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XENOGENESIS Oliver Hardt über Sandra Mujinga im Hamburger Bahnhof, Berlin

„Sandra Mujinga: IBMSWR: I Build My Skin With Rocks“, Hamburger Bahnhof, Berlin, 2022–23, Ausstellungsansicht

„Sandra Mujinga: IBMSWR: I Build My Skin With Rocks“, Hamburger Bahnhof, Berlin, 2022–23, Ausstellungsansicht

Über drei Stufen in eine andere Welt – mit minimalistischem architektonischem Gestus verwandelt Sandra Mujinga die mehrere Quadratmeter messende Fläche des LED-Screens ihres Werks in ein Portal. Das mit extremer Nahsicht arbeitende Bewegtbild verwehrt zugleich einen vollständigen Eindruck jener Gegenwart, die Mujinga in einer dystopischen Zukunft entwickelt. Aus den zwischen Körper- und Landschaftsoberflächen oszillierenden Häuten schält die Künstlerin eine hy­bride Gestalt hervor, die Oliver Hardt in seiner Rezension im Schaffenskontext Mujingas verortet. Dabei verweist der Filmemacher auch auf blinde Flecken unserer Gegenwart, die sich in der Rezeption der Ausstellung offenbaren: Dem weißen deutschen Kulturjournalismus gelingt es nicht, die in Mujingas Werk so fest verankerte Auseinandersetzung mit afrofuturistischer Fiktion zu erkennen.

Koloniale Eroberungen, Ausbeutung und Raubbau an der Natur haben die Erde in naher Zukunft unbewohnbar gemacht. Auf den Überresten der zerstörten Welt muss eine neue geschaffen werden. Es ist die Stunde des worldbuilding, in der die Weltenbauer*innen aus den dystopischen Grundbedingungen unserer Zukunft, die für sie bereits vergangen ist, eine fiktionale Gegenwart entwerfen. Die norwegische Künstlerin Sandra Mujinga, geboren 1989 in Goma, Demokratische Republik Kongo, ist eine von ihnen. In ihrer neu kreierten Welt ist das letzte Lebewesen zugleich das erste seiner Art. Was, wenn es kein Mensch wäre, sondern eine hybride Kreatur, deren Fähigkeit zur Anpassung ihr Überleben in einer erbarmungslos feindlichen Umwelt sichern muss? Wie wäre diese Kreatur beschaffen?

In der Tiefe der ansonsten leeren historischen Halle des Hamburger Bahnhofs steht eine schwarze, quaderförmige Skulptur, in deren Vorderseite ein neun Meter hoher und vier Meter breiter LED-Screen eingelassen ist. Drei Stufen trennen die riesige Bildfläche vom Hallenboden – ein architektonisches Detail, das die Frontseite der Skulptur in ein Portal verwandelt. Die gesamte Dimension des Quaders erschließt sich den sich nähernden Betrachter*innen erst, wenn sie die Mittelachse verlassen und die Tiefe des Aufbaus wahrnehmen, der nach hinten rund 20 Meter in den Raum hineinragt. Flankiert wird er von einer Reihe von Lautsprecherboxen, die unter der Hallendecke montiert sind und aus denen ein warmer, repetitiver Soundtrack in den Raum fließt. Die knapp einstündige Videoarbeit, die in diesen Schrein eingebettet ist, zeigt zunächst in extremen Close-ups bewegte, schwer zu definierende Oberflächen in Schwarz und Silber und Grau, die an Felsen, erkaltete Lava oder flüssiges Quecksilber erinnern, dann wieder an organische Texturen wie die dicke, widerständige Haut eines Elefanten. Fragmente von farbigen Artefakten in Rot, Grün, Blau und Gelb leuchten an manchen Stellen aus der Kraterlandschaft hervor. Plötzlich wird eine Hand erkennbar, ein Mund, ein Auge, Füße, die sich auf die Betrachter*innen zu bewegen. In der rauen Optik des Videos ist ein Körper zur Landschaft geworden und eine Landschaft zum Körper.

Sandra Mujinga, „I Build My Skin With Rocks“, 2022, Videostill

Sandra Mujinga, „I Build My Skin With Rocks“, 2022, Videostill

IBMSWR: I Build My Skin With Rocks betitelt die zwischen Berlin und Oslo lebende Künstlerin ihre raumgreifende Videoinstallation. In Abwandlung eines Zitats des auf Martinique geborenen Philosophen und Schriftstellers Édouard Glissant, der sich aus Felsen eine neue, postkoloniale Sprache erschaffen wollte, [1] verlagert Mujinga den Fokus der Abwehr einer unwirtlich gewordenen Umgebung von der Sprache auf den Körper, auf die Haut. Doch ist es nicht die Haut eines Menschen, sondern vielmehr die einer Kreatur, die noch im Werden ist. Diese spekulative Kreatur hat vielleicht noch viel Menschliches, ist aber bereits hybrid geworden, indem sie Gene und Überlebensstrategien anderer Daseinsformen in sich aufgenommen hat. Was wir sehen, ist ein Körper, der sich einen Überlebenspanzer angelegt hat oder sich aus ihm herausschält, je nachdem zu welchem Zeitpunkt die Betrachter*innen in das als Loop angelegte Video einsteigen.

