VORWORT
Kooperation und Kollaboration sind Schlüsselbegriffe des globalisierten Kunstfelds. So verwundert es nicht, dass Kollektive in der Kunst derzeit hoch im Kurs stehen: von den Streikbewegungen an Museen über die Documenta bis zum Turner Prize – kaum je eine im Namen der Kunst antretende Großveranstaltung zeichnet sich heute nicht durch gemeinschaftsförmige Praktiken und die Anrufung von Gemeinsinn aus. Dabei ist es vor allem der normative Individualismus der neoliberalen Gesellschaft, gegen den zeitgenössische Kollektive antreten: Da Eigenverantwortung und eine deregulierte Sozial- und Pflegepolitik den Wohlfahrtsstaat weitgehend ersetzt haben, verspricht gemeinschaftsbasierte Solidarität, dieser Entwicklung aktiv entgegenzuwirken.
Nun droht der affirmative Rekurs auf Kollektivität jedoch über die Tatsache hinwegzutäuschen, dass das Konzept der Gemeinschaft im Netzwerkkapitalismus zuweilen selbst zur zentralen Ressource gerät: Die kollektive Selbstorganisation kompensiert so gesehen gerade die Erosion sozialstaatlicher Leistungen durch Reinvestition in die Partizipation der Einzelnen. Gleichzeitig birgt die Idealisierung von Kollektivität aber auch die Gefahr, reale Hierarchien, Abhängigkeiten, Neid, Konkurrenz und Interessenskonflikte nicht zu erkennen und somit die Privilegien Einzelner unter dem Deckmantel der Kollektivität zu legitimieren; gerade popkulturelle Formen der Vergemeinschaftung (wie etwa die gottesdienstartigen Sunday Services von Kanye West) kennen diesen Umschlag von der Community zur Sekte samt erleuchtetem Guru nur zu gut.
Vor diesem Hintergrund fragt die Dezember-Ausgabe von Texte zur Kunst nach dem Verhältnis von Kunst und Aktivismus sowie nach dem Selbstverständnis von Künstler*innen, die in und mit Kollektiven arbeiten. Um dem Ideal emanzipatorischer Arbeits- und Lebensformen zu entsprechen, darf Gemeinschaftlichkeit, so die These dieses Heftes, nicht vorschnell als Egalisierungsstrategie missverstanden, sondern muss als soziale Frage einsichtig werden: als Mittel zur Umverteilung von Kapital, Mitsprache und Anerkennung. In der Kunst hat Kollektivität eine traditionsreiche Geschichte. Entsprechend nehmen etwa die Streiks, die aktuell im Zuge der Kämpfe für gerechte Bezahlung an Kunstinstitutionen wie dem New Yorker New Museum stattfinden, dezidiert Anleihen bei künstlerisch-aktivistischen Bündnissen der 1960er und 70er Jahre wie der Art Workers’ Coalition oder den Women Artists in Revolution. Aber auch die künstlerischen Interventionen in den dekolonialen Diskursen rund um das Berliner Humboldt Forum gehen auf Allianzen zwischen künstlerischen und politisch-aktivistischen Netzwerken zurück, die mit denen der 1966 in Marokko gegründeten Gruppe von Schriftsteller*innen und Bildkünstler*innen vergleichbar sind, die das Magazin Souffles herausgaben. Um eine ästhetische Ausdifferenzierung kunsttheoretischer Diskussionen und ihren politischen Einsatz ging es auch einer Künstler*innengruppe wie Art & Language, während die Pointe der dezidiert queeren Gemeinschaftlichkeit von Warhols Factory vordergründig in der Erfahrung eines „Misfitting Together“ (Douglas Crimp) lag, einer Art produktiven Antagonismus, aus dem sich eine Ästhetik des Abjekten und Unversöhnlichen ableiten ließ.
