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Katharina Hausladen

WER SAGT DENN DAS? Der Algorithmus, den wir „Konsens“ nennen

Christina Tscharyiski, „Revolt. She said. Revolt again. / Mar-a-Lago von Alice Birch / Marlene Streeruwitz“, Berliner Ensemble, 2018

Christina Tscharyiski, „Revolt. She said. Revolt again. / Mar-a-Lago von Alice Birch / Marlene Streeruwitz“, Berliner Ensemble, 2018

Automatisierung und Algorithmen sind für Diskriminierung prädestiniert: Als gesellschaftlich bestimmte Phänomene reproduzieren sie immer auch die Asymmetrien, die sie konstituieren. Eben weil das Verhältnis von Macht und Gesellschaft aber nicht einfach gegeben ist, sondern immer wieder neu ausgehandelt werden muss, stellt sich auch die Frage nach dem politischen Konsens, der hierbei handlungsleitend sein soll, als eine der zentralen Fragen von (linker) Herrschaftskritik. Mit Kunst teilt diese Kritik, wie die Chefredakteurin von „Texte zur Kunst“, Katharina Hausladen, argumentiert, eine eigentümliche Freiheit – die Freiheit zur ästhetischen Veruneindeutigung, des Formulierens von Problemen der Form.

Wäre der Virus ein Code, wüsste ich ihn nicht zu lesen. Wäre die Pandemie eine Metapher, könnte ich nicht sagen, wofür. Die Eindeutigkeit, die Algorithmen im informationstheoretischen Sinne, nämlich im Sinne der Berechenbarkeit von Problemen, verlangen, um Handlungsvorschriften zu deren Lösung zu generieren, hat Identifizierung jedoch notwendig zur Voraussetzung. Genauer: die Identifizierung von etwas als Problem. Ist das Problem nicht bekannt, kann es nicht gelöst werden. Erst der Ausschluss von Mehrdeutigkeit macht Handlungssteuerung möglich, und erst das Auftauchen eines Problems macht eine Veränderung unseres Handelns nötig.

Nun sieht Kritik, also die Praxis des Urteilens, sich nicht erst unter dem Eindruck der Corona-­Krise vor die Herausforderung gestellt, dass Urteilen immer auch eine Begrenzung und Aussetzung von Kontingenz bedeutet und insofern immer auch um den Preis der „Vernichtung von Unbestimmbarem, von Ambiguität und Differenz“ [1] geschieht: Jedes Urteil verschließt sich, wie revidierbar auch immer, gegenüber jeweils bestimmten Alternativen. Dies kann es aber nur, weil unser Handeln nicht von Vornherein feststeht, weil Gesellschaft als historische veränderbar ist. Die Tatsache, dass etwas auch anders (möglich) sein kann, seine Kontingenz, ist somit eine Bedingung der Möglichkeit von Vereindeutigung, und das heißt eben auch: eine Bedingung der Möglichkeit von Bestimmtheit. Es ist kein Zufall, dass „Krise“ den gleichen Wortstamm hat wie ihre Beurteilung: „Kritik“. Das Krisenhafte einer historischen Konstellation muss erst ermittelt, vereindeutigt, ausdrücklich gemacht werden, um die Offenheit von Geschichte als Gegenstand von Kritik erhellen zu können.

