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Julia Bryan-Wilson

„KUNST, DIE LEBT“. ÜBER DAS COLECTIVO ACCIONES DE ARTE (CADA)

CADA (Colectivo de Acciones de Arte), „El fulgor de la huelga“, 1981

CADA (Colectivo de Acciones de Arte), „El fulgor de la huelga“, 1981

Einige Beiträge dieser Ausgabe zeichnen ein skeptisches Bild kollektiver künstlerischer Praxen und fragen, ob Künstler*innenkollektive den gesellschaftlichen oder politischen Ansprüchen, die häufig an die Gemeinschaftlichkeit geknüpft sind, gerecht werden können. Kollektive Formen der Arbeit und der Kunstproduktion aber schlicht abzuschreiben, weil sie ihre ehrgeizigen Zielsetzungen nicht vollends verwirklichen können, wäre zu einfach. Im Folgenden stellt die Kunsthistorikerin Julia Bryan-Wilson die chilenische Gruppe Colectivo Acciones de Arte (CADA) als positives Beispiel für die politische Relevanz künstlerischer Kollektive vor. Unter Pinochet brachte CADA bei ihren ausdrücklich politischen Aktionen diverse Taktiken zum Einsatz, um die Unterdrückung durch das Regime und seine Unmenschlichkeit anzuprangern. Auch wenn CADA allein nicht den Sturz der Diktatur herbeiführen konnte, war die Arbeit des Kollektivs ein beispielhafter und wichtiger Beitrag zum Widerstand, der auch heute noch Beachtung verdient.

Sechs Jahre nachdem ein von den USA unterstützter Putsch den demokratisch gewählten sozialistischen Präsidenten Salvador Allende gestürzt und den brutalen Diktator General Augusto Pinochet installiert hatte, ging das Colectivo Acciones de Arte (CADA) 1979 mit einer Reihe von rebellischen Aktionen auf die Straße, um gegen die weitverbreitete Armut und Unterdrückung und gegen Pinochets neoliberale, die soziale Ungleichheit verschärfende Wirtschaftspolitik zu protestieren. Das Wort cada bedeutet auf Spanisch „jede“, „jeder“ oder „jedes“, und CADA bestand aus den Künstler*innen Juan Castillo und Lotty Rosenfeld, den Schriftsteller*innen Diamela Eltit und Raúl Zurita sowie dem Soziologen Fernando Balcells. Die transdisziplinäre Zusammensetzung des Kollektivs war grundlegend für seine Interventionen, die überwiegend außerhalb von Kunstinstitutionen stattfanden und darauf abzielten, kritische Gespräche über die unscharfen Grenzen zwischen politischem Protest und kulturellen Praktiken wie der Dichtung zu fördern. [1]

CADA ist vielleicht am bekanntesten für Projekte, in denen es modellhaft und metaphorisch eine radikale Umverteilung von Ressourcen vorführte; so wurden 1979 in Para no morir de hambre en el arte (Um in der Kunst nicht vor Hunger zu sterben) an die Bewohner*innen von Arbeiter*innenvierteln in Santiago Halb-Liter-Packungen Milchpulver ausgeteilt – eine explizite Anspielung auf das Versprechen von Allendes Linksbündnis Unidad Popular, dass jedes Kind in Chile seine tägliche Ration Milch bekäme. Für die Aktion ¡Ay Sudamérica! beauftragte die Gruppe 1981 eine Staffel von sechs Kleinflugzeugen, 400.000 Flugblätter mit einem anspielungsreichen Manifest abzuwerfen, in dem es um die Aufhebung der Unterschiede zwischen Kunst, Leben und Arbeit ging. Pinochets zensorisches Regime wird darin nicht namentlich erwähnt; stattdessen beschwört das Manifest die Notwendigkeit von uneingeschränktem Denken, geistiger Freiheit und der Möglichkeit von Glück, die als „einzige große kollektive Bestrebung“ beschrieben wird. Es schließt mit den Worten: „Deshalb sagen wir, dass die Arbeit, die gewohnten Ebenen des Lebens zu erweitern, die einzig gültige Kunstform/die einzige Ausstellung/das einzige Kunstwerk ist, das lebt.“ [2] Obwohl CADAs Aktionen sehr unterschiedlich waren, regten sie die Bürger*innen tatsächlich immer an, sich zu fragen, wie es sein kann, dass die Unterdrückung des Dissenses irgendwann routinemäßig, normal und üblich erscheint. CADA suchte unablässig nach Gesten, um die extremen Verwüstungen unter der Diktatur anzusprechen – nach einer Kunst, die in den realen umkämpften Räumen des Alltags und der materiellen Produktion „lebt“, wie es in ¡Ay Sudamérica! heißt.

