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Blue Cubes: vollgelaufene Volumen Diedrich Diederichsen über die 58. Biennale in Venedig

Kaari Upson, „THERE IS NO SUCH THING AS OUTSIDE“, 2017–2019

Kaari Upson, „THERE IS NO SUCH THING AS OUTSIDE“, 2017–2019

„May You Live in Interesting Times“ verspricht der Titel der diesjährigen Venedig Biennale, die im Mai 2019 eröffnet wurde. Der von Ralph Rugoff gewählte Ausspruch rührt von einer chinesischen Weisheit her und kann in Zeiten, in denen wir von Krise zu Krise stolpern bzw. uns selbst hineinstürzen, fast nur augenzwinkernd ironisch gelesen werden. Und wer könnte besser geeignet sein als Diedrich Diederichsen jenem Rätsel, was genau diese interessanten Zeiten sein mögen, zwischen Arsenale und Giardini auf die Spur zu kommen?

Das Wetter wird immer schlechter in Venedig. Seit sie die Eröffnung immer weiter vorverlegen, haben wir in den Giardini ein massives Matsch­problem. Obacht mit dem Schuhwerk! Die Schlange vor dem französischen Pavillon war die längste. Man wurde außen herumgeführt, stapfte durchs Unterholz, wäre fast in einen Kanal gerutscht, um dann ganz hinten und unten eingelassen zu werden. Man soll empfinden, man sei unter Wasser. Es liegen maritime Hinterlassenschaften herum, Reste von Lebewesen, Strandgut – aber nicht wie an einem Strand, eher wie auf einem Meeresboden, den man dann langsam zum Hauptraum hin durchqueren kann, wo eine Art Kino errichtet ist. Laure Prouvosts Film ist dann vor allem ein Schnittereignis. Die lose erzählte Geschichte von einer Gruppe sehr diverser Spezialist*innen und Virtuos*innen, die, durch Frankreich reisend, an bizarren Locations haltmachend, schließlich zum Meer vordringen und auf diesem gen Venedig schippern, überzeugt weniger durch ihre zahlreichen allegorischen Anstrengungen als durch ein selten gesehenes Equilibrium aus Kamerabewegung und Schnitt. Dieser ist sehr hochfrequent, doch kann jede der oft sehr eigensinnigen und mitunter durchaus atemberaubenden Bildkompositionen als solche, als Komposition, erfasst werden. Die Schnitthektik lässt keinen Taumel aufkommen, die Augen bleiben weit offen.

Natascha Süder Happelmann, Deutscher Pavillon, 58. Biennale Venedig, 2019, Ausstellungsansicht

Natascha Süder Happelmann, Deutscher Pavillon, 58. Biennale Venedig, 2019, Ausstellungsansicht

Dennoch ist klar, dass die Körper in diesem zum Unterwassergarten aufgepeppten Gebäude sich einer immersiv verfassten Eindrucksfolge hingeben sollen: in die Bilder hineinkriechen, in ihrer warmen, dichten Strudeligkeit untergehen … Hallo, warmer Uterus, ich komme! Und mit dieser Einstellung ist man gut ausgerüstet bei der diesjährigen Biennale. Nicht nur, dass – da lag diese Zeitschrift mit ihrer letzten Themenwahl genau in der Zeit – das Thema Wasser/Unterwasser vom favorisierten französischen bis zum siegreichen litauischen Pavillon allgegenwärtig ist, ob im Hinblick auf Ökologie, Flucht übers Mittelmeer oder auf das Flüssige als Medium. Immersive 360-Grad-Umgebungen, die kein Außen kennen oder kennen wollen, sind auch das Prinzip vieler der prominenteren Beiträge zur zentralen Ausstellung im Arsenale und italienischen Pavillon: In Hito Steyerls überbordender, bonbonbunter KI-kritischer Rieseninstallation ineinanderstürzender Digitalien würde man gerne mal auf Droge eine Nacht durchtanzen. Und für eine nun auch dystopisch aussehende, aber ebenso sinnlich-berauschte Rundumversorgung hat Christian Marclay einige Dutzend Kriegsfilme samt infernalischer Knattersoundtracks zu einem ebenso extrem ansaugenden, flickernden, krachenden Spektakel digital übereinandergelegt, in das man auch entweder nur reinkriechen oder von dem man eben desertieren kann. Viele Arbeiten verknüpfen architektonisch erzeugte (oder vorgefundene) Unausweichlichkeit mit dem Vorschlag an die Betrachter*innen, psychedelisch reizvolle, quasiembryonale Positionen einzunehmen. Bei den Russen ist es wie immer der Keller.

