelle die Dinge, die auch in der Realität bestehen, aber nicht sinnlich sind. Das ist für mich eine der besten Definitionen des Internets – ein Bereich, in dem nicht sinnliche Interaktionen, Konflikte und Intimitäten beobachtbaren Kontakt mit unserem Fleisch ergeben und sich dabei für uns sehr real anfühlen.

Und in diesem Bereich ist Trauma derzeit angesagt. Oder anders: Trauma ist ein primärer Affekt, der die Beziehung von Menschen zum Internet in unserer heutigen Kultur bestimmt. Zum einen gibt es eine Menge Content über Trauma (man denke an die boomenden Publika­tionsmärkte für alles, was mit #MeToo zusammenhängt, und in einem längeren Zusammenhang mit #BlackLivesMatter). Trauma dient auch als Lackmustest: Communities formieren sich online um bestimmte geteilte Traumata-Identitätskonstellationen. Vor allem aber ist Trauma heute angesagt, weil sich die Aufmerksamkeit zunehmend auf die Frage richtet, wie Trauma sich zu der Phänomenologie des Internets verhält. Was bedeutet es, traumatisiert zu sein? Was bedeutet es, Gewalt zu erfahren ? Und all das im Bereich des Virtuellen – des nicht Sinnlichen .

So etwa wurde es in den frühen 2010er Jahren, nachdem #BlackLivesMatter zu einem weithin verbreiteten Hashtag wurde, immer wichtiger, Videos von Vorfällen mit Polizeigewalt gegen Schwarze in Umlauf zu bringen. Auf diese Weise sollte gezeigt werden, dass die Beamten tatsächlich rassistisch handelten. Allerdings schlug der öffentliche Diskurs ziemlich rasch um: Die Idee, dass solche Inhalte irgendetwas in Richtung „Gerechtigkeit“ bewirken könnten, geriet in Misskredit. Solche Bilder, meinten nicht wenige, dienten nicht so sehr als Beweismittel in rechtlichen Zusammenhängen, als sie für eine Spektakelmache Schwarzer Todesfälle in einem Land sorgten, das nach diesen Inhalten giert.

Arthur Jafa, „Mechanics of Empathy“, 2016, Filmstill

Arthur Jafa, „Mechanics of Empathy“, 2016, Filmstill

Dieses Argument hat sich selbst inzwischen noch einmal leicht verändert. Dabei wurde die frühere Nützlichkeitsunterstellung mit einem „Triggerwarnungsdiskurs“ verbunden, demzufolge man solche Inhalte nicht teilen – in manchen Fällen: nicht einmal erstellen – sollte, weil Öffentlichkeiten dadurch (re-)traumatisiert werden könnten. Es war diese Position, die nicht zuletzt die jüngste Diskussion um das Musikvideo „This is America“ von Childish Gambino charakterisierte, in dem man den Musiker und Schauspieler sieht, wie er mit einem Maschinengewehr einen Schwarzen Kirchenchor massakriert. Viele fühlten sich dadurch an das Massaker an neun Schwarzen Kirchgängern in Charleston 2015 erinnert. Das Video riss diese Wunde wieder auf. Doreen St. Félix schrieb im New Yorker , dass das Video schnell als „machtvolles Statement gegen Waffengewalt, als machtvolles Porträt eines Schwarzen amerikanischen Existenzialismus und als wirkmächtige Anklage gegen eine Kultur (gesehen wurde), die Videos von sterbenden Schwarzen Kindern mit der gleichen Leichtigkeit zirkulieren lässt, mit der Videos von Schwarzen Kindern beim Tanzen auf Parkplätzen herumgehen“. Gleichzeitig gab es eine Menge Schwarzer, „die das Video hassten. Glover zwingt uns dazu, öffentliche Traumata wieder zu erleben, und gibt uns kaum eine Sekunde zum Atmen, bevor er uns zum Tanzen zwingt.“ [5] Eine Menge Kritik an diesem Video lief auf den Punkt hinaus: Es sei das erzwungene Wiedererleben eines Traumas.

