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Hil Malatino

DER WITTERUNG AUSGESETZT: DIE LANGSAME KUNST DER TRANS AUSDAUER

Henri Rousseau, „L'Enfant aux rochers“, 1895-97

Henri Rousseau, „L'Enfant aux rochers“, 1895-97

Sowohl in Mitte-links-Bündnissen wie auch Alt-Right-Formationen sind Artikulationen von trans Antagonismus tief verankert und weit verbreitet. Hil Malatino sucht nach Möglichkeiten, wie dem Druck einer solchen Atmosphäre nicht nur standgehalten, sondern kollektiv eine „haltende Umwelt“ geschaffen werden kann, die ein widerstandsfähiges Leben erlaubt. Ausgehend von der Arbeit zeitgenössischer trans Autor*innen wie Callum Angus und Torrey Peters, von bildenden Künstler*innen wie Nicki Green und Jes Fan sowie von queer und trans Theoretiker*innen wie Eric A. Stanley und Eve Kosofsky Sedgwick, schlägt der Philosoph Formen vor, wie dieser Zustand, der ständig eine reaktive Verteidigung erfordert, ertragen werden kann.

Winteranbruch 2022. Ein hellgrauer Himmel hält Einzug, der Boden ist triefnass von der ersten Schneeschmelze. Ich wache früh auf und sitze vor einer Tageslichtlampe, fest entschlossen, den Sinkflug durch das merkwürdige Gemisch, das manche von uns saisonal-affektive Störung nennen, in diesem Jahr abzuwenden. Während das blauweiße Licht die Tristesse von meinem Körper wegstrahlt (so funktioniert es doch, oder?), lese ich „Rock Jenny“, eine Kurzgeschichte in Callum Angus’ A Natural History of Transition von 2021, in der ein Kind namens Jenny sich dazu entschließt, ein Junge zu sein, dies noch einmal überdenkt und zum Mädchen wird, dem wiederum entwächst und ein Stein wird, dann ein Berg, und sich letztlich entscheidet, die Erde zu verlassen und die Umlaufbahn als Mond zu betreten. Als sie zum Stein wird, möchte ihre Mutter – eine Geologieprofessorin – unbedingt wissen, welche Art Stein sie geworden ist, da ihr dies verrät, unter welchem Druck ihr Kind gestanden hat. Es stellt sich heraus, dass sie sedimentär ist – „geschichtet im Laufe der Zeit, bis sie ein Mix aus etwas anderem wurde“, so die Mutter. „Genau, wie sie es wollte.“ Eines Tages teilt Jenny ihren Eltern mit, dass sie beabsichtigt, den Planeten zu verlassen. Die Eltern sind besorgt, dass der Aufbruch ihres Kindes und dessen Abwesenheit – der buchstäbliche Krater „in der Größe mehrerer olympischer Schwimmbäder“, den sie hinterlassen wird – die Stabilität ihres Alltags durcheinanderbringt. [1] Doch fort ist sie – darauf beharrend, dass die Entscheidung zur Veränderung und zu abermaliger Veränderung Gültigkeit besitzt.

Die hier vermittelte Botschaft: Die einzige Konstante im Leben ist Veränderung, jede Art Stillstand oder Gleichförmigkeit ist nur temporär, das Leben selbst verläuft in unablässiger Transition, erfahrbar in mal sichtbaren, mal weniger sichtbaren Graden. „Stein Jenny“ bekräftigt dies und weist damit die konventionelle Erwartung zurück, dass Transition nur einmal und dann nie wieder vollzogen wird beziehungsweise werden sollte. Bejaht werden Unentschiedenheit und Revision, Wahl und die erneute Entscheidung für eine andere Wahl. Diese Entscheidungen finden in keinem Vakuum statt; sie beeinflussen und werden durch die Leben anderer beeinflusst, und diese Beeinflussungen hinterlassen sichtbare Krater, doch werden sie nicht durch Befragungen in einen Hinterhalt gelockt. Jennys Vertraute respektieren ihre Undurchsichtigkeit; sie belasten sie nicht mit Bekenntnisforderungen; sie missbrauchen das Bedürfnis nach Wissen nicht als Waffe und gehen nicht davon aus, dass Jenny selbst solche Antworten auf das existenzielle Experiment, auf das sie sich einlässt, im Voraus besitzt. Dieser Respekt ist eine Care-Praxis, eine Methode, um der Simultanität tiefer Verwobenheit und profunder Andersheit gerecht zu werden, die jegliche Intimität prägt.

