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Luce deLire

JENSEITS DER REPRÄSENTATIONALEN ­GERECHTIGKEIT

Bambi and the / und die Cross-Dresser’s Band, The Carrousel, Paris, 1958

Bambi and the / und die Cross-Dresser’s Band, The Carrousel, Paris, 1958

In ihrem Beitrag entzieht die Philosophin Luce deLire der „repräsentationalen Gerechtigkeit“ ihre argumentative Grundlage. Denn wenn Sichtbarkeit und Subversion materielle Strukturen nicht ändern, bedeuten sie wenig für diejenigen, die alltäglicher Gewalt ausgesetzt sind. Schlimmer noch: Das Ausstellen von trans Identitäten in dem Bestreben, sie für ein cis Publikum lesbar zu machen, führt tendenziell zu einer Verstärkung heteropatriarchaler Subjektpositionen. Ohne die Vorteile von Sichtbarkeit in Abrede zu stellen, weist deLire auf die Gefahr hin, Risiken von Repräsentation außer Acht zu lassen, da sich trans Menschen an der Schwelle zwischen neoliberalen und Disziplinargesellschafts­regimen befinden. Die Möglichkeiten der Kunstwelt, tatsächlich Veränderungen zu bewirken, liegen woanders – jenseits repräsentationaler Gerechtigkeit.

Was ist repräsentationale Gerechtigkeit? [1] Ein Beispiel findet sich in der Ausstellung „Under Cover: A Secret History of Cross-Dressers“ im C|O Berlin. Die beeindruckende Sammlung, in jahrzehntelanger Kleinarbeit zusammengetragen von Sébastien Lifshitz, besteht großteils aus Postkarten und Schnappschüssen von gender devianten Menschen. Sie ist sicher eine Fundgrube für historisch-wissenschaftliche Arbeit. [2] Die von Lifshitz und Kathrin Schönegg kuratierte Ausstellung aber präsentiert die Sammlung als Schule der Enttarnung. Wir sehen hier eine Typologie von gender devianten Menschen mit starkem Fokus auf trans Weiblichkeit, zentriert um Marie-Pierre Pruvot (genannt Bambi), die im Frankreich der 1950er bis 1970er Jahre zunächst als Varietékünstlerin auftrat, studierte, transitionierte und dann als Grundschullehrerin arbeitete – und der neben einer langen Fotoserie auch ein etwa 80-minütiger Film gewidmet ist. Ihre Geschichte ist es mehr als wert, erzählt zu werden. Aber worum es mir hier geht, ist etwas anderes: Die Ausstellung suggeriert eine Subjektivierung als Detektiv*in, die von Bild zu Bild ihren Blick für die mehr oder minder zarten Hinweise auf das bei der Geburt zugeordnete Geschlecht trainiert. Die realweltlichen Konsequenzen der Sichtbarkeit scheinen ihr völlig abzugehen. Sie ist damit ein Paradebeispiel für repräsentationale Gerechtigkeit. Sie versteht Repräsentation als Mittel der Gleichberechtigung, vergisst aber, dass das Problem nicht die (mangelnde oder falsche) Repräsentation selbst, sondern die von ihr ausgehende Gewalt ist.

Denn einerseits profitieren trans Menschen von medialer Repräsentation, indem trans Identität als lebbare Alternative aufgefasst werden kann. Solche Repräsentation formiert auch einen gesellschaftlichen Diskurs, auf dessen Grundlage Gesetzesänderungen in Gang gebracht werden können. Sichtbarkeit hat aber auch eine toxische Komponente. [3] Einige trans Menschen, zu denen lange Zeit auch Pruvot zählte, wollen lieber nicht als trans Menschen erkannt werden. [4] Ein weiterer Faktor ist Sicherheit:

„After the visibility of trans people of color increased in the United States in 2014, the violence seemed to worsen dramatically. The number of murders of trans people grew in 2015 by 50 percent. […] [T]ransgender women and people of color [are still] experiencing the highest rate of violence. […] The continued increase in murders of trans women of color underscores the deep need for political strategies other than simple visibility or invisibility.“ [5]