Amelie von Wulffen, „Mädchen hinter Gittern“, 2018

Amelie von Wulffen, „Mädchen hinter Gittern“, 2018

Gegenüber dieser quasi naturgemäßen Dialektik von Kritik, die sich als Veränderungsdenken bei gleichzeitiger Bestimmung des z. B. ethisch oder ästhetisch Gebotenen beschreiben ließe und die besonders für jene Kritikbemühungen gilt, die sich mit Praktiken der Verunklärung befassen (sei es der Verunklärung von Geschlecht oder der von ethnischer Zugehörigkeit), sind es besonders die Produktionsmittel des Widerstands, die sich durch die Corona-Pandemie verändern. Nicht nur in dem spezifischen Sinne, dass dort, wo Versammlungsfreiheit nicht gegeben ist, wo vielmehr das Unterlassen von Sozialität als gratisrechtschaffener Akt der Solidarität gewertet wird, analoge Formen des Protests (wie etwa Demonstrationen, Autokorsos, Banneraktionen o.  Ä.) undenkbar, zumindest aber illegalisiert werden; erst recht solche Protestformen, die der digitalen Überwachung und Bestrafung mit Strategien der Desidentifikation gezielt entgegenwirken. [2] Im Gegenteil haben durch Corona digitale Überwachung (Smartphone-Tracking, Körpertemperatur-­Scanner, automatisierte Gesichtserkennung etc.) und gezielte Desinformation (so wie Russland und die USA setzt nun etwa auch China zum ersten Mal im großen Stil auf Trolls und Bots) mehr denn je Konjunktur.

Neben dieser Tendenz zu identifikatorischen Maßnahmen der Kontrolle und der Zensur, die der Eindämmung des Virus dienen sollen, dabei aber vor allem zu geopolitischen Machtdemons­trationen genutzt werden und der Stigmatisierung von Krankheit Vorschub leisten (die Mundschutz Tragenden mögen mittlerweile gesellschaftlich akzeptiert sein, die mit Covid-19 Infizierten sind es nicht), lässt sich aber auch eine viel grundlegendere Veränderung der für Kritikproduktion eingesetzten Mittel beobachten oder richtiger: der Gesamtheit wirtschaftlicher wie organisatorischer Maßnahmen. Entscheidend ist, ob einige dieser Maßnahmen künftig auch gegen jenen Autoritarismus, mit dem derzeit Länder wie Brasilien, China, der Iran und nicht zuletzt Österreich ihre politischen Repressionen durchsetzen, bestehen und institutionalisiert werden können.

Ich denke hier beispielsweise an Maßnahmen wie Soforthilfeprogramme für Selbstständige, die Aufnahme von Obdachlosen in Hotels, den Schutz vor Kündigung von Mieter*innen, die in Mietrückstand geraten sind, die Evakuierung von Flüchtlingsunterkünften auf den griechischen Inseln oder die Fortführung der aufgrund von Corona unfreiwilligen Verringerung des globalen CO2-Ausstoßes durch Investitionen in erneuerbare Energieträger. Die geplante und zum Teil auch schon vollzogene Durchsetzung von Forderungen wie diesen könnte in der Tat eine Errungenschaft sein, die nicht in Absehung der ungleichen Verteilung der Folgen der Corona-Pandemie ­(darunter gesundheitliche Ungleichheit, Verschärfung der globalen Hungerkrise sowie erhöhte Arbeits- und psychische Belastung von Personen im Dienstleistungssektor) geschähe, sondern gerade in Reaktion auf diese. Hierzu wäre aber ein gesellschaftlicher Konsens nötig, der aus dem habituellen Konsens der Unterbrechung einen positiven der Herrschaftskritik formulieren würde, sofern die aktuellen Restriktionen Post-Corona nicht in umso brutalere Ausbeutungs- und Diskriminierungsverhältnisse münden, sondern deren Abbau allererst in Gang bringen sollen.

Anna Halprin / Anne Collod, „Blank Placard Dance, Replay“, Tanz im August, Berlin, 2017, Performance

Anna Halprin / Anne Collod, „Blank Placard Dance, Replay“, Tanz im August, Berlin, 2017, Performance