Angus liefert uns eine Transitionsschilderung, die Fragen nach Druck und Umwelt – die eindringenden und intraaktiven Kräfte, die Jenny mitformen – berücksichtigt. Begonnen mit der Entschlossenheit ihrer Mutter, die Arten des Drucks, die das Kind zu dem gemacht haben, was es nun ist, zu unterscheiden sowie die sich (aufgrund des anthropogenen Klimawandels) häufenden Regenfälle, die den Stein „bis auf den Grundfels abgetragen hatten, wo Erosion langsamer, aber schmerzhafter war, die Narben in ihrem Mutterboden vertiefte und fossilisierte Erinnerungen an Säugetiere und eigentümlichere Verletzungen, die sie lange nicht bedacht hatte, freilegte“. Die Leser*innen werden mit einer lebendigen Darstellung der Verwobenheit von Körperlichem und Atmosphärischem beschenkt. [2]

Puppies Puppies (Jade Kuriki Olivo), „Inflatable Earth“, 2011

Puppies Puppies (Jade Kuriki Olivo), „Inflatable Earth“, 2011

Während ich gründlich über die Überschneidung von Umwelt und Transition in Angus’ Werk nachdachte, wandte ich mich Eve Kosofsky Sedgwicks posthum veröffentlichtem Essay „The Weather in Proust“ (Das Wetter bei Proust) zu. Am selben Tag erhielt ich die SMS einer Freundin, sie fragte, worüber ich schreibe. Ich antwortete ihr: „Überleben (und anderem Kram)“, woraufhin sie mir erzählte, sie habe gelacht, als sie die Nachricht las, weil ich immer darüber schreiben würde. Was gäbe es sonst? Auslöschung vermutlich. Die unterschiedlichen Maßstäbe, in denen Tod stattfindet, von Sein bis Spezies, vom Individuum bis zur Art.

Wie dem auch sei. Ich las Sedgwick. Vordergründig handelt der Essay von Marcel Proust, den ich nie gelesen habe. Wie wahrscheinlich viele andere auch hatte ich es über die Jahre eher halbherzig vor (es gibt auch noch das andere Lager, diejenigen, die mit dem Lesen der vielen Bände von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit begonnen haben, für eine Weile durchhielten, dann aufhörten – und beteuern, irgendwann wieder anzufangen, um bis zum Ende zu kommen). Ich erwähne das, um zu sagen, dass ich bei den ersten Seiten von „The Weather in Proust“ vor allem deshalb landete, weil ich erfahren wollte, was Sedgwick über das Wetter schreibt – was das Feld des Proust’schen Werks übersteigt.

Ein weiteres kleines Geständnis: Als Kind schweifte ich regelmäßig ab, während ich The Weather Channel schaute; eine Gewohnheit, die ich mir während der langen Tage angeeignet hatte, an denen mein Großvater auf mich aufpasste; er glitt in einen tagtäglichen Dämmerzustand vor dem Wetterbericht von Local on the 8s mit dem abwechselnden Soundtrack aus sanftem Jazz und klassischer Gitarre. Diese Bindung war eine Möglichkeit, von einem häuslichen Umfeld, das oft turbulent, manchmal sogar gewalttätig war, Abstand zu gewinnen. The Weather Channel hielt mich. Das Programm war tröstend in seiner Routine, es widmete sich der Zukunftsprognose und besaß damit eine hellseherische Kraft, die ich als außerordentlich beruhigend empfand. Wir konnten erfahren, was der nächste Tag bringen würde, zumindest ließ sich eine plausible Vorhersage darüber machen.