Bambi at the age of / im Alter von 39 years / Jahren, 1974

Bambi at the age of / im Alter von 39 years / Jahren, 1974

Aber ist nicht Subversion durch Sichtbarkeit ein Credo queerer Theorie? Geschlecht wird performativ hergestellt, so Judith Butler berühmterweise in Das Unbehagen der Geschlechter. [6] Geschlechternormen können durch wiederholte alternative Aufführungspraktiken schrittweise erodiert werden. In den so geschaffenen Räumen können breitere Schichten alternativ vergeschlechtlichter Menschen leben. Dieser emanzipative Effekt der Sichtbarkeit ist das theoretische Fundament der repräsentationalen Gerechtigkeit. Allerdings stimmt dieses Bild nur bedingt. Denn nur wo Unterdrückung über die gewaltsame Durchsetzung von bestimmenden Normen geschieht, ist die Erosion dieser Normen emanzipativ. [7]

Was aber, wenn die Überschreitung von Normen selbst zum Kontrollmechanismus gerinnt? Unterscheiden wir Disziplinargesellschaften von neoliberalen Gesellschaften, so sehen wir zwei grundverschiedene Verhältnisse zur Normativität: [8] Disziplinargesellschaften erzwingen Folgsamkeit durch Gewalt. Hier wird Devianz pathologisiert, bestraft, bedroht, verprügelt, ausgeschlossen, ermordet. In neoliberalen Gesellschaften generiert die Überschreitung von Normen Mehrwert. Hier wird Devianz marktfähig für Konsumption und Produktion. Transgeschlechtlichkeit befindet sich zur Stunde auf der Schwelle zwischen normierender Disziplinierung und neoliberaler Kontrolle, zwischen Pathologisierung, Illegalisierung und gewaltsamer Disziplinierung einerseits und Diversifizierung von Konsumption und Produktion andererseits. In welche Richtung es gehen soll, ist Gegenstand harter Auseinandersetzungen.

So nutzte Google Business bereits 2015 die Transition von Jacob Wanderling, um für die eigene Suchfunktion zu werben: „When people are looking online for a different kind of gym, somewhere that’s safe and inclusive, I want them to find us.“ [9] Gleichzeitig ist Devianz als kreativer Impuls gefragt. Alternative Perspektiven sind perfekte Ausgangsbedingungen für die ständige Erneuerung neoliberaler Produktionsmechanismen. [10] Trans Menschen haben in allen möglichen Disziplinen signifikante Beiträge geleistet und werden dafür zunehmend honoriert. [11] Euphorie und Angst in Bezug auf trans Menschen existieren direkt nebeneinander. [12]

Auf allen Seiten werden trans Menschen gegen eine phantasmatische Disziplinargesellschaft in den Dienst genommen: Während die Feindschaft ihnen gegenüber als verbindendes Element rechtsautoritärer Politiken im Kampf gegen eine angeblich freiheitsberaubende „Gender Ideologie“ fungiert, [13] formieren sich sogenannte progressive Kräfte als Opposition zu einem als unterdrückend und einschränkend verstandenen Geflecht von Normen, Stereotypen und Vorurteilen. Aber selbst die Grenzen progressiver Toleranz sind eng gesteckt: Nur insofern sich trans Menschen produktiv, steuerzahlend und ansonsten rechtstreu in die Ordnung neoliberaler Ausbeutung eingliedern, wird ihnen Schutz und Anerkennung gewährt. Sichtbarkeit und Subversion sind so angesichts der Neoliberalisierung gesellschaftlicher Steuerungsmechanismen zum Gegenstand ideologischer Vereinnahmung geworden – sowohl machtpolitisch als auch in Sachen Ausbeutung und mit begrenzten Handlungsmöglichkeiten für (zumeist weiße, bürgerliche, marktwillige) trans Subjekte. Hier Pinkwashing, dort konservative Werte – überall Opposition gegen die Disziplinargesellschaft.