Veränderlich nur unter bestimmten Bedingungen

In den sogenannten Gefängnisheften (1929–1935), die Antonio Gramsci während seiner knapp elfjährigen Haft als politischer Gefangener zur Zeit des Faschismus unter Benito Mussolini schrieb, betont der Sozialist und Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens, dass Herrschaft niemals nur Zwang und Unterdrückung voraussetzt, sondern immer auch auf bewusste wie unbewusste Zustimmung und Konsens angewiesen ist. [3] Unbewusst deshalb, da wir selbst dann, wenn wir einen hegemonialen Konsens nicht teilen oder womöglich sogar selbst von ihm unterdrückt werden, bestimmte hegemoniale Verhaltensweisen derart verinnerlicht haben, dass wir diesen Konsens mit unserem Verhalten stützen. Dies gilt in gleicher Weise für Algorithmen. Wenn etwa digitale Assistenten wie Alexa das Bild der dienstleistenden Frau aufrufen, Infrarot-Seifenspender nicht auf dunkle Haut reagieren, Siri nur Oxford-Englisch versteht oder Polygraphentests für Migrant*innen, die an der Grenze einen Asylantrag stellen und deren Glaubwürdigkeit mit solchen Tests geprüft werden soll, durch das Generieren von Stresssituationen Unwahrheiten nur umso wahrscheinlicher machen, liegen diesen Automatisierungsprozessen Daten zugrunde, die Ausdruck eines ganz bestimmten gesellschaftlichen Konsenses sind. [4] Oder allgemeiner gesprochen: die Ausdruck „einer Kette von Entscheidungen [sind], wodurch eine Technologie programmiert wird, die allein von der Konzeption her für Diskriminierung prädestiniert ist“ [5] , wie die Politikwissenschaftlerin und Gründerin von The Ethical Tech Society Lorena Jaume-Palasí zusammenfasst.

Die Asymmetrien, die Daten hervorrufen, sind so verstanden Asymmetrien, die in der Gesellschaft bereits vorhanden sind; ja, die in dieser vorherrschen und durch Technologien, die in spezifischen sozialen Kontexten – beispielsweise von männlichen Akademikern kaukasischen Typs – entwickelt wurden, weiter reproduziert werden. Allerdings bleiben Automatisierung und Algorithmen nicht auf diskriminierende Praktiken beschränkt. Ebenso könnten sie, wie Jaume-Palasí in einem gemeinsam mit einem Kollegen verfassten Arbeitspapier einräumt, zur Identifizierung von Mustern der Ungleichheit und damit zur Steuerung von Diskriminierung genutzt werden. [6] Dem Problem der Standardisierung, die Unterschiede schafft, entkommt man jedoch auch hier nicht: „Es gibt immer wieder Menschen, die dazwischen geraten, zwischen die Kategorien“ [7] , so Jaume-Palasí. Die einzige Möglichkeit, auf den Bias der jeweiligen Mehrheit zu reagieren, sei die ständige Arbeit an diesem Dazwischen, seiner inklusiven Einbindung also. Inklusion setzt aber, ähnlich wie Integration, immer schon die Einhegung eines Außen in einen stabilen Konsens voraus, anstatt den Konsens selbst infrage zu stellen. Wie aber könnte man an einer bestehenden Herrschaftsordnung, an einem bestehenden Konsens anders Kritik üben als durch Konsensbildung? Richtig: gar nicht. Wer nicht derart regiert werden will (Foucault), muss sich zusammenfinden, um sich „von den Regierenden […] unabhängig zu machen“ [8] , wie es bei Gramsci heißt. (Dies ist u. a. ein Grund, weshalb ausgerechnet die Neue Rechte sich – wenn auch rein instrumentell – zuweilen auf Gramsci stützt, wobei hier Rhetoriken der Widerständigkeit den Status von Letztbegründungen erlangen.)