Wenn Sedgwick über das Wetter schreibt, berücksichtigt sie dessen „privilegierten Platz in Diskussionen über Komplexität“, seinen Status als ein Thema, das die Beziehungen zwischen offenen und geschlossenen Systemen dramatisiert, einen Topos, bei dem „die absolut regelbasierte zyklische Ökonomie […] fortgeschrittener menschlicher Rechenleistung“ und „die irreduzibel unkalkulierbare Kontingenz des tatsächlichen Wetters“ inzwischen „miteinander konzeptualisiert“ werden. [3] Über das Wetter zu sprechen, ist eine andere Art, über „Holding Environments“, also „haltende Umwelten“ zu sprechen; ein Begriff, den Sedgwick aus der Arbeit des Psycho­analytikers und Kinderarztes Donald Woods ­Winnicott entlehnt hat und der die Fürsorge eines schützenden und nährenden Umfelds zusammenfasst, das es „dem Kind ermöglicht, über etwas anderes nachzudenken, etwas abseits der Zuwendung der Mutter“ (S. 11). Eine haltende Umwelt ist eine Umgebung, in der die Grundbedürfnisse – „atmen, essen und trinken, die Unterstützung des eigenen Gewichts“ (S. 11) – befriedigt werden. Während die haltende Umwelt für Winnicott (und Sedgwick) in der Mutter-Kind-Beziehung begründet ist, verlangt eine sogenannte gesunde Entwicklung die Bewahrung einer solchen haltenden Umwelt, wenn der soziale Bereich des Menschen sich erweitert. Das Konzept spiegelt eine der zentralen Forderungen von Bewegungen wider, die sich für reproduktive Gerechtigkeit einsetzen: das Recht, Kinder in sicheren und gesunden Umgebungen großzuziehen.

High pressure clouds / Hochdruckwolken, September 2010, satellite image / Satellitenbild

High pressure clouds / Hochdruckwolken, September 2010, satellite image / Satellitenbild

Natürlich geben nicht alle Umfelder Halt; nicht alle Wettersysteme sind freundlich. Für Sedgwick ist ein zentrales Faszinosum an Prousts Werk die Selbstbeschreibung des Erzählers als „lebendes Barometer“ (S. 8) oder als jemand, der ein „Barometermännchen“ (S. 9) in sich trägt. Sedgwick nennt dieses Barometermännchen einen „lebhaften inneren Homunkulus“, der auf Luftdruck reagiert, der, „verglichen mit den offensichtlicheren Alternativen – Temperatur, Wind, Niederschlag, sogar Luftfeuchtigkeit […], ein subtiler, unsichtbarer und untrennbar systemischer Index des Wetters [ist]“ sowie „außerhalb eines dynamischen Interpretationskontextes rein gar nichts“ bedeutet (S. 9). „Unsichtbar trotz seiner Allgegenwart“, schreibt sie, „nehmen die meisten Menschen Luftdruck – wie die Luft selbst – die meiste Zeit schlicht als gegeben hin.“ In dieser Hinsicht ist das Barometermännchen wie die haltende Umwelt: bemerkenswert besonders dann, wenn sie beeinträchtigt oder gefährdet ist; andernfalls ist es „überraschend allgegenwärtig, überraschend schnell aus den Augen verloren, wie das Wetter“ (S. 15).