Auch Wolfson und Jafa konfrontieren die Betrachter*innen recht ungeschützt mit Gewalt. Aber im Gegensatz zu „This is America“, wo es um blinde Provokation geht (sensationalisierte Aufbereitung von Ideen und Bildern, die aus abgegrenzteren künstlerischen Zusammenhängen herausgehoben werden; das ist genau das, was Musikvideos gut können), richten Wolfson und Jafa Angriffe auf die Verfertigungen virtuellen Traumas. Sie wollen es auseinandernehmen, um zu sehen, wie es eigentlich funktioniert. Beide bieten eine „theoretische Praxis“ von Film im Gegensatz zu einer „ideologischen Praxis“. Sie versuchen, „Identifikation zu brechen und damit bei den Betrachtern eine kritische Aufmerksamkeit zu schaffen“, anstatt „Identifikation zu verbreiten“. [6] Weder „Real Violence“ noch „Mechanics of Empathy“ sind daran interessiert, Gewalt und Trauma einfach zu repräsentieren (in einem Fall nackte Gewalt, im anderen Fall eine allmähliche, einschnürende Gewalt, die aus dem knietiefen Morast amerikanischer Anti-Blackness hochkommt), sondern sie machen den Prozess der Zeugenschaft selbst zu ihrem Thema: das Zuschauen beim Zuschauen.

„Real Violence“ beispielsweise setzt die Zuschauerposition unter Druck. Die Arbeit zeigt Gewalt, die tatsächlich zu geschehen scheint, deren Tatsächlichkeit aber eine Unmöglichkeit darstellt. Durch den Titel „Real Violence“ für eine Arbeit, die eine Erfahrung virtueller Realität zeigt, setzt Wolfson ein ursprüngliches Paradox ein. Dieses wird durch die notwendige Unwirklichkeit der gezeigten Gewalt weiter verkompliziert, wie auch durch den gleichzeitigen – mutmaßlichen – Abscheu der Zuschauer*innen. Im Grunde ist das einzig Reale das Gefühl, mit dem man zurückbleibt, was auch immer das für ein Gefühl ist. Die Dynamik erinnert an die Situation, die Julian Dibbel 1993 in dem Artikel „A Rape in Cyberspace“ in der Village Voice thematisiert hat – er beschreibt darin einen sexuellen Angriff und dessen Folgen in einer textbasierten Online-Community namens LambdaMOO. Dibbel schrieb, dass „die Geschehnisse in einer MUD-gemachten Welt weder im strengen Sinn real noch vollständig fabriziert, dabei aber nichtsdestdoweniger tiefgehend, ergreifend und emotional wahr“ [7] sind. Vielleicht können wir das Gleiche über jede überzeugend konstruierte visuelle Umgebung sagen, ob mit einem VR-Headset oder auf einem Computerbildschirm spielt dabei keine Rolle.

Bei Jafas „Mechanics of Empathy“ verhält es sich anders. Diese Arbeit kann man nicht ohne Weiteres kategorisch ins Virtuelle versetzen. Ihre Form erscheint als reine Kinematografie. Wenn man allerdings der Position von Paul Virilio in „Die Sehmaschine“ folgt, dann können wir sagen, dass Jafas Kino in dieser Hinsicht ein virtuelles ist. Virilio schreibt: „Seit der Herstellung der Momentaufnahme, die schließlich die Herstellung von kinematografischen Filmen ermöglichen sollte, stellte sich in der Tat die Frage nach dem paradoxerweise aktuellen Charakter der ,virtuellen‘ Bilderwelt.“ [8] „Mechanics of Empathy“ richtet den Blick auf die Beziehung der Zuschauer*innen zu den realen Bildwelten von Gewalt gegen Schwarze; zeigt also nicht einfach die Sache selbst, sondern zeigt auch, wie eine Schwarze Frau dies sieht. Die Zuschauer*innen kommen in diesen Raum und stellen fest, dass sie nicht da sind, um dem Horror amerikanischer Gewalt zuzusehen, sondern einer anderen dabei zusehen, wie sie dabei zusieht. Indes wird aber nicht erwähnt, dass die Tränen dieser Frau auf der Leinwand gefakt sind und die ganze Beziehung vollständig konstruiert ist. Virilio schrieb in Bezug auf digitale Technologien auch über „die relativistische Fusion/Konfusion des Faktischen [oder, wenn man will, des Operationalen] und des Virtuellen; die Vorherrschaft des ,Realen als Effekt‘ über ein Realitätsprinzip, das schon seit Langem angezweifelt wird, besonders in der Physik“ [9] . „Mechanics of Empathy“ ist virtuell in erster Linie darin, dass es den Realitätseffekt der Tränen der Frau bevorzugt; und zweitens darin, dass es dieses virtuelle oder nicht sinnliche Trauma von Gewalt gegen Schwarze auf das Internet zentriert.