Indessen stellt sich die Frage, wie sich gesellschaftliches Handeln in der gegenwärtigen Situation überhaupt als ein konsensuelles artikulieren kann. Wie kann aus dem permanenten Blick von innen nach außen – von meiner selbst geschneiderten Atemschutzmaske zu deiner, vom Homeoffice in den Hof, durch das Bullauge der Videokonferenz, verbunden mit den Wohn- und Arbeitszimmern dieser, eher selten: Welt, meistens dann doch: nordwestlichen Hemisphäre – ein gesamtgesellschaftlicher werden? Oder anders: Wie lässt sich aus den verstreuten, aber vielfach geteilten Erfahrungen einzelner eine Regelmäßigkeit ableiten, aus der Handlungsanweisungen gefolgert werden können, die keine Kapitalisierung des richtigen Lebens im falschen beinhalten, keine Frage also der richtigen Konsumentscheidung oder des besseren Produkts sind, sondern, mit Claude Lefort gedacht, eine Frage der richtigen Lebensform – der autonomen Gesellschaft? [9] Wäre dies dann nicht auch eine Art Algorithmus? Ein Algorithmus allerdings, der nur so viel steuert, dass ein Offenhalten der Gesellschaft für Alternativen garantiert sein soll? Nicht für eine einzige ‚Alternative‘ (wie bei den Rechten), sondern für die Option auf Alternativen, auf Alternativen im Plural (einst Synonym für linke Politik)?

Bemerkenswert erscheint mir in diesem Zusammenhang, dass Handlungshemmung das Gebot der Stunde ist: die Langsamkeit, die Gleichförmigkeit, der Appell, nicht zu tun, aber freilich nie, nichts zu tun! Man muss keine Verfechter*in der Entschleunigung sein, um festzustellen, dass immer noch viel zu viel von dem getan wird, was nicht getan werden sollte, als dass von einem Ende kapitalistischer Ausbeutung, von einem Ende sexualisierter Gewalt oder von einem Ende rassistischer, vielfach auch und erneut antisemitischer Angriffe die Rede sein könnte: Kunstinstitutionen versuchen den Wegfall ihrer Ausstellungen damit zu kompensieren, dass sie von Künstler*innen gratis Content für ihre Webseiten produzieren lassen und beuten somit die Arbeitskraft von durch die Corona-Krise ohnehin stark prekarisierten Freiberufler*innen aus; häusliche Gewalt nimmt in Zeiten der sozialen Isolation nicht nur zu, die Anzeigen gegen die Täter nehmen auch ab, je länger die Isolation andauert; und schließlich kursieren antijüdische Verschwörungstheorien im Zusammenhang mit Corona ebenso wie solche, die eine Verbindung von Krankheit und Migration zu sehen glauben. Eine ­Unterbrechung der zahlreichen und vielfach miteinander verschränkten Ausschlüsse, die dynamisch-kapitalistische, mobile und von extremer Ungleichheit bestimmte Gesellschaften reproduzieren, ist daher immer nur unter historisch bestimmten Bedingungen möglich; die Forderung nach Gleichheit kann, anders gesagt, allein unter Berücksichtigung realer Ungleichheiten erhoben werden. Welche wären solche Bedingungen etwa mit Blick auf Kunst?

Paolo Uccello, „Niccolò Mauruzi da Tolentino at the Battle of San Romano“, ca. 1438–1440

Paolo Uccello, „Niccolò Mauruzi da Tolentino at the Battle of San Romano“, ca. 1438–1440

Kunst der Kritik

Wenn Kunst eine Art der Formulierung und Klärung von Problemen darstellt, nicht zuletzt von Problemen der Form, mehr noch: von „Probleme[n] der Form […], die man eigentlich nicht haben müsste und deren Lösungen sonst keiner braucht“ [10] , wie Ekkehard Knörer treffend feststellt, wäre eine solche Zweckfreiheit oder scheinbare Nutzlosigkeit vielleicht genau das, was für Herrschaftskritik momentan nottut – jedenfalls dann, wenn Handlungssteuerung im autoritativen, identitätslogischen Sinn der diskursive Gegner ist. Denn ebenso wie es keine Netzneutralität gibt, versteht auch Kunst sich nicht von selbst; macht Kunst vielmehr – im gelungenen Fall – darauf aufmerksam, dass Gesellschaft nicht einfach gegeben ist. Darin liegt ihre Politizität, nicht erst in der ausdrücklichen Bearbeitung politischer Inhalte.