Dieses innere Barometer bietet eine Möglichkeit, die Durchlässigkeit des Subjekts zu reflektieren, die „Beziehung zwischen einem inneren Objekt und umgebenden Rahmen“ (S. 32). Zudem fungiert es als eine Art Modell der Invagination – eines Gestaltwandels mittels Entfaltung, der die Fiktion einer stabilen, fixen Unterscheidung zwischen dem Inneren und dem Äußeren, zwischen dem Subjekt und dem, was sowohl in dessen Innerem als auch jenseits davon liegt, stört. Sedgwick schreibt, dass „die Wesen im Universum wiederum wie menschliche Barometer mit dem Stoff aus dem Universum gefüllt sind. Das trifft auf die Kunst ebenso zu wie auf die irreduzibel komplexen Systeme und Substanzen, die das Wetter konstituieren“ (S. 32). Gegenüber dieser Beziehung bleibt sie eigentümlich positiv, das innere Barometer wird zur Figur, die die Offenheit des Subjekts gegenüber dem Neuen markiert, dem Bersten geschlossener Systeme, der Freude an der Überraschung, der Beschäftigung mit dem Mystischen und der schönen Dichte des reichen Innenlebens (wobei Prousts Werk als Beispiel all dessen auftritt). Anders formuliert: Für sie gibt die Umwelt, in diesem Essay, stets Halt. Es ist die haltende Umwelt, die eine Beschäftigung mit Kunst, Metaphysik, Spiritualität ermöglicht – mit all dem, was jenseits des Überlebens liegt, dem „etwas anderen“, über das eine haltende Umwelt nachzudenken erlaubt. Steven Swarbrick merkt an, dass Sedgwicks Text „schlechtes Wetter sublimiert“. [4] Wetterveränderungen signalisieren eine wiederbelebende Ankunft des Neuen, des Unerwarteten, des Überraschenden, des Erfrischenden; eine Offenheit, in derartige Veränderungen einzutauchen, kennzeichnet eine Bereitschaft des Selbst zur Transformation.

Mich reizt Sedgwicks Vergleich des Bewusstseins des Menschen über die Komplexität eines umgebenden Milieus mit einer Art inneren Barometers, das die Feinheiten und Verschiebungen des Luftdrucks nachvollzieht. Eine clevere Möglichkeit, über etwas nachzudenken, das sonst vielleicht Affektabstimmung und deren korrespondierende Grade genannt werden könnte, von Ablösung bis Hyperbewusstheit. Sedgwick scheint sich zu Charakteren hingezogen zu fühlen, die ausnehmend sensible innere Barometer besitzen. Ich wette, Proust selbst ist für sie einer dieser Charaktere – und tatsächlich schreibt sie, dass „alles in Proust von dem Verhältnis oder der Verbindung zwischen einem inneren Objekt und einem umgebenden Rahmen abhängt. Eine Ungleichheit zwischen ihnen oder ein Zusammenbruch des einen oder anderen führt zu einem Zusammenbruch der gesamten Ökologie von Werten und Vitalität.“ (S. 32) Ich vermute, die Verschiedenheit unserer Orientierungen (ein besseres Wort ist vielleicht Anliegen) besteht in unseren Gewohnheiten der Abgestimmtheit. Ein Großteil der trans Kunst und Literatur, der mich interessiert, mit dem ich regelmäßig denke, der in mir nachhallt – auch wenn er nicht unbedingt eine Quelle der Reparatur und Aussöhnung ist –, wird im Zusammenbruch ganzer Ökologien erbracht. Weder klagen jene Werke, noch sind sie bestrebt, das Ungleichgewicht zu beheben; sie sind darin verwurzelt und verschreiben sich der Frage, was es heißt, in einem solchen Zusammenbruch und durch ihn zu existieren und fortzubestehen – was heißt: der Witterung ausgesetzt zu sein. Sie wollen die Arten des Drucks begreifen, denen wir ausgesetzt sind, da es sonst unmöglich ist zu begreifen, welche Formen wir annehmen, angenommen haben.

