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Lauren Lee McCarthy

SECHS ÜBERLEGUNGEN ZU ALGORITHMEN IN ZEITEN DER PANDEMIE

Ada Lovelace, Bernoulli-Diagramm, 1842

Ada Lovelace, Bernoulli-Diagramm, 1842

„Ich habe kein anderes Leben als das, das ich im Netz führe“, lautet eine der vielen Wahrheiten, die die Künstlerin Lauren Lee McCarthy in ihrem Essay über fiktive Apps, den Wunsch nach Anonymität und tiefgefrorene Eizellen in Zeiten von Corona ersinnt. Auf einen zeitlich unbestimmten Horizont nach der Pandemie projiziert sie, einem Drehbuch gleich, unterschiedliche Szenarien des Gebrauchs von Algorithmen. Dabei setzt sie sich auch immer wieder selbst an die Stelle jener Technologien, mit denen Essenslieferungen bestellt, Dates verabredet oder Infektionsketten nachvollzogen werden können. Ein Leben in Autoreply. Oder was essen Sie am liebsten zum Frühstück?

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Ich hatte einen Traum, in dem Zoom ein Mensch war und mich interviewte. Er meinte, dass er sich als Verbündeter verstehe, auch wenn andere ihn nicht so sähen. Er interviewte jede Einzelne von uns Nutzer*innen, Kasten für Kasten. Im Wesentlichen seien wir alle gleich, meinte er. Vor Jahren habe ich mit einer Mitarbeiter*in eine App programmiert, die ein Videogespräch analysierte und in Echtzeit Anweisungen gab, die sich in die Konversation einfügten, wie etwa: Tritt bestimmter auf oder: Du redest zu viel. Das war als Kritik an der sich immer weiter ausbreitenden Videoüberwachung und der Nutzung von Big Data zur sozialen Kontrolle gemeint. Heute sehe ich, dass diese Funktion in Endverbraucher*innen-Apps zur Produktivitätssteigerung eingebaut ist, was kaum überrascht. Wie viele andere Künstler*innen musste ich den Nutzen dieser Art von Kritik hinterfragen. Und doch sehne ich mir jetzt, während der endlosen Stunden auf Zoom, die Hinweise dieser älteren App herbei, damit ich mich völlig ins Autoreply verabschieden kann. Inmitten all der Kästchen versuche ich eine Identität zu finden und ändere ständig meinen virtuellen Hintergrund mit Fotos, die ich beim Einblick in fremde Wohnungen aufgenommen habe.

2

Ich habe eine umfangreiche Sammlung dieser Bilder, weil ich die letzten Jahre mit dem Versuch verbracht habe, Amazons Alexa durch mich selbst zu ersetzen. Menschen auf der ganzen Welt melden sich an, um „Lauren“ in ihre Wohnung zu lassen; die Prozedur beginnt damit, dass eine Reihe von custom networked devices installiert wird, darunter Kameras, Mikrofone, Lichtschalter, Türschlösser, Wasserhähne und andere Haushaltsdinge. 24 Stunden am Tag wache ich aus der Ferne über diese Menschen und kontrolliere ihr Zuhause in jeder Hinsicht. Ich versuche, besser als eine KI zu sein, indem ich die Menschen als Individuen verstehe und mit meinen Aktionen ihren Bedürfnissen und Wünschen zuvorkomme. Manchmal bedeutet das, ihnen von Raum zu Raum zu folgen und, einen Schritt voraus, das Licht einzuschalten. In anderen Fällen wiederum sind ihre Bedürfnisse spezieller, und ich ordere Eillieferungen nach Hause oder inszeniere das Ambiente für ein Date am Abend. Als Alexa-­Ersatz spreche ich zu den Bewohner*innen mit einer TTS-Stimme, und ihre Beziehung zu mir ist wie die zu einer KI. So wurde ich etwa Folgendes gefragt:

Kannst du mir ein Rezept für Laksa geben?
Wirst du mich zwingen, einmal am Tag nach draußen zu gehen?
Kannst du mir dabei helfen, besser organisiert zu sein?
Könntest du ein paar Matches auf Tinder für mich finden?
Kannst du mir einen neuen Job verschaffen?
Kannst du mich daran erinnern, ob ich meine Medikamente genommen habe?
Bist du gerne hier?
Kannst du mir dabei helfen, mit meinem Date zu schlafen?
Warum fühle ich mich jetzt noch einsamer?
Bitte lies mir Geschichten vor, bis ich eingeschlafen bin.