Nun finden Subjektivität und Selbstbestimmung, wie Künstler*innen sie zwar auch jenseits, erst recht aber für personenförmige Kunst beanspruchen, in Social Media Vermarktungsformen und ästhetische Formate, die einerseits performative Wirkung versprechen, andererseits ein spezifisch künstlerisches oder jedenfalls ästhetisches Wissen um das Erreichen dieser Wirkung verlangen. Selbstbestimmung und Selbstoptimierung liegen hier nahe beieinander: Nicht selten wird es als Mangel angesehen, in den sozialen Netzwerken nicht dermaßen präsent zu sein. Für Juliana Huxtable – Autorin, Künstlerin, Model, DJ, Mitglied des Künstler*innenkollektivs House of Ladosha und Co-Gründerin der queeren New Yorker Partyschiene Shock Value – bedeutet diese Präsenz eine Sichtbarkeit nicht nur als Künstlerin, sondern auch als afroamerikanische Transfrau.

2015 von Lauren Cornell für die von ihr mit Ryan Trecartin kuratierte Triennale des New Yorker New Museum ,entdeckt‘, war Huxtable auf Social-Media-Kanälen wie Instagram und Tumblr zu dieser Zeit bereits ein Star. Die Tatsache, dass Huxtables Kunst mit zunehmendem Erfolg immer häufiger auf ihre Person reduziert wurde, mag angesichts ihrer ausdrücklich von Trans- und Post-Gender-Identitäten handelnden, an bestimmte Formen queerer Expression in der Performancekunst anknüpfenden Arbeiten (wie u. a. Warhols Superstar Mario Montez, Lorenza Böttner und Ashley Hans Scheirl sie verkörpern) nicht verwundern. [11] Solcherlei Reduktion ist indes ein Problem, das nicht nur aus der Fixierung auf alles Subjektförmige resultiert, die den Kunstmarkt unter neoliberalkapitalistischen Bedingungen als eine Konjunktur der Authentizität bestimmt, sondern sich auch in der Vorstellung des sein Leben vollständig der Kunst widmenden, mit seiner Existenz prinzipiell ringenden Künstler*innensubjekts ausdrückt. Nicht zuletzt zementiert aber auch das sich stetig haltende Missverständnis einer immer schon expressiv gedachten Beziehung zwischen Künstler*in und Kunst den Funktionalismus künstlerischer Produktion als Ventil der Psyche einer ebenso leidensfähigen wie mit außerordentlichem Erkenntnisvermögen ausgestatteten, souveränen Autor*innenfigur.

1.Mai in Kreuzberg, Berlin, 2020

1.Mai in Kreuzberg, Berlin, 2020

Die Verschiebung der Bedeutung linker Begriffe wie „queer“ oder „trans“ auf alles nur irgendwie ‚Extreme‘ sowie ihre politische Entleerung durch eine gleichsam inflationäre wie identitäre Anwendung auf alles, was von der kapitalistischen Marktökonomie noch nicht erschlossen ist – „the public consumption of trans right now“ [12] (Huxtable) –, geschieht umso mehr dort, wo der soziale Kontext ein stark homogener und kapitalisierter ist wie in der bildenden Kunst. Repräsentationskritisch gesprochen, kann Huxtables Sichtbarkeit daher zwar als eindeutiger Erfolg der LGBTIQ-Community gefeiert werden, der schon aus dem Grund nicht geschmälert werden darf, dass Frauen* nicht automatisch zu höheren Standards gezwungen sein sollten als der patriarchal-heterosexistische Konsens, gegenüber dem jene allererst Sichtbarkeit und Macht erringen. Kurzum: Es wäre schlicht fahrlässig, hinter diese Eroberung zurückzufallen. Der Rebound-Effekt dieser Kommodifizierung ist jedoch der einer Verkürzung von Huxtables Kunst auf ihre Politik und damit einer Reduktion der ästhetischen Legitimität von Queerness auf konjunkturabhängige Themen und Fragen.