Nicki Green, „A Discrete History of Intimacy and Violence (double urinal basin with faucets)“, 2019

Nicki Green, „A Discrete History of Intimacy and Violence (double urinal basin with faucets)“, 2019

Ich wandte mich noch einmal Sedwicks Gedanken über das Wetter zu, nachdem ich Eric A. Stanleys Atmospheres of Violence (Atmosphären der Gewalt) gelesen hatte. Anders als Sedgwick ist Stanleys Arbeit in einer Praxis verankert, die stets aus der Perspektive rassifizierter trans und queerer Erfahrungen des unmittelbaren Lebens und langsamen Todes denkt – das heißt vor dem Hintergrund von Erfahrungen struktureller Abjektion, der Zuweisung in Zonen der Nicht­existenz, gewaltsamer Auslöschung und vehementer Marginalisierung. Stanley gebraucht trans/queer nicht als ein Identitätsmerkmal, sondern um „den Moment“ zu markieren, „in dem sich Race, nichtnormative Sexualität/Gender und Gewalt innerhalb der Sackgasse der Subjektivität materialisieren“. [5] Stanleys Archiv – die Leben und brutalen, ungerechten Tode, mittels derer er eine emergente Theorie radikaler Unregierbarkeit kartiert – ist, wie Künstler*in, Aktivist*in und Autor*in Tourmaline auf dem Buchrücken attestiert, „verheerend“. Mithilfe dieses Archivs legt Stanley feindselige Situationen in gewissenhafter, nahezu forensischer Detailtreue vor und liefert damit eine Beschreibung des trans/queeren Überlebens innerhalb erstickender Lebensräume. Ein anderer Begriff für diese Verhältnisse ist Atmosphäre.

Atmosphären durchfluten, durchdringen, durchsickern, absorbieren, infiltrieren, beschleichen, überschwemmen, durchtränken, umfassen. Aufgrund der Durchlässigkeit von Fleisch und Welt geraten sie in dich hinein, gerätst du in sie hinein. Sie sind überall und nirgends, greif-, aber nicht isolierbar. Sie können gutartig, miasmatisch oder kurativ sein, weshalb Stanley, wenn trans/queeres Leben zur Sprache kommt, den Ausdruck mit dem Wort „Gewalt“ moduliert. Es gibt kein vollständiges Entkommen aus der gewaltsamen Atmosphäre, obgleich es Gnadenzonen gibt, Orte, die als das fungieren, was C. Riley Snorton im Anschluss an Harriet Jacobs und Saidiya ­Hartman „Schlupflöcher des Rückzugs“ nennt: freie Zwischenräume in der Gefangenschaft; temporäre Umgebungen des Halts innerhalb umfassender verschachtelter Herrschaftssysteme. [6]

In Torrey Peters’ Detransition, Baby gibt es eine Szene, zu der ich häufig zurückkehre, teils, weil ich sie so herzzerreißend, teils, weil ich sie ­e­xtrem lustig finde. Gegen Ende des Romans berichtet Reese – eine der Hauptfiguren, eine trans Frau, die sich durch die Komplexitäten kämpft wie das Co-Parenting mit ihrem Ex, Ames, der wiederum detransitioniert hat und mit einer cis Frau namens Katrina zusammen ist, die via Sex mit Ames schwanger geworden ist – ausführlich über ihr Interesse an Wim Hof, einem „durchgeknallte[n] Holländer, auch bekannt als Iceman“. Dieser hat eine Methode entwickelt, extreme Schmerzen zu ertragen, die unter dem Namen „Wim-Hof-Methode“ bekannt geworden ist, „eine Mischung aus Atemübungen und Kälteausdauerübungen, bei der man anfangs kalt duscht und dann irgendwann in zugefrorene Seen eintaucht. Die Anhänger der Methode sollen lernen, Schmerz auszuhalten, aber auch die Kontrolle über autonome körperliche Systeme […] zu erlangen.“ [7] Jemand, der sich mit dieser Methode zu beschäftigen begann und mit dem sie ein Date hatte, hatte Reese damit bekannt gemacht. Dieser wollte seine Erektionsstörung behandeln, indem er sich selbst vereiste, bis „kein Lampenfieber mehr aufkam“. Und es funktionierte, oder zumindest schien es so. Reese berichtet, dass der Typ, obwohl „[s]eine Haut […] so kalt [war], dass sie das Gefühl hatte, sie würde eine Leiche umarmen […], [wie] ein Gott [vögelte]“. Danach sehen sie sich eine kurze VICE-Dokumentation über Wim Hof an („Ein typischer VICE-Beitrag: ein leichtgläubiger weißer Typ, der Dinge tut, die er nicht tun sollte, das Ganze in einem kastriert exzentrischen Stil“) und Reeses Neugierde wächst, nachdem sie erfährt, dass Hofs Frau sich das Leben genommen hat. Sie lässt sich von ihm „faszinieren“.