Nur in diesem Kontext des Widerstands gegen normative Disziplin sind Sichtbarkeit und Subversion als Mittel der Emanzipation von Normen überhaupt sinnvoll. Aber auch jenseits ideologischer Indienstnahme bringen Subversion und Sichtbarkeit Probleme mit sich:

(1) Unbestimmtheit

Zwar kann eine konsequente Überschreitung von Normen zu deren Transformation beitragen. Sie kann aber auch zu deren Verschärfung führen. Als mir vor Kurzem auf einer Party mit dem Tod gedroht wurde, war meine Überschreitung nicht als subversive Einladung zur Reflexion wirksam. Sie wurde zum Anlass, cis patriarchale hetero Männlichkeit ganz unironisch aufzuführen. Nichts garantiert den subversiven Effekt der trans Geschlechtlichkeit. Dasselbe lässt sich über die Ausstellung der Lifshitz-Sammlung im C|O sagen: Nichts hindert daran, sie als Freak Show zu lesen, sich Foto für Foto der eigenen Geschlechts­identität zu vergewissern und diese Typologie der Überschreitung zu nutzen, um außerhalb des Ausstellungsraums trans Menschen zu identifizieren, und sie dann den eigenen Projektionen und Unsicherheiten auszusetzen. Subversion ohne Re-Subjektivierung läuft Gefahr, bloße Wiedereinschreibung zu bleiben. Das Ziel der Subversion kann nicht nur Repräsentation sein. Rezipient*innen müssen auf bestimmte Weise adressiert werden. Die Standardversion von Subjektivierung in einer Fotoausstellung wie „Under Cover“ ist nach wie vor die entkörperlichter, urteilender Schiedsrichter*innen zwischen gut und schlecht, interessant und uninteressant, schön und langweilig, affizierend und deprimierend et cetera. [14] Es ist die in den Ausstellungsraum und seine Kulturgeschichte eingeschriebene cis-weiß-­patriarchale Subjektivität. Subversion kann daher nicht heißen, patriarchalen Subjekten irgendwelche Bilder vorzuhalten und dann das Beste zu hoffen. Subversion muss die cis-weiß-patriarchale Subjektivierung aktiv verunmöglichen und alternative Räume schaffen. Subversion ist daher mehr eine Frage der Kuration als der Repräsentation.

„Under Cover: A Secret History of Cross-Dressers“, C|O Berlin, 2022/23, installtion view / Ausstellungsansicht

„Under Cover: A Secret History of Cross-Dressers“, C|O Berlin, 2022/23, installtion view / Ausstellungsansicht

(2) Erschöpfung und Normalisierung

Das Phantasma der performativen Subversion verleitet oft dazu, trans implizit als momenthafte Überschreitung oder als Horizont eines gesamtgesellschaftlichen Emanzipationsprozesses zu verstehen – also im Umkehrschluss cis Geschlechtlichkeit als diesseits der Überschreitung zu normalisieren. Dabei wird konsequent ignoriert, dass manche von uns in den Metaphern leben müssen, mit denen andere ihre Theorien und Kunstwerke ausstaffieren. Repräsentationale Gerechtigkeit, Politiken der Sichtbarkeit und Subversion als politische Strategie sind coole Instrumente akademischer Analyse. Sie sind hübsche Konzepte, wenn wir uns zu revolutionären Subjekten innerhalb linkspolitischer Bezugsgruppen stilisieren wollen. Aber als längerfristige Lebensentwürfe taugen sie kaum. Was sind die Effekte von jahrelanger gesellschaftlich verbriefter Aggression, von ständiger Distanz im täglichen Umgang, von wiederholten Erfahrungen der Entsolidarisierung und Favorisierung von cis Geschlechtlichkeit? Sind es nicht Erschöpfung und Misstrauen? Die Revolution lässt auf sich warten, und unsere Verbündeten müssen ihre Last nicht – oder kaum – tragen. Die Existenz längerfristiger trans Identitäten bleibt dabei außen vor. Warum? Wer hat Angst vor irreversibler Veränderung und operativen Eingriffen? Sind es nicht diejenigen, die (implizit) cis Körper und cis Identitäten als an sich schützenswert normalisieren? Ist das nicht letztlich die Wiedereinschreibung der biologischen Geschlechtlichkeit auf der Ebene politischer Realität?