Nun ist die Nation ja eh ein tendenziell immersives Konzept. Nationalpavillons neigen dazu, dies zu reproduzieren; in den letzten Jahren haben das viele Künstler*innen ausgenutzt. Ob Gregor Schneider oder Anne Imhof − gerade im deutschen Pavillon ist man gerne von einem Kunstwerk komplett umgeben. Auch Natascha Sadr Haghighian lässt ihre sehr unterhaltsame und pointierte Sequenz von Öffenlichkeits-Acts mit ihrem Alter Ego Natascha Süder Happelmann und ihrer Pressesprecherin Helene Duldung (Susanne Sachsse) in ein negativ-dialektisches Monument der nationalen Schließungen einmünden (genannt Ankersentrum): riesige Beton­mauer als Raumteiler, Sound-Art-Umhüllung, der Pavillon als Sarkophag. Da wird – wie in einigen anderen Arbeiten − der semantische Komplex von Flucht, Grenzmauer, Abschottung mit einer Form (Ästhetik der Mauer in der Tradition von Monumenten, Architekturen der Askese) in Verbindung gebracht (so wie andernorts das Schoah-Gedenken mit Minimal Sculpture), die dasselbe bedeutet, zugleich aber Form bleiben soll, also das Inhalt ermöglichende Andere des Inhalts. Mein Gefühl dazu schwankt zwischen: Das geht genau nicht! und: Das ist genau die einzige Möglichkeit! Nämlich nicht unähnlich dem Hakenkreuz-Bild bei Kippenberger − es gibt kein Verschnaufen für die Form. Über die Gestaltbildung wird sie eingeholt von Bedeutung, wenn sie glaubt, abstrakt verschnaufen zu können, wird sie zum Hakenkreuz.

Mit anderen Worten: Während viele Arbeiten mehr oder weniger angemessen in dieser Weise von der Festung Europa, ihrer maritimen Grenze und deren Horror handeln, benutzen sehr viele Arbeiten ähnliche installative Gesten des Einschließens oder Unterwassermotive, auch nicht völlig unreflektiert oder naiv, aber mal mit und mal ohne die Referenz der Flucht und des Grenzregimes und oft für einen leicht von ein bisschen Gratisgrusel benetztem ökologischen Surrealismus. Publikumslieblinge in der Gattung der sowohl kritisch-dystopischen wie überbordenden, reichen High-Production-Value-Installationen waren neben Steyerls This Is The Future die Arbeiten von Jon Rafman, insbesondere das Dream Journal, ein nie versiegender Fluss digitaler Erhabenheitschiffren (Landschaften), in denen sich zahllose posthumane Cyborghipsterwolpertinger tummeln (die meistens töten, verstümmeln, vergewaltigen und so weiter). Man müsste dieselbe Gewalt anwenden, um das herumliegende, süchtige Publikum gegen den Strom des surrealen Sogs wieder herausziehen zu können. Ich habe mich die ganze Zeit gefragt: Welcher Surrealismus ist das hier? Jedenfalls nicht Tanguy und Dalí wie bei Hippies und Heavy Metal. Cyprien Gaillard brachte die Antwort dann auf ein Hologramm: Natürlich der von Max Ernst! Mitten in einen von Danh Vo beherrschten Raum hat er eine 3-D-Version von Ernsts L’Ange du foyer von 1937 gestellt – gewissermaßen den anderen Engel der Geschichte (den von Klee kann man ja nicht mehr sehen).