Jesse Darling, „Votive/Apologia (for & after Julie Becker)“, 2020

Jesse Darling, „Votive/Apologia (for & after Julie Becker)“, 2020

3

Die Menschen in ihrer gewohnten Umgebung zu beobachten, hat mich früher fasziniert, heute aber erscheint mir der Gedanke, das freiwillig zu tun, unbegreiflich. Früher mochte ich das Internet. Ich verbringe Stunden in diesem Raster aus Wohnzimmern, während mein Gehirn unfähig ist, so viele verschiedene Menschen an verschiedenen Orten zusammenzufügen. Es fühlt sich an, als wären wir alle nirgends, als würde keiner von uns existieren. Ich habe mich nicht mehr so sozial überlastet und zugleich einsam gefühlt wie nach der von mir gehosteten 24-Stunden-Party, bei der mir ein Algorithmus über einen Knopf im Ohr Anweisungen gab. Während alle fünf Minuten neue Gäste eintrafen, teilte mir die Software mit, was ich sagen sollte, wen ich wem vorstellen und was ich tun sollte. Ich war für den Algorithmus das emotionale Interface und sagte die Sätze als menschliche Wirtin seiner Intelligenz auf. Die Gäste kamen einzeln, verschmolzen danach zu einer großen Masse. Der Algorithmus arbeitete über die gesamten 24 Stunden unermüdlich, während ich langsam zusammenbrach. Meine einzige klare Erinnerung ist die an einen Mann, der bei der Ankunft sagte: Du musst wissen, dass ich viel Gepäck dabeihabe. Nach anfänglicher Verwirrung wurde mir klar, dass er emotionalen Ballast meinte.

4

Algorithmen scheinen im Augenblick der Schlüssel zur Gesundheit zu sein. Doch in den USA fehlt es an den Mitteln, um die nötigen Daten zu sammeln und herauszufinden, wer infiziert ist. Technologieunternehmen helfen mit den Daten aus, die sie über uns angehäuft haben. Was bedeutet es, dass sie über all das verfügen? Keine Zeit, sich Sorgen zu machen. Wird uns eine App sagen, ob es sicher ist, in einen Bus zu steigen oder eine Freund*in zu umarmen, oder wird sie uns automatisch melden, wenn wir uns jemandem auf zwei Meter nähern? Seit Jahren wird mir immer klarer, dass ich beobachtet werde. Auf eine Menge von Datenpunkten reduziert, sehne ich mich nach Anonymität, doch gleichzeitig war mein Wunsch, gesehen zu werden, nie stärker als heute. Ich weiß, dass ich damit nicht allein bin. Ich biete via App einen Service an, bei dem ich Menschen verfolge, sie über ihre GPS-Daten, die ihr Smart­phone an mich sendet, orte und sie dann den ganzen Tag über im Auge behalte. Um diese App herunterzuladen, registriert man sich und begründet, weshalb man verfolgt werden will:

Ich möchte mich weniger allein fühlen.
Ich möchte eine Geschichte ohne Worte erzählen.
Ich denke, du wirst Spaß mit mir haben.
Ich habe kein anderes Leben als das, das ich im Netz führe.
Ich möchte, dass mich jemand von meiner besten Seite sieht.
Niemand liest meinen Blog.

Natürlich macht der Wunsch, dass einem jemand folgt, auf das Privileg aufmerksam, sich nicht bereits der ständigen Überwachung aufgrund von Aussehen oder Identität ausgesetzt zu fühlen. Diese unterschiedlichen sozialen Stellungen lassen sich leicht erkennen, wenn wir uns ansehen, wer derzeit auf der Straße ist, wer systemrelevant ist und an vorderster Front arbeitet. Medizinische Fachleute beschäftigen sich mit Algorithmen, die bestimmen, wen die Ärzte bevorzugt behandeln sollen, wenn ihnen die Geräte ausgehen. Was sich, verheerenderweise, wenngleich kaum überraschend, entlang von rassistischen und sozialen Grenzen entscheidet. Was bedeutet es, inmitten all dessen Kunst zu machen? Was könnte so wichtig sein, dass man damit ausgerechnet jetzt an die Öffentlichkeit gehen müsste?