Jahre später befindet sich Reese am allerersten warmen Tag der Saison, im Mai, trauernd am Strand des queeren Treffpunkts Riis Beach. Das Wasser ist noch immer eiskalt. Sie erinnert sich daran, wie es das kalte Eintauchen Wim Hof ermöglichte, einen „Ort neben dem Schmerz, aber nicht im Schmerz“ zu finden, und watet ins Wasser, bis sie vollständig untergetaucht ist. Doch der Strand ist voller Menschen, und sie wird prompt von einer Speedo-gewandeten Muskel-Queen gerettet, die betrunken genug ist, die Kälte nicht zu spüren. Man geht von einem Selbstmordversuch aus – und im Bemühen, zu erklären, dass dies nicht stimmt, wiederholt Reese ein ums andere Mal: „Wim-Hof-Methode“.

Die Grenzen aber sind vage; die Suche nach einem Ort neben dem Schmerz, aber nicht im Schmerz, geht das Risiko des Nicht-Orts Tod ein. Ein Blick in die (reale) Dokumentation, die das (fiktive) Date Reese empfiehlt, macht deutlich, dass der Unterschied zwischen Tod und Heilung eine Frage der schrittweisen und sich intensivierenden Exponierung ist, gepaart mit Atmung und kognitiven Strategien, die es erlauben, psychosomatisch länger und längere Tauchgänge durchzuhalten. Mit der Zeit gewinnt der Körper immer höhere Mengen an braunem Fett, das es ermöglicht, sogar in eiskaltem Wasser eine höhere Kerntemperatur zu halten. Der Körper findet die Form, die er zum Durchhalten braucht; er verändert sich in Reaktion auf den Druck, unter dem er steht. Reese ist von Wim Hof besessen, weil er sich selbst beibrachte auszuhalten, was andernfalls auslöscht. Wenn es ums Überleben geht, hat die Frage, wie dem Wetter getrotzt wird, oberste Priorität. Sedgwick bringt vor, dass der Zugang zu einer angemessen haltenden Umwelt zentral ist; Hof lehrt, wie es ist, sich selbst Halt geben zu können. Dass eine derartige Lektion Reese ködert, überrascht mich nicht; dass eine solche Lektion darauf hinausläuft, sich einer feindlichen Umgebung in Mikrodosen auszusetzen, überrascht mich ebenso wenig.

