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TEXT ALS BERICHT Michaela Ott über „Chantal Akermans Verschwinden. Les Rendez-vous de Tarnów“ von Tine Rahel Völcker

Eine Frau schreibt über eine Frau, die über ihre Mutter einen Film dreht. Chantal Akerman, die 1950 in Brüssel in eine gutbürgerliche jüdische Familie hineingeboren wurde, hat bis zu ihrem Freitod 2015 Filme über Frauen gemacht, die sich in der Enge bürgerlicher Verhältnisse zurechtfinden müssen. Dazu zählen u. a. die filmischen Notizen über ihre eigene Mutter, die als eines der wenigen Familienmitglieder die Shoah überlebt hat. Nun ist ein Buch erschienen, das Akermans Leben aus der Perspektive der polnischen Heimatstadt ihrer Familie nachzeichnet. Michaela Ott nimmt uns mit auf die Reise dieses Buchs und zeigt, dass Leben und Tod im jüdischen Denken einander auf eigentümliche Weise bedingen.

Da begibt sich eine in eine polnische Stadt, um jüdisches Nachleben zu finden, das es längst nicht mehr gibt. Sucht nach den Spuren einer Familien­geschichte, deren Protagonist*innen allesamt nicht mehr am Leben sind. Sichtet Filme einer Regisseurin, die von Reisen an fremde Orte zeugen – New York, Osteuropa, Tel Aviv – und doch in Distanz bleiben, in unbewegten Einstellungen städtische Leere registrieren; Filme, in denen die Kamera in langen travellings an Menschenformationen vorbeigleitet, durch Jalousien hindurch beobachtet; Filme, die nur im Ton von sich und der Mühsal des Weiterlebens berichten. Sie folgt den Zeichen des Nichtbeachteten im Stadtraum, dem Fortleben verdrängter Geschichte im Alltagsleben einer polnischen Stadt: In den „Tarnówer Begegnungen“ verknotet sie „Chantal Akermans Verschwinden“ mit Ungleichzeitigem auf beiläufige und erkenntnisträchtig-elegante Art.

Die Autorin Tine Rahel Völcker reist nach Chantal Akermans Freitod 2015 in die polnische Stadt Tarnów, 70 Kilometer östlich von Krakau gelegen, um im Zeitraum von etwa einem Jahr erneut durch Akermans Bücher und Filme, aber auch durch die Stadtlandschaft Tarnóws zu wandern. Wobei sie gleich eingangs angibt, dass sie den größten Teil der Reise an einem einzigen Ort, nämlich im Bett, zugebracht hat, wie Akerman selbst in ihrem frühen Film Je tu il elle (1974) und dann später noch einmal in ihrer filmischen Selbstreflexion Là-bas (2006), in der sie ihr Appartement in Tel Aviv nur ein einziges Mal verlässt.

Die erzählerische Tonlage des Büchleins, einer detektivischen Anverwandlung eines Alter Ego, besticht durch seine Mischung aus ironischer Detailversessenheit und historischer Betroffenheit: Der Weg zum polnischen Bahnhof führt gleich eingangs vorbei an Dessous-, Krawatten- und Süßwarengeschäften und weckt schon auf der ersten Seite eine Erinnerung an ehemalige Nazipräsenz. Völcker trägt Akermans Filme zurück nach Tarnów, um der Stadt erneut ein jüdisches Erbe einzuschreiben, in unbestimmter Verlängerung der Suche, die die Regisseurin selbst in ihrem Film D'Est (1993), einer Reise von Ostberlin nach Moskau, unternommen hat.

Schon auf der Rolltreppe zum Bahnsteig glaubt sich die Autorin in Akermans ironische Filmkomödie Golden Eighties (1986) versetzt, in der ihre von Tornow, wie es damals noch hieß, nach Brüssel emigrierte Mutter in der Rolle einer Boutiquebesitzerin wiedererkannt werden kann. „Mein Herz ist tot“, sagt diese zu ihrem polnischen Geliebten. Der Schauspieler Charles Denner, der den betrogenen Ehemann gibt, stammt ebenfalls aus Tarnów. Auf Völckers Frage, warum in den 1930er Jahren so viele Personen aus der Stadt emigriert seien, wird ihr geantwortet: aus wirtschaftlichen Gründen. Christen seien ebenfalls emigriert.

Von den Geräuschen des Apparats, der am Bahnhofsschalter die Fahrkarte ausdruckt, wandern die Assoziationen zum Sounddesign von Akermans Filmen, die sich natürlicher Geräusche enthalten, da es solche angeblich nicht gibt. Markante Töne, so die Kamerafrau Babette Mangolte, seien stattdessen hochgezogen und verfremdet worden. In eben dieser Weise wird im Text das Knattern der Ticketmaschine mit dem BH-Blümchenmuster der Verkäuferin relationiert und auf markant Nebensächliches scharf gestellt. Der Text als Bericht. Genau wie Akerman ihren ersten Kurzfilm Saute ma ville (1968) einen „Bericht“ nennt: Erfahrung, die weitergegeben wird und die das Selbst, ja, die ganze Stadt in einem Knall aufgehen lässt.

Explosionsartig der Einstieg der Akerman auch ins Filmemachen: Als Regisseurin und Darstellerin zugleich stiftet sie beschwingt Unordnung, nicht zufällig in der Küche der Mutter, und dreht zuletzt den Gashahn auf. Dass Leben und Tod im jüdischen Denken sich stärker befruchten als im christlichen, betont die Pariser Rabbinerin Delphine Horvilleur anlässlich von Akermans Tod. Akerman sei mit dem Schrecken der Lager von klein auf konfrontiert gewesen. Die Nähe zum Tod scheine in ihrer Schrift Ma mère rit (2013) wie in ihrem letzten Film No home movie (2015) erneut auf, so Völcker später. Für Akerman jedenfalls hätte es kein unversehrtes Tarnów gegeben. Lässt sich angesichts dessen auf Deutsch überhaupt, so Völcker weiter, ein zärtlicher Bericht verfertigen?