(3) Ausbeutung

In neoliberalen Gesellschaften wird die Überschreitung von Normen selbst zur Quelle der Ausbeutung. So kann beispielsweise David Getsy „Axiome“ für die Transstudien in der Kunstgeschichte festlegen: „Take as axiomatic that seeing someone’s body – even in a state of exposure and scrutiny – does not tell us who they are or what gender they know themselves to be.“ [15] Aber wozu Facial Feminization Surgery, wenn nicht der sozialen Rolle wegen? [16] Wenn weiße cis Männer im Namen der Transstudien erklären können, dass trans Frauen nicht als Frauen gelesen werden sollen, ist nichts gewonnen. Allerdings kann Getsy vom zunehmenden Interesse für trans profitieren, indem er als cis verorteten Künstler*innen die Weihen progressiver Lesarten verleiht, während er selbst den Konsequenzen der viel besungenen Überschreitung der Geschlechternormen (und seiner eigenen Axiome) nicht oder kaum ausgesetzt ist. [17] Im Endeffekt werden damit trans Menschen ausgebeutet. Getsy macht seine akademischen Karrieren auf dem Rücken derjenigen, die in seinen Theorien leben müssen – und steht ihnen im schlimmsten Fall sogar im Weg.

Die repräsentationale Gerechtigkeit vergisst, dass das Problem nicht die Repräsentation selbst, sondern die von ihr ausgehende Gewalt ist. Sie ist bloß nominell, nicht materiell emanzipativ. Charles Mills beschreibt in Bezug auf Race einen Zustand nomineller Anerkennung bei gleichzeitiger Verweigerung materieller Konsequenzen:

„Whereas before it was denied that nonwhites were equal persons, it is now pretended that nonwhites are equal abstract persons who can be fully included in the polity merely by extending the scope of the moral operator [access to rights], without any fundamental change in the arrangements that have resulted from the previous system of explicit de jure racial privilege [such as the distribution of wealth].“ [18]

Police raid at the / Razzia beim National Variety Artists Exotic Carnival and Ball in Manhattan, 1962

Police raid at the / Razzia beim National Variety Artists Exotic Carnival and Ball in Manhattan, 1962