Noch einmal: Indem sie die Zuschauer*innen zu einem kritischen Bewusstsein zwingen, destabilisieren diese beiden Arbeiten die Positionierung dieser Zuschauer*innen so, dass sich die Arbeiten auf dieses andere, wildere Territorium hin öffnen können, in dem die Natur der Zuschauerschaft und die Erfahrung mit dem Internet infrage gestellt werden. In „Real Violence“ bekommen wir es mit der Möglichkeit zu tun, dass ein virtuelles Bild oder eine virtuelle Erfahrung emotional genauso real sein kann wie etwas anderes. In „Mechanics of Empathy“ werden wir anscheinend mit einer ähnlichen Potenzialität konfrontiert, werden aus dieser Erfahrung jedoch hinaus und durch den Raum geworfen, zurück in unsere Sitze. Der Film lässt die Zuschauer*innen seltsam neben der Schwarzen Frau stehen. Jeglicher Versuch, durch Identifikation dem Werk näherzukommen, wird dadurch erschwert. Nebeneinander gesehen, erhellen die beiden Arbeiten weniger das Virtuelle selbst, als dass sie Fragen über ihre eigene Ethik aufwerfen.

Um noch einmal Massumi zu zitieren:

„An seinem äußersten Ende liegt, wie Félix Guattari uns erinnert, die ultimative Bedeutung des Virtuellen in ,Wertuniversen‘, die der Natur nach ,unkorporeal‘ sind [nicht sinnlich wirklich]. In dieser axiologischen Dimension, bezüglich auf Universen des Werts, ist die Theorie des Virtuellen unmittelbar ethisch: Sie bezieht sich unmittelbar auf Handlungsverläufe, die einen dynamischen Lebensunterschied ergeben […]“ [10]

Wenn die Bedeutung des Virtuellen in seiner Ethik liegt, dann ist das erstens zunehmend und dringlicher der Fall, denn das Virtuelle (nicht Sinnliche) kolonisiert mehr und mehr von unserer Welt, und zweitens sind Wolfson und Jafa zwei von – wahrscheinlich zahlreichen – Künstler*innen und Filmemacher*innen, die sich mit dieser ethischen Dimension auseinandersetzen. Letztlich ist es wahrscheinlich so, dass man einen großen Teil der Beschäftigung der Gegenwartskunst mit Virtualität noch einmal neu betrachten und mit deren Erwartungen und Definitionen herumspielen könnte. Eine solche Neufokussierung würde wahrscheinlich das Potenzial für heutige Kunst und Politik erschließen, adäquater und mit größerem Geschick die Beziehung zwischen dem Internet, unseren Körpern, unseren verschwommenen Ideen vom Realen und Virtuellen zu navigieren, inklusive eines randlosen Übergangs – zwischen Sehen, Lesen und Erfahren, der unser Leben zu beherrschen scheint, jedenfalls in Amerika.

Übersetzung: Bert Rebhandl

Image credit: Courtesy of the artist, Sadie Coles HQ, London, photo Andrea Rossetti

Anmerkungen

[1]Zit. von dem verstorbenen Mark Fisher 2005 in einem Post auf kpunk.org. http://k-punk.org/left-hyperstition-1-the-fictions-of-capital/.
[2]Brian Massumi, „Envisioning the Virtual“, in: Oxford Handbook of Virtuality, hg. von Mark Grimshaw, Oxford 2014, S. 55.
[3]Ebd., S. 56.
[4]Jafa kommt auf diese Position immer wieder zurück. In einem Gespräch mit Saidiya Hartman im Museum of Modern Art in Los Angeles 2017 äußerte er etwa: „Ich meine, dass Schwarz-Sein unverbrüchlich mit Horror verbunden ist.“ (https://www.youtube.com/watch?v=YhX6Cb2MsDQ).
[5]Doreen St. Félix, in: New Yorker , 7. Mai 2018, https://www.newyorker.com/culture/culture-desk/the-carnage-and-chaos-of-childish-gambinos-this-is-america.
[6]Luciana Parisi/Tiziana Terranova, „A Matter of Affect: Digital Images and the Cybernetic Re-Wiring of Vision“, in: Parallax , 2001, Vol. 7, 4, S. 123.
[7]Julian Dibbell, „Rape in Cyberspace“, in: Village Voice , 1993.
[8]Paul Virilio, Die Sehmaschine, Berlin 2012, S. 139.
[9]Ebd. S. 138
[10]Massumi, a. a. O., S. 67.