Jes Fan, „Systems II“, 2018

Jes Fan, „Systems II“, 2018

Jes Fans Werk, insbesondere Systems II und Systems III (beide 2018), erteilt uns ebenfalls Lehren über das Halten. Bekannt für Objekte von (vielleicht grotesker, immer aber sublimer) Schönheit aus politisch aufgeladenen biologischen Materialien (Östrogen, Testosteron, Melanin, Urin, Samen, Blut), entwirft er in diesen Arbeiten Apparaturen, die als ausgeklügelte Gerüste fungieren, jene omnipräsenten Stützstrukturen, die Renovierungen ermöglichen. Auf den Gerüsten befinden sich kleine Glaskugeln, wobei manche Bereiche geradezu dafür gebaut zu sein scheinen, die spezifische Gestalt einer bestimmten Form zu stützen. In diesen Kugeln sind Testosteron, Östrogen und Melanin in Silikon suspendiert, im einst flüssigen, dann formbaren, nun fragilen statischen Glas gehalten. In mehreren Interviews erläutert Fan, dass er mit Glas arbeitet, da sein Interesse dem Prozess, dem Fluss, dem Werden gilt. Er scheint aber auch an der Entdramatisierung jener Substanzen interessiert zu sein, die er in Glas suspendiert und bewahrt. Er isoliert, was Race und Gender angeblich hervorbringen und von dem angenommen wird, dass es als eine Art biologisches Substrat operiert. Indem er essenzialistische Mythen durchlöchert, erlaubt er den Betrachter*innen, einen festen Blick auf die Dinge selbst zu richten – diese aufgeladenen, regulierten Substanzen. Er lädt dazu ein, sie als Bestandteile einer umfassenderen Assemblage zu betrachten, die ihre Stasis und Zirkulation bestimmt. Vorübergehend unterbricht er den Fluss und fordert uns dazu auf, ihren Ort in einem größeren Zusammenhang, der ihre Suspension und Einhegung formt, zu erwägen; er bildet Strukturen, um jene Substanzen im Blick zu behalten, die so häufig bestimmen, wie strukturell gehalten jemand ist.

Am Ende eines Art21-Kurzfilmporträts über seine Arbeit verrät Fan ein wenig über seine Praxis, seine Arbeitsmoral und seine*n Analytiker*in:

„Mein*e Therapeut*in sagt, ich sei so vertraut mit Unterdrückung, dass sich Gefahr und Risiko und Unterdrückung für mich wie ein Zuhause anfühlen – weshalb ich mich im Atelier abplage oder mir, gewissermaßen, nicht das Recht auf Freude erlaube, weil ich als queeres Wesen hier nicht unterdrückt werde [lacht], also unterdrücke ich mich jetzt selbst [lacht], weil ich ja, wenn ich scheitere, nicht zurück kann.“ [8]

Fan beschreibt etwas Vertrautes: das Gefühl, wenn das Schlupfloch des Rückzugs unter Druck steht; wenn die Atmosphäre der Gewalt internalisiert ist. Wenn sich das, was eine mögliche Zukunft – eine Form des Auswegs, einen Ort, an dem es sich freier sein und arbeiten lässt – versprach, allmählich nach Unterdrückung anfühlt. Wenn du feststellst, dass du in einer Umgebung, die weitestgehend Halt gibt, selber unfreie Bedingungen reproduzierst. Ein anderes Thema in Fans Werk: die Wunde, die Schönheit erzeugt. Dass Schönheit – im sublimen Sinne – immer etwas Groteskes in sich birgt, ein Merkmal von Schaden oder Zerrüttung.