Ralph Rugoff hat für die große Ausstellung in Arsenale und Giardini eine sehr gute Idee gehabt. Gegen das Altern des mittlerweile ziemlich durchgewunkenen Programms, den weiß-männlichen Geniekünstler zu stürzen, helfen zwei andere Techniken: zum einen die Feier nicht weißer, nicht männlicher, aber dann doch auch irgendwie genialer Genies, zum anderen und vor allem aber ein auch nicht ganz neuer, aber nüchterner und effektiver Umgang mit der alten Begriffskröte „Künstlerposition“. Es gibt fast durchgehend von jede*r beteiligten Künstler*in genau zwei Arbeiten, eine im Arsenale und eine im italienischen Pavillon. Bei sehr vielen Künstler*innen sind dies zwei in jeder Hinsicht sehr unterschiedliche Arbeiten, sodass die „Position“ nun aus einem sehr spannungsreichen Antagonismus heraus ermittelt werden muss. Vor allem, wenn man in der glücklichen Lage ist, über die Künstler*innen nichts oder wenig zu wissen, entsteht so eine neue interessante Version einer virtuellen Position zwischen diesen zwei Realisaten, eine Position ohne Bild, Klischee und fucking identity. So ideal wie bei Haris Epaminonda, Korakrit Arunanondchai, Arthur Jafa oder Kaari Upson, deren auf den ersten Blick inkommensurablen Arbeiten sehr geile Tertia Comparationis im Kopf entzünden (Was ist das abgefahrene Dritte, das diese Arbeiten womöglich verbindet?), verläuft das zwar nicht immer, aber es gibt doch bemerkenswert unlangweilige Momente in diesen Ausstellungen dank dieser virtuellen „dritten Werke“.

Laure Prouvost, Französischer Pavillon, 58. Biennale Venedig, 2019, Ausstellungsansicht

Laure Prouvost, Französischer Pavillon, 58. Biennale Venedig, 2019, Ausstellungsansicht

Hier aber noch eine andere Begriffskröte: „Qualität“. Trotz einiger großer Auftritte traditioneller Genres, trotz großartiger Gemälde (von u. a. Njideka Akunyili Crosby, Michael Armitage, Nicole Eisenman, Jill Mulleady, Avery Singer, Henry Taylor) und inspirierender Skulpturen (von Nairy Baghramian bis Michael E. Smith) gibt es ein verdächtiges Korrelat zwischen hoher technischer Produktionsqualität und künstlerischer Brisanz. Nie war man in den letzten Jahren weiter von der stets bedürftigen Arte Povera der politisierten und projektorientierten Kunst ökonomisch und materiell entfernt und befand sich doch mitten in deren Diskursen: den identitätspolitischen, ökofeministischen, queerfeministischen, neomaterialistischen, antirassistischen oder afropessimistischen. Das ist wie bei Black Panther: Es gibt mittlerweile zahllose nicht westliche, der euroamerikanischen Kunsthegemonie effektiv widersprechende Positionen, die trotzdem der Blockbuster-Logik der hier überall auftretenden, super hochgepitchten Production Values folgen. Damit habe ich vorderhand keine Probleme, aber damit, dass „Qualität“ sich zwar nicht immer kaufen lässt, ohne die privaten Budgets der Galerien jedoch auch keine „Qualität“ mehr möglich zu sein scheint. Das ist nicht Black Panther, das ist Bayern München.

Ein letztes Wort zu einem der zentralen Aufreger: Christoph Büchel hat ein echtes Schiffswrack, in dem über 80 Menschen auf der Flucht im Mittelmeer ertrunken sind, direkt an der Flanierstrecke am Arsenale aufgedockt. Ich rege mich schon so lange über solche obszönen Authentizismen in der Gegenwartskunst auf, dass ich die Empörung gar nicht mehr richtig hinkriege. Aber er ist nicht der Einzige. Teresa Margolles hat es auch schon wieder getan: eine Mauer mit echten Einschusslöchern aus der echten Ciudad Juárez und echte Poster, mit denen nach verschwundenen Frauen gesucht wird. Natürlich haben Büchel und Margolles die besten Absichten. Man braucht mal wieder eine Diskussion über die Ontologie von Kunstobjekten – ein großer Teil nicht westlicher Kunst hat da auch ein paar Fragen.

„58. Biennale Venedig: May You Live in Interesting Times“, Venedig, 11. Mai bis 24. November 2019.