APORIE ALS METHODE Toni Hildebrandt über „Dispossession“ im Künstlerhaus, Wien
An den Anfang des Katalogs zur Ausstellung „Dispossession“ im Künstlerhaus Wien stellt deren Kuratorin Ariane Müller ein Zitat aus Walter Benjamins „Krisis des Romans“ (1930). Beschrieben wird dort das Meer als Horizont, zu dem man sich im „Sinne der Epik“ indifferent verhalten kann – etwa indem man am Strand liegt oder nach Muscheln sucht –, aber auch wie zu einem ausweglosen Raum, der sich einsam, im individualistischen Stil eines „Romanciers“, befahren lässt. [1] Dies hat auch Folgen für die ästhetische Theorie, da die epische Indifferenz und der romantische Wunsch nach Selbstausdruck laut Benjamin zugleich zwei verschiedene Kunstbegriffe beschreiben, die es zu überwinden gilt, da sie sich indifferent zur Geschichte verhalten oder eine ausdrucksbesessene Individualität vermarkten. Demgegenüber präsentiert „Dispossession“ Sprachen der Kunst, die sich gegen Aneignung und Besitz aussprechen, wobei Kunst als spezifische Methode der Auseinandersetzung mit der Geschichte von An- und Enteignung verstanden wird. Mit ihr verbunden ist eine Idee von „Sprachgerechtigkeit“, die Werner Hamacher im Anschluss an Benjamin entfaltet, indem er die rechtsphilosophische Kategorie der Gerechtigkeit ins Zentrum seiner Sprachkritik und Poetik stellt. [2]
Besitznahme und Enteignung bestimmten die historische Zeit der NS-Diktatur und deren lange Vor- und Nachgeschichte. Für die Historie des Künstlerhauses sind nationalistische und antisemitische Tendenzen seit dem frühen 20. Jahrhundert dokumentiert, zudem wurden bis 1961 Frauen nicht aufgenommen. Die von Müller konzipierte Ausstellung setzt bei diesen wiederkehrenden Momenten intersektionaler Unterdrückung an und untersucht zwei Mechanismen: die Machtausübung konservativer Kultur und ihr Pendant einer geschichtspolitischen Problemlösungseffizienz.
Von diesen beiden Modi der An- und Enteignung befreit sich der erste Raum der Ausstellung programmatisch. Henrik Olesens entleerte Glaskästen (2018–2021) erinnern zwar noch an modernistische Displays, doch wird die negative Geste der Abstraktion hier vor allem in ihren affirmativen Momenten verständlich. Olesen räumt die Behälter aus, lässt aber Klebereste einer nicht mehr nachvollziehbaren medizinischen Logistik stehen und arrangiert die Glaskästen so, dass sich die Idee einer klaren Ordnung auflöst. So widerstrebt die Nummerierung der Kästen einer Aufzählung, wie auch die Hängung in Höhe und Abstand der Kästen zueinander variiert. Formfragen des Modernismus – serielle Repetition (Donald Judd), Vitrine als Rahmung (Joseph Beuys) und Klebeband als Substitut von Linearität (Charlotte Posenenske) – werden bei Olesen niemals isoliert betrachtet, sind nie Selbstzweck, sondern verstehen sich immer auch als Demontagen mächtiger Erzählungen.