Dabei zeigt sich die ästhetische Qualität von Huxtables in diversen institutionellen, öffentlichen und medialen Feldern angesiedelten Arbeiten gerade an den Schnittstellen von Kunst und Nachtleben. Dies bewies bereits das 2007 gegründete und nach wie vor dies- wie jenseits des White Cube aktive Bandprojekt House of Ladosha, dessen Mitglied Huxtable ist: In Anlehnung an New Yorker Ballroom-Kultur und (queeren) Chicagoer House voguen und rappen hier unterschiedliche „Ladoshas“, ganz im Sinne jener black sister, die das Bandlogo – eine Hommage an das von Versace – anstelle der Medusa ziert. Während der musikalische Einfluss von Missy Elliott und Rihanna unverkennbar ist, queeren Videos wie „B/M/F“ (2010) und „Total Domination“ (2010) nicht nur das Klischee männerdominierten Hip-Hops à la Drake oder Lil Wayne. Die ebenso eingängigen wie konvertierbaren Raps („Flippy. Nutty. Zesty. Woah/Leather. Kitty. Sexy. Yooo“) zu mal hymnischeren („Let’s Resolve It“, 2010), mal repetitiveren („Burning Like Paris“, 2012) Beats, Riffs und Vocals sind vor allem auch viel stärker durch ihre symbolische Performance queerer Familienähnlichkeiten denn durch ihre Buchstäblichkeit als randomisierter Musikgeschichtszusammenhang bestimmt. Auf der einen Seite verkörpert der Sound also die Erreichbarkeit von im hegemonialen Sinne populären Codes für queere Personen. Auf der anderen Seite werden diese Codes hier so verwendet, dass queerfeministische Lebensentwürfe dadurch möglicherweise popularisiert werden. „Algorithmus“ ist im Fall von House of Ladosha, anders gesagt, nur ein anderer Name für die Eroberung dominanter Zusammenhänge (z. B. von Körper und Geschlecht), die einen Wechsel der Perspektive vom hegemonial Falschen auf das gegenhegemonial Richtige ermöglicht und so überhaupt erst die Bedingungen seiner Verkörperung schafft, seiner Performanz. (Ähnlich tun dies aktuell Arca, Frank Ocean, Kelela, Fatima Al Qadiri, Princess Nokia, Yves Tumor und viele andere.)

Yves Tumor, „Heaven To A Tortured Mind“, 2020, LP

Yves Tumor, „Heaven To A Tortured Mind“, 2020, LP

Das Spiel mit und um solche Erreichbarkeiten, die Freiheit zur Veruneindeutigung, ist eine Freiheit, die die Praxis der Kritik mit Kunst gemein hat. Denn das Lösen von Problemen ist hier nicht eine Frage der funktionalistischen Steuerung (nicht mal in Fällen kybernetischer Kunst), sondern eine der Identifizierung von Zuständigkeiten: der Problematisierung. Wie eingangs gesagt wurde, liegen bereits in der Identifizierung von etwas als Problem Möglichkeiten zu seiner Lösung – und sei es, dass die Lösung, also der Wunsch nach Tilgung von Widerspruch und Kontingenz, selbst zum Problem gemacht wird. Mithin erfordert ästhetische Veruneindeutigung aber politische Vereindeutigung gegenüber jeweils als falsch zu erachtenden (weil z. B. sexistischen oder rassistischen) Praktiken: Eben weil der Streit um hegemoniale Grenzen sich zeit- und kontextspezifisch artikuliert, sind auch die inhaltlichen Bestimmungen des gegenhegemonial Normativen nicht einfach gegeben, sondern müssen immer wieder neu ausgehandelt werden.

