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VIVIENNE WESTWOOD (1941–2022) Marie Arleth Skov

Vivienne Westwood

Vivienne Westwood

Im letzten Jahr verlor Großbritannien zwei Königinnen. Die eine war die (gefühlt) ewige Monarchin, Königin Elizabeth II. Die andere war Vivienne Westwood, Königin des Punk. Die Leben der beiden waren über die Jahrzehnte immer wieder ineinander verwoben. In den 1970er Jahren nähte Westwood Shirts mit dem Porträt der noch jungen Elizabeth II. In ihren Lippen steckte eine Sicherheitsnadel, und umrahmt wurde sie vom Songtext der Sex Pistols: „God save the Queen, she ain’t no human being“. Aber die beste Geschichte über die beiden Queens passierte, als Vivienne Westwood 1992 ohne Unterhose zum Buckingham Palace ging, wo ihr der OBE (Most Excellent Order of the British Empire) verliehen wurde. Sie trug einen maßgeschneiderten grauen Rock, der mit goldfarbenem Satin gefüttert war, eine passende Baskenmütze und glänzende schwarze Plateaupumps. Als sie den Palast verließ, drehte sie sich mit Schwung für die wartende Presse, und ihr Rock flog so hoch, dass alle, aber auch alle Fotograf*innen das Bild schießen konnten: keine Unterwäsche, durchsichtige Strumpfhosen. Sie behauptete später, es sei keine Absicht gewesen. Aber ob das jemand glaubt? Es war so ein Westwood-Moment. Sie stand da wie schottischer Clan-Adel, nichts unter dem Kilt tragend, die Brise spürend. Oder wie Marilyn Monroe über dem Lüftungsschacht der U-Bahn − obwohl Westwood ihren Rock nicht festhielt, sondern ihn selbst hochfliegen ließ. Westwood genoss solche Momente der Provokation und des Humors. Vom Beginn bis zum Ende ihrer Karriere positionierte sie sich gegen moralistische Tabus.

Vivienne Westwood (geb. Swire) wurde am 8. April 1941 in Tintwistle, Cheshire, England, geboren und zog 1958 mit ihrer Familie nach Harrow im Großraum London. Hier belegte sie einen Silberschmiedekurs, arbeitete dann als Schullehrerin und verkaufte nebenbei ihren Schmuck an der Portobello Road. Den Namen Westwood übernahm sie von ihrem ersten Mann, dem Fabriklehrling Derek Westwood. Als der 18-jährige Kunststudent Malcolm McLaren auftauchte, war sie 24 Jahre alt und ließ sich scheiden. McLaren und Westwood, fasziniert von der frühen Punk-Szene in New York, importierten die Bewegung in einer neuen Version nach Großbritannien, politischer, radikaler, working class. Bereits 1971 hatte Westwood ihren Job als Lehrerin aufgegeben und in der 430 King’s Road ihren ersten Laden namens „Let It Rock“ eröffnet, der Teddy-Boy- und Rock ’n’ Roll-Styles verkaufte, 1950er-Jahre-Klamotten, die McLaren fand und Westwood auseinandernahm, um sie dann neu, asymmetrisch wieder zusammenzunähen: Mode Décollage. Ab 1973 benannten McLaren und ­Westwood den Laden regelmäßig um, von „Too fast to live too young to die“, zu „SEX“, später „Seditionaries“, schließlich zu „World’s End“.