In Disziplinargesellschaften sind Minorisierte keine Rechtssubjekte. Sie sind Gewalt, Ignoranz und sozialer Isolation ausgesetzt. Neoliberale Gesellschaften hingegen erkennen Minorisierte als Rechtssubjekte an. Sie haben nun das Recht, sich ohne Gefahr für Leib und Leben ausbeuten zu lassen – so wie alle anderen auch. Allerdings ist die bestehende materielle Ordnung unter anderem ein Ergebnis der disziplinären Verordnung von cis Normen. Was aber geschieht mit den Effekten der historischen Ungerechtigkeit vergangener Tage? Was geschieht mit den Reichtümern, die qua Diebstahl, Enteignung und Mord zusammengetragen wurden? Und was geschieht mit Karrieren von trans Personen, die ruiniert wurden, was mit sozialen Netzwerken, die ihre Bindungskraft teils aus transphoben Stereotypen generieren (Männerbünde, Bruderschaften, pa­triarchal weibliche Sozialisierung)? Was geschieht mit künstlerischer Kanonisierung, mit Idealen von Schönheit, mit Bildtraditionen und Archiven, die über Jahrhunderte hinweg etabliert wurden? In ihnen lebt die Gewalt weiter – Tag für Tag. Die Museen sind voll mit Werken von cis Künstler*innen. Verkauft sie! Schafft einen neuen Kanon! Wertet cis Geschlechtlichkeit ästhetisch ab! Lasst trans Menschen über eure Kunst schreiben! Übergebt eure Galerien, eure Ateliers, eure Sammlungen an trans Kollektive! [19] Gebt trans Menschen Geld, Wohnungen, Ressourcen etc.! Das wären angemessene Maßnahmen, um der historischen Verunmöglichung von trans Identitäten, Karrieren und der Darstellung von trans Menschen zu begegnen. Schockiert? Provoziert? Repräsentationale Gerechtigkeit täuscht über das Ausmaß der Ungerechtigkeit hinweg und verschleiert die Radikalität der Maßnahmen, die zu ihrer­ Berichtigung nötig wären. [20] Sie verklärt das Problem zu einer Minderheitenfrage. Aber die Ermordung, Ausbeutung und Disziplinierung aller Minorisierten bedeutet immer auch die Herstellung einer Hegemonie. Menschen werden nicht als cis geboren; sie werden dazu gemacht. Und wie werden sie dazu gemacht? Durch Transphobie – und Transmisogynie insbesondere. Durch Bestärkung cis männlichen Verhaltens bei gleichzeitiger Sanktionierung von nicht männlichem Verhalten – also von trans Weiblichkeit. Es gibt kein Patriarchat ohne Transmisogynie. So bedeutet cis zu sein, von Transfeindlichkeit zu profitieren. Dem Abhilfe zu schaffen, kann nicht heißen, ein paar trans Menschen ein paar Jobs zu vermitteln, mal eine trans Ausgabe zu machen, mal ein paar trans Menschen auf ein Cover zu drucken oder ihre Beiträge in sozialen Medien zu teilen. [21] Trans Politik muss eine grundlegende Transformation gesellschaftlicher Verhältnisse bedeuten.

Trans Menschen wurden systematisch ermordet, eingeschüchtert und in Armut gehalten. [22] Trans Politik ist nicht nur die Politik der rechtlichen Gleichstellung. Sie ist auch die Politik der Verbesserung der konkreten Lebensverhältnisse aller Menschen durch ein Ende der Gewalt gegen trans Menschen und deren Ausbeutung. Erfolgreiche trans Politik muss daher letztlich das Ende des cis weißen hetero Patriarchats bedeuten. Trans Politik ist damit auch die Enteignung großer Wohnungsgesellschaften, weil die allermeisten trans Menschen zur Miete wohnen. Trans Politik ist auch die Entkriminalisierung von Sexarbeit, weil viele trans Menschen Sexarbeit machen. Trans Politik ist auch Tarifpolitik und die Eindämmung von Inflation und steigenden Lebenserhaltungskosten, weil trans Menschen vermehrt von Armut betroffen sind und damit solchen Entwicklungen prozentual eher ausgeliefert. Trans Politik ist auch die gesonderte Bereitstellung von Therapieplätzen und gruppenspezifischen Förderprogrammen, um die tägliche Gewalt verarbeiten zu helfen. Es bedeutet auch das Verbot der Vererbung von Reichtum, weil viele trans Menschen von ihren Familien entfremdet sind. Es heißt auch, bei der Entlohnung von trans Menschen die Mehrarbeit, die sie in cis Strukturen zwangsläufig leisten müssen, einzukalkulieren – was auch Texte zur Kunst nicht optimal gelungen ist. Nominell wurde ich nicht schlechter bezahlt als es für die eine selbstständige Co-Editorin hier üblich ist. Materiell aber bedurfte es Mehrarbeit meinerseits, um bestehende Ungleichheiten aufzuwiegen. Mills bringt es auf den Punkt: eine Geschichte struktureller Benachteiligung von trans Menschen verhindert auf materieller Ebene eine Zusammenarbeit, die die anfallenden Belastungen gleich verteilt.

Ovartaci, untitled / ohne Titel, no date / undatiert

Ovartaci, untitled / ohne Titel, no date / undatiert

Die Politik der Sichtbarkeit, die auf repräsentationale Gerechtigkeit abzielt, übersieht diese konkreten politischen Ebenen. Sie nützt damit denjenigen, die sich auf die Schulter klopfen wollen, weil sie alles richtig gemacht haben, ohne die realen Bedingungen von trans Menschen, trans Künstler*innen oder eines konstitutiv trans feindlichen Kanons verschoben zu haben. Von repräsentationaler Gerechtigkeit profitieren jene am meisten, die das meiste Privileg haben. Sie macht trans sicher – für cis Menschen.