CADA (Colectivo de Acciones de Arte), „No+“, 1983–89

CADA (Colectivo de Acciones de Arte), „No+“, 1983–89

Zu diesen Räumen gehörten nicht nur verarmte Wohnviertel und Stadtgebiete, sondern auch Fabrikhallen: In der Performance El fulgor de la huelga (Der Glanz des Streiks) traten die Mitglieder von CADA 1981 in einen Hungerstreik; Schauplatz war ein Metallwerk, das für bankrott erklärt worden war und, in einer Zeit steigender Arbeitslosigkeit in ganz Chile, alle Angestellten entlassen hatte. Die Dokumentation von El fulgor enthält kurze Videos und Fotografien der fünf Mitglieder, die wie Leichen auf dem Boden liegen; sie sind in dunkle Decken gehüllt, auf die sorgfältig mit Schablonen in weißer Farbe „C.A.D.A.“ geschrieben steht. Vor ihnen ist ein Mikrofon aufgebaut, um die gedämpften Geräusche ihrer Bewegungen aufzuzeichnen. In einem anderen Video von El fulgor sitzen die fünf, wiederum in ihre Decken gehüllt, mit hochgezogenen Knien und gesenkten Köpfen, sodass man ihre Gesichter nicht sieht; so lenkten sie die Aufmerksamkeit auf die dissidentische Tradition des Hungerstreiks (in dem ein einzelner Körper, der die Nahrung verweigert, eine umfassendere Körperpolitik reflektiert, die Grundrechte verweigert). Wie bei vielen Initiativen von CADA zeigt das Theatralische dieser eintägigen Performance – mit ihrer sorgfältig arrangierten Beleuchtung und den in Decken gehüllten, unregelmäßig vor einer weißen Wand aufgereihten Körpern –, dass das Kollektiv Kunst zwar neu definieren wollte, dabei jedoch nicht auf ästhetische Effekte verzichtete. Vielmehr imitierte CADA die Theatralik des Militärs (wie etwa mit Fliegerstaffeln und dem Abwurf von Flugblättern über der Bevölkerung) als ein notwendiges Gegenspektakel, um die faschistische Staatsmacht anzufechten.

CADA (Colectivo de Acciones de Arte), „Viuda“, 1985

CADA (Colectivo de Acciones de Arte), „Viuda“, 1985

Es ist wichtig, dass zwei der fünf CADA-Mitglieder – Eltit und Rosenfeld – Frauen waren, die sowohl getrennt als auch gemeinsam an Projekten arbeiteten, die unabhängig von CADA feministische Themen ansprachen. Dazu zählt auch Eltits 1983 erschienener Roman Lumpérica, ein experimenteller Text, der spezifisch weibliche physische Schmerzen und Selbstverletzung als Folgen der ökonomischen Marginalisierung und des Entzugs von Bürgerrechten behandelt. Genderthemen prägten auch die Arbeit von CADA, darunter das letzte offizielle Projekt des Kollektivs, die Medienintervention Viuda (Witwe) vom September 1985: Die Gruppe veröffentlichte das Porträtfoto einer Frau, deren Mann bei einer landesweiten Demonstration gegen die Diktatur getötet worden war, in vier regimekritischen Zeitschriften und einer Tageszeitung. In dem Text, der die Nahaufnahme ergänzt, fordert CADA die Leser*innenschaft dazu auf, das Gesicht der Frau zu betrachten, das Spuren der zahlreichen Menschen trägt, die unter Pinochet verschwanden, und mahnt, „ihrer Witwenschaft und ihrem Überleben Beachtung zu schenken“.

CADA (Colectivo de Acciones de Arte), „No+“, 1983–89

CADA (Colectivo de Acciones de Arte), „No+“, 1983–89

Viele konzeptuelle Künstler*innen haben Zeitschriften- und Zeitungsseiten als Trägermaterial und Verbreitungsmethode genutzt, doch CADAs konfrontative Platzierung des ernsten Frauengesichts in Printmedien ging über die Verwendung eines alternativen Präsentationssystems hinaus – es diente und dient der Erinnerung an die Veränderungen von Familienstrukturen während der Diktatur und an das Durchhaltevermögen von Ehefrauen, Müttern und Töchtern, die im Widerstand an vorderster Front standen.

