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LAWRENCE WEINER (1942–2021) Gregor Stemmrich

Lawrence Weiner

Lawrence Weiner

„Gordon hatte einen Glücksstern; unter anderem darum war es ein solcher Schock, als er an Krebs starb.“ [1] , hatte Lawrence Weiner im Rückblick auf Gordon Matta-Clark bemerkt, der 1978 im Alter von 35 Jahren starb. Als plötzlich die Nachricht „Lawrence Weiner died, aged 79“ in den Medien auftauchte, wurde umso klarer: Das ist nicht allein eine Frage des Alters.

Seine Idee von Leben hat Weiner einmal mit einer Anekdote erläutert. Als er mit seiner kleinen Tochter an einem Kai im Hafen von Amsterdam spazieren ging, trafen sie auf einen Japaner und dessen kleinen Sohn. Die Kinder engagierten sich sofort in einer höchst angeregten Unterhaltung, während die beiden Männer sich verstohlene Blicke zuwarfen. Als seine Tochter schließlich wieder zu ihm kam, fragte Weiner sie: „Wie konntest du mit ihm reden? Er ist Japaner!“ – „Ah, that was this funny accent!“, war die Antwort der Tochter, und Weiner bekannte: „That’s what I wished life could be!“ Das lässt sich auch auf seine Kunst beziehen. Dass Weiner Sprache als Material in Referenz auf Materialien verwendete, macht es seiner Kunst möglich, kulturelle, sprachliche und territoriale Grenzen zu transzendieren. Seine Werke lassen sich in eine materielle Realität übersetzen und ebenso in andere Sprachen. Sie lenken die Aufmerksamkeit auf das Verhältnis von Sprache und materieller Realität und gleichzeitig auf die eigene Existenz der Sprache in zwischenmenschlicher Kommunikation. Zeitbasierte technische Medien (Film, Video, Audio) verwendete Weiner, um Sprache und Realität als Teil von Lebensprozessen vorzustellen. Häufig zitierte er auf Deutsch Wittgensteins Diktum „Ein Ausdruck hat nur im Strom des Lebens Bedeutung“. [2] Es wurde ein Leitmotiv für seine Kunst wie für deren Erläuterung.

So wenig Weiner bereit war, Traditionen zu beschwören, so sehr hat er immer wieder den Konnex seiner Kunst mit älterer Kunstpraxis herausgestellt: „Es ist genau derselbe Vorgang, den Künstler verwenden, seit es Künstler gibt. Man sieht etwas, man versucht es irgendwie darzustellen […] – dann poliert man es ein wenig auf und zeigt seine Virtuosität und dann präsentiert man es. Es ist die klassische Art, wie Kunst gemacht wird. Es sieht nur nicht so aus.“ [3] Den Impetus einer Kunstdiskussion, die stets nur festlegen will, was „neu“, „radikal“, „post-“ sei, wusste er damit verblüffend auszuhebeln. Ebenso konnte er Unterscheidungen postulieren, wo andere keinen Anlass dazu sahen: „Mir ist ziemlich egal, warum sie [die Kunst] gebrauchen. Mir ist egal, ob sie sie gebrauchen, weil sie meinen, daß sie chic ist, oder weil sie meinen, daß sie wichtig ist. Mich interessiert nur, wie sie sie gebrauchen.“ [4] Was jemanden motiviert, Teil der Kunstwelt sein zu wollen, ist eine Sache, die soziologisch erklärt werden mag, und es mag mit dem Grund zusammenhängen, warum jemand seine Kunst gebraucht, doch wie seine Kunst gebraucht wird und werden kann, ist aus dem Warum nicht abzuleiten.

Von Anfang an war es ihm deshalb wichtig, eine Kunst zu schaffen, die nicht auf den kommerziellen Kunstbetrieb angewiesen war, um zu existieren. Seine Verwendung von Sprache als Material ermöglichte es ihm, seine Werke (unter anderem) auf Postkarten und Postern, in Büchern und als Wandbeschriftungen zu kommunizieren. Falls seine Werke Käufer*innen fanden, bekundeten diese ihr Interesse daran, seine Existenz im Kunstbetrieb aufrechtzuerhalten. Doch einen Teil seiner Werke stellte Weiner unter die Kategorie public freehold (öffentliches Eigentum). Diese Werke waren unverkäuflich, weil sie eine designierte Besitzerin hatten, die kein Recht hatte, sie zu veräußern: die Öffentlichkeit. Das entsprach keiner romantisch-idealistischen „Kunst für das Volk“-Vorstellung, sondern bedeutete im Gegenteil eine Inanspruchnahme von Öffentlichkeit als Existenzbedingung von Kunst.