Und was kann die Kunst? Kunstinstitutionen können aufhören, obsessiv um die Repräsentation von Identität zu kreisen und Kunst über trans Menschen als die paradigmatische trans Kunst zu verstehen. Kunstinstitutionen können vermehrt Kunst von trans Menschen in Auftrag geben, kaufen, (von trans Menschen) besprechen lassen und dafür auch mal cis Kunst entsammeln, nicht besprechen oder mal eine Weile keine cis Menschen nicht einstellen. [23] Die Texte und Kunstwerke in dieser Ausgabe von TzK können vielleicht als dementsprechende Versuche gelten – und es steht zu hoffen, dass es dabei nicht bleiben wird. Können Kunstinstitutionen trans Menschen gegenüber eine generelle Hospitalität kultivieren? Hierzu müssen trans Menschen zu Rate gezogen werden. Dementsprechend versteht sich diese Ausgabe von TzK auch als eine Einladung an trans Menschen: Lasst uns mehr Kunst machen! Lasst uns kritischer schreiben, jenseits der Diskurse von Recht, Anerkennung und Repräsentation!

alles niederbrennen.

Luce deLire ist ein Schiff mit acht Segeln und liegt unten am Kai. Als Philosophin veröffentlicht sie zur Metaphysik der Unendlichkeit, aber auch zu Queer Theory, Anti-Rassismus, Postkolonialismus und politischer Theorie. In ihren Performances verkörpert sie Figuren des kollektiven Imaginären (beispielsweise in “Full Queerocracy Now! Pink Totaliterianism and the Industrialization of Libidinal Agriculture,”, eflux journal, 2021). Auf ihrer Webseite getaphilosopher.com bietet sie „existential coaching and consulting … jenseits von Konsumption, in Richtung eigenständiger Produktion von Theorie“ an.

Image credit: 1. Courtesy of the Sébastien Lifshitz Collection; 2. C|O Berlin Foundation, photo David von Becker; 3. Courtesy of the Sébastien Lifshitz Collection; 4. Getty Images / Bettmann Collection; 5. Courtesy of Museum Ovartaci, Aarhus