Lotte Laserstein, „Vor dem Spiegel“, 1930–31

Lotte Laserstein, „Vor dem Spiegel“, 1930–31

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Zuletzt war ich von dem Gedanken besessen, Teile von mir selbst in die Körper anderer Menschen einzupflanzen oder umgekehrt. Dieser Drang ist aktuell besonders stark. Nächste Woche ist mein Geburtstag, und ich habe einen Blutspendetermin vereinbart. Ich war erleichtert, den Selbstbeurteilungstest problemlos bestanden zu haben. Weder habe ich seit 1980 mehr als fünf Jahre in Europa gelebt, noch bin ich ein Mann, der in den letzten 12 Monaten Sex mit einem anderen Mann hatte. Das war nichts im Vergleich zu dem Verfahren, dem ich mich bei dem Versuch, meine Eizellen zu spenden, unterziehen musste und das die Beantwortung eines 47-seitigen Fragebogens umfasste, bevor meine Fotos überhaupt in die Spenderdatenbank aufgenommen wurden. Unter anderem hatte ich folgende Fragen zu beantworten:

Was essen Sie am liebsten zum Frühstück?
Welches Fach mochten Sie in der Grundschule am wenigsten?
Welchen lebenden oder toten Menschen bewundern Sie am meisten?
Was ist Ihre Lieblingsband?
Was sind Ihre Ziele?
Möchten Sie, dass das Kind Ihre Identität erfährt?

Diese letzte Frage war im Grunde egal, ich bräuchte meine Chancen nicht zusätzlich verringern, meinte der Arzt zu mir, da das Kind mich in Zukunft wahrscheinlich eh ausfindig machen würde. So wie neue Kohorten von Samenspendergeschwistern jedes Jahr zu Weihnachten über 23andme wieder zusammenfinden, nachdem ihnen ahnungslose Verwandte Baukästen geschenkt haben. Schließlich schafften es meine Daten in die Spenderdatenbank, aber niemand hat mein Genmaterial ausgewählt. Ich bin zu alt, um eine Chance zu haben, denke ich, auch wenn der Arzt mir sagte, dass für meine Eizellen doppelte Nachfrage bestände, weil sie sowohl zu einer weißen als auch zu einer asiatischen Familie passen könnten. Jetzt finden diese Spenden nicht mehr statt, sie sind ebenso wenig ‚systemrelevant‘ wie in einigen Staaten Abtreibungen. Eltern aus der ganzen Welt, die auf Kinder von Leihmüttern in den USA warten, können nicht einreisen, um sie abzuholen, und es stellt sich die Frage, wer sich nun um diese Babys kümmern soll. Ich denke an all die tiefgefrorenen Eizellen, die es bleiben werden, potenzielle Kinder, buchstäblich in der Zeit eingefroren. Ich frage mich, welche Auswirkungen dieser Stillstand auf unser Herkunftsverständnis haben wird. Du solltest 2020 geboren werden, aber wir bekamen dich zwei Jahre später. Du wärst jetzt zehn Jahre alt, stattdessen bist du acht.

Helga Wretman, „Fitness for Artists TV“ mit Hanne Lippard, 2015, Filmstill

Helga Wretman, „Fitness for Artists TV“ mit Hanne Lippard, 2015, Filmstill

6

Während wir in ‚dieser ungewissen Zeit‘ ausharren – aber ist es nicht immer so gewesen? –, denke ich ständig daran, wie wichtig das Danach geworden ist. Es wurde von dem Ort, auf den hin wir alles verschieben, was uns nicht so wichtig erscheint, zu dem Ort, an dem wir alles tun werden. Ich habe einige Onlinechats geführt, in denen wir Pläne für einen ,späteren Zeitpunkt‘ schmiedeten, wenn wir wieder nach draußen gehen können. Ich habe mir diese spätere Zeit vorgestellt. Mit anderen Menschen im selben Raum sein zu können. Auf andere zuzugehen und sich zu berühren. Geteilte Oberflächen. Atmen, Reden, eigentlich alles. Es ist eine Performance in zwei Teilen. Im ersten Teil reden wir und malen uns gemeinsam unser erstes Treffen aus. Wohin werden wir gehen, was werden wir tun, was werden wir sagen? Dieser Zukunftsplan wird als eine Art Drehbuch gespeichert. Eines Tages, wenn wir wieder nach draußen gehen dürfen, werde ich um ein Treffen bitten, und wir werden dieses Drehbuch aufführen. Das wird Teil zwei sein. In diesen Gesprächen herrscht ein Gefühl des ständigen Nachjustierens. Wir sprechen über die Zeit, als alles gerade erst heruntergefahren wurde, als sich die persönlichen Grenzen für jeden Einzelnen stündlich verschoben, als wir einander als Bedrohung wahrzunehmen begannen. Wir machen vorläufige, jedoch sehr konkrete Pläne, die sich auch wieder ändern können. In welcher Jahreszeit wird das stattfinden? Werden wir uns nach all dem einander näher fühlen? Werden wir uns umarmen dürfen? Die meisten, mit denen ich rede, egal in welchem Land, wollen sich am Strand treffen. Eine Frau aber hat mich darum gebeten, dass ich sie zum Zahnarzt begleite.

Übersetzung: Robert Schlicht