In Westwoods Designs wird deutlich, w­orum es im Punk ging. Die Bondage-Hosen und SM-Looks waren Signifikanten eines libertären Kunst- und Sexualverständnisses. Die zahlreichen historischen Zitate und die Wiederverwendung von Extravaganz und Grandezza vergangener Epochen standen im Widerspruch zum, ja, erteilten eine Absage an den angeblichen Fortschritt der modernen Nachkriegsgesellschaft. Die T-Shirts mit Slogans enthielten politische Botschaften, oft den Mai-68-Protesten in Frankreich und der Situationistischen Internationale entlehnt: „Be Reasonable, Demand the Impossible“ und „Prenez vos désirs pour la réalité“ – keine klaren Forderungen, um nicht beherrschbar zu werden (das wussten schon die Dadaist*innen). Die CHAOS- und ANARCHIE-Sprüche und die T-Shirts mit aufgedruckten Gewaltbeschreibungen durchdrangen die Heuchelei des Großbritanniens der 1970er Jahre, kehrten all die Hässlichkeit nach außen. Und ALLES davon war ein Fuck You an das konservative Establishment.

Veränderung durch Provokation wurde zu ­Vivienne Westwoods Mantra, das sie bis zum Ende verfolgte. Neben ihrem Gespür für Rebellion hatte sie auch immer eine romantische Seite an sich. Kein Wunder, dass sensuelle, intelligente Frauen von Madonna über Tracey Emin bis Kate Moss, von Dua Lipa über Helena Bonham Carter bis Rihanna alle Westwood auf dem roten Teppich trugen. Glamour und Attitude. Aber als Westwood nach Beauty-Tipps gefragt wurde, um eine Jugendlichkeit wie die ihre beizubehalten, antwortete sie: „Waschen Sie sich nicht zu viel.“ [1] Bei Westwood gab es keinen Glanz ohne Dreck. Ihre erste Laufstegshow war die „Pirates“-Kollektion im Jahr 1981. Pirat*innen: das ultimative romantisierte Ideal des sexy, dirrrty outlaw. Westwoods Welt war voller Kilts und Korsetts, Dandys und Hexen, Marie Antoinette und „Blade Runner“, archaisch und futuristisch zugleich. In ihrer „Time Machine“-Kollektion der Modesaison 1988/89 machte Westwood dies gleich zum Hauptthema; zeigte eine Durchmischung verschiedener Ären, unter anderem eine Neuinterpretation der traditionellen Norfolk Suits.

Schottenkaro, Harris Tweed, Savile Row, Francois-Boucher-Drucke, altmodische Elemente wie Puffärmel und Contouche-Kleider inspiriert von Antoine Watteau. Eine Art Revitalisierung, eine Intensivierung vergangener Konzepte: Die Freibeuter-Jacke mit Schlitzärmeln, Reifrock, aber neuinterpretiert als Mini-Crini, Pilot*innen-Jumpsuits, Hosen mit postmodern anmutenden, überflüssigen Reißverschlüssen – nicht selten haben Westwoods Designs eine Tendenz zum Absurden, zur humorvollen Übertreibung, wie beispielsweise bei den Po-Kissen-Turnüren der „Vive la Cocotte“-Kollektion (1995/1996) oder den „Super Elevated Gillie Heels“ mit sensationellen 30,5 cm hohen Absätzen. Westwood arbeitete oft mit historischen Bezügen, entlehnt aus der Kunstgeschichte, aus der Mode­geschichte, aus Jahrhunderten des Geschichtenerzählens. Umso verständlicher, dass sie eine der leidenschaftlichsten Kämpfer*innen für den freien Eintritt in die britischen Nationalmuseen war. Die Kampagne „Free Entry to Our Museums“ hatte 2001 Erfolg. „Mir wurde klar, dass es ohne Ideen keine Subversion gibt. Es reicht nicht, alles zerstören zu wollen“, so Westwood. [2] Keine Subversion ohne Ideen – und Ideen hatte Westwood im Überfluss. Sie vereinte Tradition und Rebellion, sie dekonstruierte, aber sie baute auch auf.