Mit Olesens Glaskästen korrespondieren in den Räumen daneben die Arbeiten von Anita Leisz und Stephan Janitzky, die ähnlich die Erwartungshaltungen an eine aufklärende und problemlösende Konfrontation von Kunst mit Geschichte untergraben. Die horizontale Wandarbeit von Leisz evoziert in ihrer Porosität und unabgeschlossenen Rahmung ein Unbehagen mit dem Wunsch nach Einordnung. Zudem befindet sie sich nicht sofort im Blickfeld: Wie ein falscher Segen oder ein böses Omen hängt sie viel zu hoch, als dass man sich ihrer vergewissern oder mit ihr fertig werden könnte. In ihrem in Ich-Form geschriebenen Wandtext wiederholt Müller hier das Denkbild von Benjamins Meer und verweist auf die „stumme Resistenz“ dieser Wand. Die Porosität von Leisz’ Skulptur besitzt keine definierbare Struktur. Der längliche Wandstreifen und die offene Rahmung scheinen ausgeschnitten, doch lässt sich nicht erschließen, woraus. Metonymisch verschiebt sich der Meereshorizont in die Fernsicht der Wand, aber „das Meer“ wird von Leisz weder indifferent zur Distanzmetapher noch im Sinne einer individuellen Geste fassbar; vielmehr überwiegt der diffuse Eindruck einer ausweglosen, aber gleichfalls resistenten Konfrontation.
Die kontaminierte Leere der Glaskästen und die widerständige Porosität der grauen Wandarbeit wechseln bei Janitzky in einen Modus spielerischer Simulation. In seiner Installation verschleiert er einen klar erkennbaren Werkstatus, liefert keine Titel oder Jahresinformation zu den einzelnen Elementen und signiert nichts. Sein désœuvrement unterscheidet sich von klassischen Methoden der Appropriation, die Eigentum überschreiben und so wieder aneignen. Stattdessen fällt Janitzkys heterogenes Ensemble räumlich auseinander, besitzt keine klare Einheit und schreibt keine konkrete Benutzung vor. Zur räumlichen Assemblage gehören ein Teppich von Anni Albers, farbig karierte Turnmatten-Readymades, Karl Kerényis Labyrinth-Studien, eine (nicht angekettete) Erstausgabe der Situationist Times sowie auf einem Kaffeetisch ein Stapel mit Aufklebern und einer selbstgedruckten, collagierten „Grammatik“ mit Exzerpten aus Anne Dufourmantelles Verteidigung des Geheimnisses und einer Kafka-Zeichnung.
Im Raum daneben befinden sich Skizzen und Grafiken von Linda Bilda. In ihrem Comic Die Macht der Spinne wird brechen (1998) erzählt sie eine Geschichte animalischer Resistenz gegen Unterdrückung. Die lebendige Vogelspinne in der Ecke des Raums symbolisiert den Weg von Comic und Erzählung zu Außenwelt und Gefängnis. So wird im Übergang von Olesens leeren Glaskästen zu Bildas Herbarium mit Vogelspinne eine eigentümliche Beklemmung evoziert, die auch an den aseptischen Reinheitskult und die Suprematie heroischer Tiere in der NS-Zeit gemahnt. Wie in Kafkas Verwandlungsmetaphern parodieren und zersetzen Bildas politische Comics diesen negativen Anthropomorphismus.
Die Sprachen und Methoden von Olesen, Leisz, Janitzky und Bilda bereiten gewissermaßen die Lesbarkeit der anderen Räume, die sich konkreter historischer Kontexte annehmen, vor. In einem als „Freund*innenraum“ bezeichneten Kabinett befinden sich Malereien von Künstler*innen der frühen Moderne, die in der Geschichte des Künstlerhauses nicht oder kaum repräsentiert wurden. Müller adaptiert für die Raumgestaltung ein Zeltdach, das Theodor Bruckner 1902 für ein Fest des Künstlerhauses entworfen hatte. Diese „Schutzfarben“ rufen in Erinnerung, dass viele Kunstwerke während der NS-Zeit nicht nur enteignet, sondern oftmals zerstört wurden. Für die unter dem Regenbogenzelt „geretteten“ Malereien liefert die Kuratorin mit einer impliziten Montagetechnik noch einen zweiten Schutz. Wie die Off-Stimme in einigen Filmen von Agnès Varda leiten die Wandtexte den Blick auf außergewöhnliche Details. So verweist Müller auf das Porträt einer im Bildhintergrund dargestellten androgynen Frau in Bruckners Wiener Straßenszene (1901) – eine „queere Sensibilität“, die als Ausbruch aus einem männlich dominierten Kanon lesbar ist und in einer Collage der Fotografin Anni Schulz direkt adressiert wird. Jurymitglieder einer rein männlichen Auswahlkommission des Künstlerhauses stehen hier einer Gruppe von Putzfrauen gegenüber, die nach dem Abbau der Ausstellung den Boden reinigen. Die vergrößerte Projektion der Juroren als Pappkameraden in einem Nebenraum steigert diese Parodie ins Lächerliche.