In Zeiten der Krise, hört man oft, können Kritiker*innen niemals Pause machen, dürfe Kritik niemals schlafen. Corona in diesem Sinne: geradezu prädestiniert für zeitdiagnostische Betrachtungen! Nicht Corona sollte aber unser Gegenstand sein. Unser ganzes Interesse sollte vielmehr dem Algorithmus gelten, den wir „Konsens“ nennen.

Anmerkungen

[1]Ruth Sonderegger, „Von der Theorie zur Haltung. Mit Foucault kritische Theorie machen“, in: Malte Völk/Oliver Römer et. al. (Hg.), „… wenn die Stunde es zuläßt“. Zur Traditionalität und Aktualität kritischer Theorie, Münster 2012, S. 48–73, hier: S. 52.
[2]Ein Beispiel hierfür wären sogenannte Be water-Taktiken: Neben dem Sperren von Smartphones sollen u. a. das Auftauchen an unvorhersehbaren Orten sowie ein „fließender“ Wechsel der Strategien und der Formen des Protests eine Identifizierung der Demonstrant*innen verhindern. Vgl. Isolde Charim, „Der Futurismus, der unsere Gegenwart ist“, in: falter, 25/19, 28.08.2019, S. 9.
[3]Vgl. Antonio Gramsci, Gefängnishefte, hg. von Klaus Bochmann/Wolfgang Fritz Haug, 10 Bde., Hamburg 1991–2002 (zitiert als GH), hier: GH1, S. 101ff.; GH4, S. 783; GH19, S. 1947.
[4]Vgl. Lorena Jaume-Palasí, „Diversität und Algorithmen“, Gespräch mit Karin Fischer, Deutschlandfunk, 11.08.2019, https://www.deutschlandfunk.de/diversitaet-und-algorithmen-lorena-jaume-palasi-nur-haende.911.de.html?dram:article_id=455866.
[5]Ebd.
[6]Vgl. Lorena Jaume-Palasí/Matthias Spielkamp: „Ethik und algorithmische Prozesse zur Entscheidungsfindung oder -vorbereitung“, in: AlgorithmWatch Arbeitspapier Nr. 4, Berlin 2017, S. 7f.
[7]Jaume-Palasí, „Diversität und Algorithmen“.
[8]Gramsci, GH6, S. 1325.
[9]Vgl. Ulrich Rödel (Hg.), Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, Frankfurt/M. 1990. Für Lefort ist die Frage nach dem Wie der Vergemeinschaftung autonomer Subjekte zum Zweck der „Instituierung des Gesellschaftlichen“ (Lefort, in: Ebd., S. 89) die zentrale „Frage der Demokratie“ (Ebd., S. 281).
[10]Ekkehard Knörer, „Großes, sinnlos geschaffen. Mein Leben in Minecraft“, in: cargo, 43, 2019, S. 44–47, ­ttps://www.cargo-film.de/heft/43/anderes/games/grosses-sinnlos-geschaffe/.
[11]Neben Plakatserien, die Protestaktionen von LGBTIQs entlehnt sind, posiert Huxtable auf ihren Fotografien häufig in Drag (etwa als Kuh, Fantasy-Fledermaus oder meerjungfrauartiges Wesen) und verzerrt ihre Stimme bei ihren Performances als genderunspezifisch.
[12]Juliana Huxtable, Juliana Huxtable: In Conversation with Jarrett Ernest, 09.03.2016, http://sfaq.us/2016/03/juliana-huxtable-in-conversation-with-jarrett-earnest/. An anderer Stelle präzisiert Huxtable diese „consumption“ als Kategorisierung von Trans*personen „as if they are a representation of […] extreme body modification and it’s the same thing as […] someone who’s covered in tattoos or has 50,000 piercings“. (Juliana Huxtable, in: Kimberly Drew/David J. Getsy/Gordon Hall et al.: Transgender in the Mainstream, Art Basel Miami Beach, 05.12.2015, https://www.youtube.com/watch?v=zsHXmS1jJYE, 22:53-23:04).