In den Jahren nach Punk wurde Westwood als eine der wichtigsten britischen Modemacher*innen anerkannt. 1990, 1991 und 2006 zeichnete sie der British Fashion Council als Modedesignerin des Jahres aus. Nach der Trennung von ­McLaren blieb sie ein Jahrzehnt lang Single, bevor sie 1993 den österreichischen Designer Andreas ­Kronthaler heiratete, der von da an mit ihr gemeinsam arbeitete. In Berlin lehrte Westwood von 1993 bis 2004 als Professorin für Bekleidungsdesign am Studiengang Industrial Design an der Universität der Künste. Sie organisierte mit ihren Student*innen spektakuläre Modenschauen an ungewöhnlichen Orten, etwa in der Abflughalle des ehemaligen Tempelhofer Flughafens, und zwar bevor alle anderen auf die Idee kamen. Von den 1990er bis in die 2010er Jahren entstanden legendäre Kollektionen, wie „On Liberty“ (1994/1995, benannt nach John Stuart Mill), „Propaganda“ (2005/2006) oder „Unisex: Time to Act“ (2015/16). Vivienne Westwoods Mode erfordert Denken, erfordert Stellungnahme. Gegenkultur war bei ihr kein Slogan, sondern Gegenkultur tatsächlich im Sinne von Kultur, die sich dagegenstellt. Kultur, die gegen den öden Mainstream und bornierten Konservatismus ankämpft.

Westwood setzte Klima auf die Agenda, viele Jahre, bevor es schick wurde. Sie nahm an Demonstrationen der Extinction-Rebellion-Bewegung teil. Sie war Vegetarierin und engagierte sich gemeinsam mit PETA für ein Verbot des Einzelhandelsverkaufs von Pelzen. 2015 fuhr sie in einem Panzer zum Haus des damaligen britischen Premierministers David Cameron in Oxfordshire, um gegen Fracking zu protestieren. Westwood widmete ihre Kollektion 2013 Chelsea Manning; alle Models trugen einen Button mit dem Wort „Truth“. 2020 veranstaltete sie einen Protest vor Old Bailey, dem Londoner Strafgericht, um Julian Assange zu unterstützen und gegen seine Auslieferung an die USA zu protestieren (Westwood, in einem kanariengelben Anzug, schaukelte drei Meter über dem Boden in einem Käfig und schrie, dass sie „der Kanarienvogel in der Kohlengrube“ sei).

Zuletzt sprach sie sich auf ihrem No Man’s Land-Blog für die Klimaaktivist*innen aus, die dafür kritisiert wurden, Suppe auf die Glasscheibe geworfen zu haben, hinter der Vincent van Goghs Sonnenblumen geschützt sind. Westwood betonte: Der Protest sei so konzipiert, dass er keinen Schaden anrichte, das empörte Establishment stelle mal wieder seine Ignoranz zur Schau, junge Menschen seien verzweifelt. Sie verwies auf die T-Shirts der Aktivist*innen mit der Aufschrift „Just Stop Oil“. [3] Und ja, ein solch verlangender Spruch ist ganz im Westwood’schen Stil. „NO FUTURE“ ist für die junge Generation von heute zurückgekehrt, unter anderen Vorzeichen. Und Vivienne Westwood, mit 81 Jahren noch jung im Herzen, war auf ihrer Seite. Sie blieb extravagant, exzessiv und doch bodenständig. Wir haben in der Tat die Königin des Punk verloren.

Marie Arleth Skov ist eine dänische Kuratorin und Kunsthistorikerin, die in Berlin lebt. Sie ist Vorsitzende des Punk Scholars Network in Deutschland. Ihr aktuelles Buch Punk Art History. Artworks from the European No Future Generation ist bei Intellect Books erschienen (Mai 2023).

Image credit: © Juergen Teller

Anmerkungen

[1]Alex Peters, „Unpacking Vivienne Westwood’s punk ­approach to beauty over the years“, in: Dazed, 30. Dezember 2022, (Übersetzung der Autorin).
[2]Zit. nach Shahidha Bari, „Romantic, Sexy and Subversive: Vivienne Westwood’s Liberating Influences“, in: Art Review, 13. Januar 2023 (Übersetzung der Autorin).
[3]Vivienne Westwood, Post vom Freitag den 4. November 2022, climaterevolution.co.uk.