CADA (Colectivo de Acciones de Arte), „¡Ay Sudamérica!“, 1981

CADA (Colectivo de Acciones de Arte), „¡Ay Sudamérica!“, 1981

Eltit und Rosenfeld arbeiteten auch nach der Auflösung von CADA weiter zusammen, wie etwa an einem Dokumentarfilm über eine Frau, die Müll sortiert, und an ihrer Crónica del sufragio femenino en Chile (Chronik des Frauenwahlrechts in Chile) von 1994, einem archivalischen Rückblick auf die Kämpfe für Frauenrechte, der von Eltit verfasst und von Rosenfeld gestaltet wurde. [3] Ihre zahlreichen Gemeinschaftsprojekte unterstreichen die Bedeutung von kollektivem Arbeiten für eine feministisch-sozialistische Praxis; sie betonen nicht zuletzt die Ablehnung einer alleinigen, individuellen Autor*innenschaft und einer Art territorialen geistigen Eigentums, das aus Sicht vieler Feminist*innen wie kapitalistisches Eigentum strukturiert ist und in Übereinstimmung mit diesem Eigentumsbegriff funktioniert.

CADAs öffentlichkeitswirksamstes Projekt war der Mitmach-Aufruf No+, auch bekannt als No más (Kein … mehr). Es war dem Publikum überlassen, diese Parole der Verneinung und Verweigerung selbst zu vollenden; sie wurde erstmals 1983 in Form von gemalten Schriftzügen im öffentlichen Raum eingesetzt und nahm danach viele unterschiedliche Formen an. Sie verbreitete und vervielfältigte sich und wurde von einer trügerisch simplen Erklärung gegen die Gewalt der Diktatur, die eine kleine anonyme Gruppe formuliert hatte, zu einem der verbreitetsten, einflussreichsten politischen Slogans der Pinochet-Ära. Viele andere Chilen*innen griffen die rebellische Aufforderung auf und ergänzten sie (keine + Angst, keine + Folter, kein + Verschwinden); sie wurde bei prodemokratischen Demonstrationen auf Transparente geschrieben, als Schriftzug auf Wände gemalt und auf Plakate gedruckt. Ablehnung war nur der Ausgangspunkt für die Provokation, die CADAs No+ darstellte, weil die Unvollständigkeit der Formulierung andere implizit einlud, sie zu vervollständigen – ein Akt der Einbeziehung, bei dem die Betrachter*innen/das Publikum zu den entscheidenden Kooperationspartner*innen wurden.

Mit seinem grundsätzlich offenen und ungelösten Charakter hat sich der Slogan No+ als ebenso langlebig wie flexibel erwiesen; die Arbeit wurde zum Kernstück der organisierten, schlagkräftigen „Nein-Kampagne“, die bei der Volksabstimmung 1988 die Wähler*innenschaft zur Absetzung Pinochets mobilisierte. Sie zirkulierte erneut im Oktober 2019, als Tausende linker Studierender in Chile auf die Straße gingen, um ein Ende der anhaltenden Misere und Prekarität zu fordern, die auf die Politik der Pinochet-Ära zurückgingen; doch unlängst tauchte sie auch als Erkennungszeichen rechtsextremer Propaganda in Kolumbien auf. [4] Diese regressive Aneignung von CADAs ursprünglich progressiver Aktion zeigt, wie eine „Kunst, die lebt“, auch mutieren kann, um unerwartete ideologische Töne anzuschlagen oder im Zuge ihrer Verbreitung sogar ihren eigenen Ursprüngen fremd zu werden.

Übersetzung: Barbara Hess

Anmerkungen

[1]Archivmaterial zu CADA befindet sich im Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía und auf der Internetplattform Red Conceptualismos del Sur, https://redcsur.net/.
[2]Das Flugblatt mit dem Originaltext steht auf der Website des Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía: www.museoreinasofia.es/en/collection/artwork/ay-sudamerica-o-south-america-16.
[3]Zur feministischen Freundschaft von Eltit und Rosenfeld siehe ausführlicher Natalia Brizuela/Julia Bryan-Wilson, „Speaking of Lotty Rosenfeld: ,Gestures Dangerous, Simple, and Popular‘“, October, 176, Frühjahr 2021, S. 111–137.
[4]Für einen kurzen Abriss der rechtsextremen Verwendung von No+ in Kolumbien siehe Ava Gómez Dava, „Colombia: El No+ del uribismo“, 4. April 2016, auf der Website celag.org.