In einer schwarzhumorig abgedunkelten Sichtweise aus Alltagsregistratur und Beachtung von Übersehenem geht die Autorin der Geschichte der ermordeten und vertriebenen Jüd*innen von Tarnów wie auch der Frage nach, inwiefern diese Stadt, aus der Akermans Mutter stammte und in der Akermans Großmutter Kunst studieren wollte, unbeabsichtigt in ihre Filme eingegangen ist. Da Völckers Spürnase in vielen Wegmarken zeittransversale Pathosformeln entdeckt, findet sie genug Belege zur Beantwortung dieser Frage.

Angesichts eines Mahnmals vor dem jüdischen Friedhof erzählt die Autorin etwa stichwortartig von der Hinrichtung von fast 25.000 Juden durch SS-Männer, aber auch von erneuten Fluchten vor späteren Pogromen und Anfeindungen. Im Jahr 1993 habe mit dem Tod des letzten jüdischen Mitbürgers die Geschichte der Tarnówer Jüd*innen ihr Ende gefunden. Eingestreut sind Anmerkungen zu Texten der Regisseurin, in denen diese ihre Großmutter sprechen lässt, die Auschwitz – im Gegensatz zu Akermans Mutter – nicht überlebt hat.

Im lokalen Museum gibt es genau eine Vitrine, die auf einstiges jüdisches Leben verweist, mit zwei Chanukkaleuchtern, drei Thorarollen und einer Urkunde von 1667 als einzig verbliebenen Relikten. Wo die anderen Hinterlassenschaften geblieben sind? Das ehemalige jüdische Bad heißt heute Wallstreet Bull Dance Club. Gedenktafeln erinnern u. a. an die einstige Kaiser-Joseph-Syna­goge. Die Autorin befragt das Tranquilizer-Moment dieser Gedenkplaketten. Dass das Gute im Jahr 1990 gesiegt haben soll, wagt sie zu bezweifeln; sie kreist stattdessen durch die abgeholzte Stadt, wie sie sagt, und ritualhaft über den Friedhof.

Völckers Reise durch Tarnów gibt nicht zuletzt dazu Anlass, sich einige von Akermans Filmen erneut anzusehen, etwa News from Home (1976). Die polnische Stadt erscheint aus New Yorker Perspektive noch menschenleerer, Aker­mans Film, der nur von Autos belebte Straßenzüge zeigt, von Tarnów aus noch fremder; er lässt jeden Halt vermissen, wie die beiden ausgestorbenen Städte selbst. Das generelle Nichteingreifen der Regisseurin wird nun als Irritation erfahren, ihre Stimme, die die Briefe der Mutter vorliest – schnell, beiläufig – klingt nach Litanei. Virginia Woolf wird von der Autorin als Gewährsfrau dafür aufgeboten, dass Künstlerinnen sich unweigerlich durch das Leben der Mütter zurückarbeiten müssen. Und doch wird auch anerkennend vermerkt: Die Kamera hält niemanden fest, es gibt keine Verfolgung, der audiovisuelle Abstand kündet von Respekt. Der Taxifahrer aus Tarnów habe in New York gelebt, sei wegen seiner kranken Mutter zurückgekehrt und hängengeblieben – textlicher Schwenk rüber zu Akerman, die den brieflichen Bitten der Mutter nach Rückkehr aus New York nicht stattgegeben hat.

Der Film D'Est (1993) erhält in Tarnów besonderes Gewicht, dokumentiert er doch Akermans Suche nach dem ‚Slawischen‘ in ihr. Denn auch ihr Vater stammte aus Polen, auch wenn er ihre Mutter erst in Brüssel kennengelernt hat. Ihm hat sie ihren früheren Film Histoires d’Amérique. Food, Family and Philosophy (1988) gewidmet. Auch dieser Film wirkt in Tarnów in seiner Schilderung von Stillstand, Ergebenheit und Ohnmacht bedrückender, wie Völcker diagnostiziert. Sie trifft die Filmbilder in den Straßen der Stadt erneut an. Akermans Vater, der während der Dreharbeiten zu diesem Film stirbt, soll sich darüber beklagt haben, dass seine Tochter das jüdische Erbe nicht weitertrage. Ihre filmische Reverenz an die jüdischen Traumata hat er nicht erkannt. Wenn diese, wie in No home movie (2015), durch die Schilderung der mütterlichen Krankheit evoziert werden, wird der Film beim Filmfestival von Locarno ausgebuht.

Biografische und künstlerische Züge von Akermans Leben aus der Tarnówer Perspektive zu kadrieren, lässt deren Verwiesenheit aufeinander noch klarer und abgründiger erscheinen. Vernichtung und Verlust als historisches wie aktuelles Desaster treten ebenso hervor wie der künstlerisch-existenzielle Zwang, in der filmischen Aufnahme auf Distanz zu bleiben, die Welt nur beobachtend zu erfahren, Reisen als voyeuristische Einstellung zu praktizieren und das Unbekannte durch die Stimme der Mutter abzustützen bzw. abzutreten, sobald diese gestorben ist.

Tine Rahel Völcker, Chantal Akermans Verschwinden.

Les ­Rendez-vous de Tarnów, Leipzig: Spector Books, 2020.