Die Keramikerin Nicki Green beschäftigen ähnliche Phänomene der Mutation, Transformation und des Fließens sowie die Schaffung haltender Umwelten. In Greens Arbeit erscheinen Letztere als Gefäße (Töpfe, Wannen, Krüge). In Fans Werk erlaubt die Undurchlässigkeit des Glases dem Silikon, Substanzen zu suspendieren – eine Art Schneekugeleffekt, die Erzeugung einer umschlossenen Umgebung in Miniatur. Um Keramiken undurchlässig zu machen, bedarf es eines aufwendigen Verfahrens; so ist neben dem Brennen das Glasieren erforderlich, wobei Green diesen Prozess häufig nur partiell abschließt. Damit erteilt sie dem Diktum, dass ein Keramikgefäß wasserdicht zu sein hat, eine Absage; stattdessen fertigt sie undichte Gefäße an, unvollkommene (zerbrochene, geflickte) Behälter – und stellt diese, mitunter buchstäblich, auf ein Podest. In der Arbeit Mikveh for Mycotheology (Mikwe für Mykotheologie) von 2018 erfindet sie ein Gefäß für das jüdische Ritual der Reinigung durch Eintauchen in Wasser neu. In dieser Arbeit ist eine Wanne in 24 Stücke zerbrochen, die Bruchlinien strahlen von einer zentralen Achse in der Mitte des Beckens aus. Die Wanne wurde mit Epoxid, Metallteilen und Filzunterlegscheiben wieder zusammengeflickt, doch besteht sie nach wie vor aus zwei Hälften. Ein Davidstern prangt auf dem Boden des Beckens, in zwei Teile gespalten. Das Wanneninnere ist glasiert, das Äußere offenporig belassen. Entlang der Wannenwände – unter runden Formen, die aussehen wie Mondphasen – kreisen sakral erscheinende androgyne Figuren, von denen manche Pilze sammeln, andere ihre Gesichter gen Himmel richten und die Arme wie eine priesterliche Segnung erheben. Hier findet Heilarbeit statt, unterstützt durch die Mykorrhiza-Verflechtungen, die sowohl die gesammelten Pilze auch die Szene selbst verwurzeln und zusammenheften. Green – trans, jüdisch – denkt über die Konsequenzen traditionsreicher Geschichten ritualisierter und systemischer Geschlechtertrennung nach, über die Unfertigkeit und Kontinuität von Reparatur sowie über die Schwierigkeit, eine zerbrochene haltende Umwelt wieder zusammenzufügen. Das Werk scheint zu fragen, was es braucht, um einzutauchen und verwandelt wieder aufzutauchen – gemeinsam. Sie scheint Fragen zu stellen: Welche Art haltende Umwelt muss geschaffen werden, um kollektive trans Lebenschancen umzugestalten und aufrechtzuerhalten? Welche Ressourcen besitzen wir? Die immersive Vision ist keine Belastungsprobe im Stile Wim Hofs, und doch ist sie mühevoll. Der Prozess ist bereits im Gange. Die Arbeit ist kollektiv, unvollkommen, kontinuierlich.

Hil Malatino ist Professor für Women’s, Gender, and Sexuality Studies und Philosophie an der Pennsylvania State University. Er ist der Autor von Side Affects: On Being Trans and Feeling Bad (University of Minnesota Press, 2022), Trans Care (University of Minnesota Press, 2020) und Queer Embodiment: Monstrosity, Medical Violence, and Intersex Experience (University of Nebraska Press, 2019).

Übersetzung: Sonja Holtz

Image credit: 1. National Gallery of Art, Washington, D.C., public domain; 2. Courtesy of the artist, photo CE; 3. NASA image by Jeff Schmaltz, public domain; 4. Courtesy of the artist and Kohler Co.; 5. Courtesy of the artist and Empty Gallery, Hong Kong

Anmerkungen

[1]Callum Angus, „Rock Jenny“, in: A Natural History of Transition, Tio’tia:ke [Montreal]: Metonymy Press, 2021, S. 17–28, S. 27.
[2]Ebd., S. 25.
[3]Eve Kosofsky Sedgwick, „The Weather in Proust“, in: The Weather in Proust, Durham, NC: Duke University Press, 2011, S. 3f., weitere Seitenangaben dieser Arbeit finden sich im Text.
[4]Steven Swarbrick, „The Weather in Sedgwick“, Critical Inquiry, 2, 2023, S. 165–84, S. 177.
[5]Eric A. Stanley, Atmospheres of Violence: Structuring Antagonism and the Trans/Queer Ungovernable, Durham, NC: Duke University Press, 2021, s. 27.
[6]C. Riley Snorton, Black on Both Sides: A Racial History of Trans Identity, Minneapolis: University of Minnesota Press, 2017, S. 27.
[7]Torrey Peters, Detransition, Baby, aus dem Engl. von Frank Sievers/Nicole Seifert, Berlin: Ullstein, 2022. Diese und die folgenden Zitate sind alle auf den Seiten 429–432 zu finden.
[8]Mit „Hier“ meint Fan New York, in Abgrenzung zu Hongkong, Fans Geburtsort. Vgl. „Infectious Beauty: Jes Fan“, 20. Mai 2020, Teil der New York Close Up-Serie von Art21, Digitalfilm, 8:57.