Bei Kollektiven, deren Selbstverständnis als Gruppe vom patriarchalen Machtgebaren unter Künstlern bestimmt ist, stellen Geschlecht und kapitalistische Verwertungslogik weniger ihren Gegenstand denn ihre blinden Flecken dar. Wie die Kunsthistorikerin T’ai Smith für das Bauhaus argumentiert, vertraute die Gemeinschaft, die Walter Gropius begründete, in diesem Sinne nicht nur auf ein marktwirtschaftliches Modell der Diversifizierung und Spezialisierung, sondern war durch eine bewusste Trennung der Geschlechter auch in sich zerrissen. Dergleichen gewaltförmige Kehrseiten von Kollektiven streicht auch Helmut Draxler in seiner Kritik der Kollektivität heraus, wenn auch unter anderem Vorzeichen. Unter Rekurs auf die psychoanalytische Theoriebildung gruppendynamischer Prozesse erläutert er, dass ein konkretes empirisches Wir nie problemlos für ein allgemeines Wir sprechen kann, sondern notwendig begrenzt und endlich ist – dass genau darin aber seine Politizität liegt: im Aushalten der je konkreten Konflikte, die sich ergeben, wenn Subjekte mit unterschiedlichen Erfahrungen, Wünschen und Absichten aufeinandertreffen.
Was es heißt, in einer Diktatur Kunst zu produzieren und gewissermaßen programmatisch die Unterschiede zwischen Kunst und Leben unscharf werden zu lassen, veranschaulicht die Kunsthistorikerin und Kuratorin Julia Bryan-Wilson am Beispiel des chilenischen Künstler*innenkollektivs Colectivo Acciones de Arte (CADA). Gleichsam einem Roman von Roberto Bolaño entsprungen, imitierte das für seine regimekritischen Texte bekannte und während der Amtszeit Pinochets aktive Kollektiv unter anderem mit Fliegerstaffeln und dem Abwurf von Flugblättern über der Bevölkerung die Theatralik des Militärs als ein notwendiges Gegenspektakel, um die faschistische Staatsmacht anzufechten. Polizeiliche Kontrolle ist auch das Thema des Aufsatzes der Kunstkritikerin und -theoretikerin E. C. Feiss, dessen zeitlichen und geografischen Rahmen die USA der 1960er Jahre bilden. Feiss zeichnet darin die zunehmende Deindustrialisierung und Automatisierung nach, von der vor allem Arbeiter*innen of Color betroffen waren und auf die Künstler*innen wie Allan Kaprow und Phyllis Yampolsky, noch lange vor der Kommodifizierung immaterieller Kunst, mit ihren partizipativen Performances Bezug nahmen.
Wie unterschiedlich die Neukonfigurationen historischer Konzepte von Kollektivität im künstlerischen und kulturellen Feld der Gegenwart sind, zeigt die Journalistin Luciana Moherdaui in ihrem Beitrag auf: Zu Beginn der Corona-Pandemie formierte sich in Brasilien eine Bewegung, die politische Slogans und Illustrationen auf Gebäudefassaden und Mauern projizierte. Wesentlicher Bestandteil dieser inzwischen transnational organisierten Projektionsgemeinschaft waren Protestaktionen gegen die Covid-Verleugnung von Präsident Jair Bolsonaro und seine zahlreichen Versuche, die Maßnahmen zu sabotieren, mit denen Politiker*innen die Ausbreitung des Virus zu verhindern suchten. Ein weiteres prominentes Beispiel für die Hegemoniefähigkeit von Gemeinschaft und Gemeinsinn in der zeitgenössischen Kunstproduktion ist das Kollektiv ruangrupa aus Jakarta, das im kommenden Jahr die Documenta 15 in Kassel leiten wird. In einem Gespräch mit der Kunstvermittlerin und Kuratorin Nora Sternfeld erklärt die Gruppe, wie sie ihr Ziel des kollektiven Ressourcenaufbaus kuratorisch umzusetzen gedenkt und inwiefern Bildung hierbei eine wesentliche Rolle spielt.
Prozesse der Kollektivierung, so zeigen alle Beiträge dieses Heftes, tragen immer einen jeweils ganz bestimmten Begriff von Gesellschaft in sich. Auch wenn der experimentelle und kollaborative Charakter es zu verbieten scheint, die Kunst mit den Namen der Gruppenmitglieder zu versehen, ist mit dem Kollektiven doch stets eine Subjektivität angesprochen, die gesellschaftliche Vorbilder hat. In gelungenen Momenten, so meinen wir, eröffnet das Probehandeln alternativer Formen von Gemeinschaftlichkeit Möglichkeiten der gesellschaftlichen Selbstverständigung, um das Verhältnis von Kunst und Demokratie jeweils neu bestimmen zu können.