Die antisemitische, konservative und nationalsozialistische Geschichte des Künstlerhauses liest die Kuratorin allen voran aus einer feministischen Perspektive. Entsprechend eröffnet die historische Forschung zu Provenienz und Restitution, an der Sophie Lillie und Arye Wachsmuth seit vielen Jahren arbeiten, ein empirisches Gegenarchiv der Sprachgerechtigkeit gegen die „zynische Indifferenz der Institution“ [3], das als Ausnahmeerscheinung in der Ausstellung auch mit Auswegen argumentiert. Ihre Displays aus Fotografien, Briefen und historischen Ausstellungskatalogen plädieren für eine Geschichtsschreibung jenseits des Historismus, die nicht zwischen Form und Inhalt, historischer und künstlerischer Darstellung trennt.
Was argumentiert „Dispossession“ als Ausstellung und was hält sie unter diesem Titel zusammen? Ihr zentrales Motiv, Methoden der Sprachgerechtigkeit in den Mittelpunkt zu stellen, hat Benjamin in der Vorrede zu Ursprung des deutschen Trauerspiels herausgearbeitet. Die hier formulierte Kritik am Besitzcharakter von Erkenntnis, aus der sich die Frage nach der Darstellbarkeit von Geschichte ergibt, leisten in der Ausstellung vor allem die Installationen. Ein Modell gegen den possessiven Erkenntnisweg liefert die Ausstellung jedoch nur als Konstellation. „Dispossession“ argumentiert für ein interdependentes Verständnis verschiedener Ausschlussmechanismen, insbesondere der institutionalisierten Gewalt der Enteignung. Diese Forderung erzeugt zunächst eine Krisensituation, die aus den Aporien der Darstellung – etwa Olesens Glaskästen und Leisz’ Wandarbeit – folgt, die die Ausstellung für eine ästhetische Auseinandersetzung mit zeithistorischen Fragen produktiv machen möchte.
Die Philosophin Sarah Kofman empfiehlt, die Aporie selbst als Methode zu affirmieren, wobei auch für sie das Meer die Metapher der Aporie ist. Das Meer ist ein Geschichtsraum, der zu gewaltig ist, als dass es nur einen Ausweg aus ihm gäbe – und der sich doch in seiner Gewaltsamkeit darstellen lässt. Das eingangs erwähnte Epigraph wird so vielleicht verständlicher: Die „zynische Indifferenz der Institution“ und der individuelle Ausdruckswille im Männerbund der Geschichte sind Formen, mit denen immer wieder versucht wurde, die Wogen dieses Meeres zu glätten. Dagegen plädiert die Ausstellung für ein Aushalten der Aporie – als Methode, als Praxis und als Sprache. Sprachgerechtigkeit wäre dann der emphatische Begriff, der diesem Aushaltenkönnen am nächsten käme.
„Dispossession“, Künstlerhaus, Wien, 29. September 2021 bis 16. Januar 2022.
Anmerkungen
[1] | Walter Benjamin, „Krisis des Romans“, in: Gesammelte Schriften, Bd. 3, hg. v. Hella Tiedemann-Bartels, Frankfurt/M. 1972, S. 230–236. |
[2] | Werner Hamacher, Sprachgerechtigkeit, Frankfurt/M. 2018. |
[3] | Ariane Müller im Protokoll des Workshops vom 23.3.2021, in: Dispossession, Ausst.-Kat., hg. von Künstlerhaus, Gesellschaft bildender Künstlerinnen und Künstler Österreichs, Wien 2021, S. 11. |