Eines der Werke, die public freehold-Status haben, ist BROKEN OFF. 1971 versandte Weiner die sprachliche Werkdefinition auf einer Postkarte von Ostberlin aus an diverse Adressat*innen. Da er nicht seine Werke datierte, sondern Orts- und Jahresangaben sich stets auf deren jeweils erste öffentliche Präsentation beziehen, gehört Berlin (Ost), 1971 zu den offiziellen Werkangaben. Man konnte das Werk auf das geteilte Berlin beziehen. Im gleichen Jahr machte Weiner jedoch ein kurzes Video, in dem er hintereinander an einem unbekannten Ort fünf mögliche Ausführungen desselben Werkes zeigte; die letzte ist das Ziehen des Steckers der Videokamera. 1989 war er zusammen mit ­Ulrich Rückriem eingeladen worden, für die Altstadt von Sindelfingen einen Vorschlag zu machen. Er gestaltete eine große Plakette mit der Aufschrift BROKEN OFF – ABGEBROCHEN (oder) AUFGEBROCHEN, die in ein zugemauertes Fenster gesetzt werden sollte. Eine dauerhafte Installation wurde abgelehnt, doch die Plakette existiert nach wie vor. Sie liefert auch ein Beispiel dafür, dass Weiner häufig sprachliche Ausdrücke in dem Bewusstsein verwendete, dass für deren Übersetzung in eine andere Sprache zwei verschiedene Ausdrücke erforderlich sind. Das betrifft Übersetzungen aus dem Englischen und ins Englische gleichermaßen. Während er auf diese Weise die sprachliche Existenz des Werkes ‚zwischen‘ Sprachen thematisch in den Vordergrund rücken konnte, hat Weiner in einem Multiple zum Werk BROKEN OFF nur die Werkinformation exemplifiziert. Es ist den Rezipient*innen überlassen, zu erkennen, dass das Abbrechen zugleich ein Aufbrechen von etwas ist. Das Werk kann in immer wieder neue Situationen eingeführt werden, um (s)eine Bedeutung zu entfalten. So lässt es sich nicht zuletzt auch zum Tod des Künstlers in Beziehung setzen.

Als Weiner begann, Sprache als Material zu gebrauchen, war in der Kunst auf breiter Front eine Zurückweisung der herkömmlichen Rolle des Kunstwerks als einzigartiges Objekt zu beobachten. Den meisten Künstler*innen schien eine geradezu exzessive Betonung von Reproduzierbarkeit als das probate Mittel dazu. Ohne dieses zurückzuweisen oder zu vernachlässigen, ließ sich Weiners Sprachgebrauch nicht darauf festlegen, sondern machte es möglich, das Kunstwerk als ein informelles Objekt zu präsentieren, das in diverse kulturelle Situationen einzutreten vermag.

Weiner stellte hohe ethische Ansprüche an das Machen und Präsentieren von Kunst. Das ging so weit, dass er erklärte: „In den meisten, zumindest halbwegs anspruchsvollen philosophischen Seminaren würden Sie hören, daß Ethik und Ästhetik gleichbedeutend behandelt werden. Es ist unmöglich, die Ästhetik der gegenwärtigen Gesellschaft von der Ethik der gegenwärtigen Gesellschaft abzutrennen.“ [5] Später nahm er davon etwas Abstand. Im Interview mit Hans Ulrich Obrist bemerkte er 2003: „Die Ethik kann manchmal die Grenze zur Ästhetik überschreiten, und ich wünsche mir eine Ästhetik, die die Grenze zur Ethik überschreiten kann.“ Um sich jedoch nicht auf Ethik im anerkannten Sinne festlegen zu müssen, erklärte er: ALL ART IS MADE FROM ANGER.

Sein Zorn hing nicht zuletzt mit seiner Biografie zusammen. In unterprivilegierten Verhältnissen aufgewachsen, war er als Zwölfjähriger genötigt, seine Papiere zu fälschen, um in New York auf den Docks arbeiten und etwas Geld nach Hause bringen zu können. Dass er gleichwohl eine gute Schulbildung erhalten hatte, schien ihn nach eigener Einschätzung für ein soziopolitisches Engagement zu prädestinieren. Doch früh wurde ihm klar, dass der Anschein einer Prädestination kein guter Grund für ein Engagement ist. Einen solchen fand er in der Kunst.

Als Gerti Fietzek und ich die Schriftensammlung HAVING BEEN SAID in Angriff nahmen, lautete Weiners erster Titelvorschlag SOME RATIONAL ATTEMPTS AT STABILITY; und als das Buch vorlag, bemerkte er: „My God, all these contradictions.“ Was für Widersprüche auch immer er im Auge haben mochte, waren diese auf rational attempts zurückzuführen. In Diskussionen und Interviews fokussierte er immer mehr auf multiple realities, die sich nicht widersprüchlich und nicht hierarchisch zueinander verhalten.

Für die Rubrik „Artist’s Choice“ in der ­Phaidon-Monografie hatte Weiner 1998 W. B. Yeats’ Gedicht An Irish Airman Foresees His Death (1919) ausgewählt. Mit Weiners Tod aber wurde aus HAVING BEEN SAID being sad.

Gregor Stemmrich ist Kunsthistoriker und lehrt an der New York University Abu Dhabi.

Image credit: Alessandro Simonetti

Anmerkungen

[1]„Aus einem Interview von Joan Simon“, in: Gefragt & Gesagt: Schriften und Interviews von Lawrence Weiner 1968–2003, hg. von Gerti Fietzek/Gregor Stemmrich, Ostfildern 2004, S. 169f., hier: S. 169.
[2]Vgl. „Lawrence Weiner’s ,Plowmans Lunch‘. Interview von Michael Gibbs“, in: Ebd. , S. 141–143, hier: S. 142.
[3]„Interview von Ann Temkin und John Ravenal“, in: Ebd., S. 347–350, hier: S. 347.
[4]Interview in Vorbereitung der Konferenz „Kunst trifft Wissenschaft und Spiritualität in einer veränderten Ökonomie“, in: Ebd., S. 220–227, hier: S. 224.
[5]„Ein Gespräch mit Robert C. Morgan“, in: Ebd., S. 109–113, hier: S. 112.