Anmerkungen

[1]Anselm Franke prägte diesen Begriff eher zufällig während der Abschlussdiskussion zu „Freedom in the Bush of Ghosts“, der Konferenz im Rahmen der „Parapolitik“-Ausstellung im HKW, Berlin am 16. Dezember 2017.
[2]Siehe auch: Duncan Ballantyne-Way, „The secret history of cross dressing with Sebastian Lifshitz“, in: Exberliner, 12. September 2022.
[3]Für Fallstudien siehe Reina Gossett/Eric A. Stanley/Johanna Burton (Hg.), Trap Door: Trans Cultural Production and the Politics of Visibility. Cambridge/Mass.: The MIT Press, 2017.
[4]Jack Halberstam, In a Queer Time and Place: Transgender Bodies, Subcultural Lives, New York: University Press, 2005.
[5]micha cárdenas, Poetic Operations: Trans of Color Art in Digital Media, Durham: Duke University Press, 2022, S. 15.
[6]Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, aus dem Amerikanischen von Kathrina Menke, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1991.
[7]Dies., „Preface (1999)“, in: Dies., Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity, New York/London: Routledge, 2002, S. xx, xxiii.
[8]Gilles Deleuze, „Postskriptum über die Kontrollgesellschaft“, in: Ders., Unterhandlungen 1972–1990, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1993, S. 245–262; Paul B. Preciado, Testo Junkie. Sex, Drogen und Biopolitik in der Ära der Pharmapornografie, Berlin: B-books, 2016; siehe auch: Luce deLire, „Can the Transsexual Speak?“ in: philoSOPHIA: Journal of Transcontinental Feminism, Spezialausgabe zu Intersectionality Today, Vol. 13 (erscheint 2023).
[9]Hailee Bland Walsh, Besitzerin von City Gym in Kansas City, Missouri, in: Google Small Business, „The Story of Jacob and City Gym“, 2015.
[10]Jasbir K. Puar, The Right to Maim: Debility, Capacity, Disability, Durham: Duke University Press, 2017, S. 1; McKenzie Wark, Capital Is Dead: Is This Something Worse?, London/NYC: Verso 2021; deLire, „Can the Transsexual Speak?“, 2023.
[11]Caél Keegan, „Transgender Studies, or How to Do Things with Trans*“, in: S. Somerville (Hg.), The Cambridge Companion to Queer Studies, Cambridge Companions to Literature, S. 66–78, Cambridge: Cambridge University Press 2022, Doi:10.1017/9781108699396.006, S. 72.
[12]Für mehr siehe Vorwort.
[13]Siehe Serena Bassi/Greta LaFleur (Hg.), Trans-Exclusionary Feminisms and the Global New Right, TSQ, 3, August 2022, und Sabine Hark/Paula-Irene Villa (Hg.), Anti-Genderismus – Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen, Berlin: Transcript, 2015.
[14]Paul Greenhalgh, Ephemeral Vistas: The Expositions Universelles, Great Exhibitions, and World‘s Fairs 1851–1939, Manchester, UK: Manchester University Press, 1988, S. 21.
[15]David Getsy, „How to Teach Manet’s ‚Olympia‘ after Transgender Studies“, in: Art History, 2, 2022, S. 342–369, hier: S. 347. Ich nenne diese Herangehensweise anderswo „Gender Abolitionismus“, siehe Luce deLire, „Catchy Title [1] – Gender Abolitionism, Trans Materialism, and beyond“, in: Year of the Women Magazine, 2022.
[16]Ein positives Selbstverhältnis kann ein weiterer Grund sein. Aber für viele ist soziale Intelligibilität zentral. Für mehr über soziale Intelligibilität, siehe deLire „Catchy Title“.
[17]Ein anderes Beispiel ist Sascha Crasnow, „Beyond Binaries: Trans Studies and the Global Contemporary“, in: Art Journal, 4, 2021, S. 82–90, S. 84.
[18]Charles Mills, The Racial Contract, Ithaca/London: Cornell University Press, 1997, S. 75.
[19]Für eine gegenteilige Position, vgl. Jules Pelta Feldman, „Über Verlust – oder Verlustgefühle“, in: Texte zur Kunst, 128, 2022.
[20]Ich streiche hier die „Berichtigung“ durch, weil es die bei diesem Ausmaß der Gewalt nicht geben kann. Siehe auch Luce deLire, „How Ideal is Ideal Theory actually? Rawls, Mills, Reverse Racism and Justice as Failure“, in: Philosophy Today, 67:2 (erscheint 2023).
[21]Neben Texte zur Kunst machen das beispielsweise gerade Sinister Wisdom, in Planung, und Journal of Visual Culture, Ausgabe 19, Nr. 2, 2020. Es wird sich zeigen, wie nachhaltig diese Interventionen sein werden.
[22]Sie waren zum Beispiel oft die ersten, die im Zuge der Kolonialisierung ihr Leben lassen mussten (wobei ich hier „trans“ als Katachrese verwende). Siehe exemplarisch Jessica Hinchy, Governing Gender and Sexuality In Colonial India: The Hijra, C.1850–1900, Cambridge: Cambridge University Press, 2019, und Oyèrónké Oyěwùmí, The Invention of Women: Making an African Sense of Western Gender Discourses, Minneapolis: University of Minnesota Press, 1997.
[23]Ein offener Brief an Kunstinstitutionen bzgl. Reparationen für trans Menschen muss noch geschrieben werden. Für ein Beispiel bzgl. Psychoanalyse siehe: McKenzie Wark, „Dear Cis Analysts. A call for reparations“, in P&RAPRAXIS.