Haut oder Panzer, Rüstung oder Bekleidung, Kreatur oder nur deren Hülle – diese Ambiguität ist ein zentrales Motiv in Sandra Mujingas noch jungem Werk. Ihr fiktionales Universum ist von neuen Lebensformen bevölkert und funktioniert nach eigenen physikalischen und philosophischen Gesetzen. Bereits in der Nominierungsausstellung zum Preis der Nationalgalerie, die Mujingas Einzelpräsentation als Preisträgerin vorausging, hat sie Aspekte dieses Universums in der Installation Sentinels of Change (2021) eindrücklich umgesetzt. Ihre überlebensgroßen Wächter*innen standen dort, eingetaucht in grünes Licht, wie Wesen von einem anderen Planeten. Oder waren es nur die Überreste ihrer textilen Rüstungen, mit denen sie durch die Zeit gereist sind? Waren die skulpturalen Figuren der Sentinels of Change locker im Raum verteilt und erhielten so ihre starke physische Präsenz, lässt Mujinga in IBMSWR ihre neu geschaffene Kreatur aus der schwarzen Medienskulptur heraus agieren. In ihrer ersten institutionellen Einzelausstellung in Deutschland verdichtet sie Motive ihrer früheren Arbeiten zu einer Sound- und Videoskulptur, die alle hier adressierten Sinne gleichermaßen beansprucht: das Sehen und Entziffern der amorphen Formen und Materialien, das Hören des sanft-hypnotischen Soundtracks, die physische Wahrnehmung der leeren Halle, die die Betrachter*innen umgibt.

Wo immer im westlichen Kunst- und Kulturkontext ein schwarzer Monolith auftaucht, ist die Assoziation mit Stanley Kubricks Film 2001: Odyssee im Weltraum (1968) nicht weit. Body-Horror, Prothetik und Hybridisation rufen Vergleiche mit dem Werk des kanadischen Regisseurs David Cronenberg auf den Plan, und das Spiel der Künstlerin mit dem Elefanten-Hybridwesen (und dem damit verbundenen Unheimlichen) erinnert manche Kritiker*innen an David Lynch. Große Namen also aus dem Kanon einer hauptsächlich weißen, männlichen Filmgeschichte, die als Referenz hervorzuheben eine eher zweifelhafte Ehre für die Künstlerin darstellen. Natürlich gibt es keine richtigen oder falschen Assoziationen. Doch lohnt es sich zu hinterfragen, inwieweit eine solche Rezeptionshaltung der Arbeit einer Künstlerin gerecht werden kann, die sich explizit auf die Erfahrung des Schwarzseins im europä­ischen Zusammenhang bezieht und deren Wirken sich viel eher in den Kontext des Afrofuturismus einschreibt als in die Genealogie einer weißen Dominanzkultur. Der Afrofuturismus bemüht sich ausdrücklich um genuine Ausdrucksformen Schwarzer Subjektivität, die er in der Zukunft oder in alternativen Räumen, Zeiten und Realitäten ansiedelt. Als eine Form spekulativer Fiktion, die eine andere, oft bessere Zukunft vorstellbar macht, ist er im Laufe der letzten Jahrzehnte zu einem wichtigen Quellcode Schwarzer Kreativität geworden. Indem dieser Umstand ignoriert oder überschrieben wird, wie mehrfach in den Rezensionen zur Ausstellung geschehen, [2] schließt sich der Kreis der machtvollen Unterschlagung Schwarzer Genealogien.

„Sandra Mujinga: IBMSWR: I Build My Skin With Rocks“, Hamburger Bahnhof, Berlin, 2022–23, Ausstellungsansicht

„Sandra Mujinga: IBMSWR: I Build My Skin With Rocks“, Hamburger Bahnhof, Berlin, 2022–23, Ausstellungsansicht

Es ist vor allem das Werk der afroamerikanischen Science-Fiction-Autorin Octavia E. Butler, auf das sich Sandra Mujinga vielfach bezieht und dessen Kenntnis auch einen Schlüssel zum Verständnis der Ausstellung „IBMSWR“ bietet. Besonders Butlers Romantrilogie Lilith’s Brood (original erschienen 1987 bis 1989 unter dem Titel Xenogenesis) spielt in Mujingas Auseinandersetzung mit dem Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt und zu anderen organischen Daseinsformen eine wichtige Rolle. Ein früheres Werk der Künstlerin trägt bereits ein Zitat aus Dawn, dem ersten Buch der Trilogie, als Titel: Humans, On the Other Hand, Lied Easily and Often (2016) besteht aus mehreren Fotografien, die jeweils die Nahaufnahme eines Gorillas zeigen, aufgenommen von Mujinga bei einem Besuch des Virunga-Nationalparks in der Demokratischen Republik Kongo. Die Rahmen sind mit reflektierendem Glas versehen, sodass Betrachter*innen, die die Gorillas anschauen, zugleich ihr eigenes Spiegelbild sehen und so Teil einer artenübergreifenden Verschmelzung werden. Die Idee der Interspezies-Allianz steht im Mittelpunkt der Handlung von Butlers Romantrilogie, und zwar als notwendiges Werkzeug des Überlebens in einer postapokalyptischen Welt: Einige Jahrhunderte nach einer nuklearen Apokalypse wird die Titelfigur Lilith, eine Schwarze Frau, von den sogenannten Oankalis aus dem Kälteschlaf geholt. Die Oankalis sind extraterrestrische gene traders, die ihr eigenes Überleben und zugleich den Fortbestand der Menschheit durch den Austausch genetischer Information zu sichern in der Lage sind. Octavia E. Butler verhandelt im Verlauf des komplexen Plots Fragen von Kolonialität und Postkolonialität, von Darwinismus, Biodiversität, Race und Gender. Die reale Welt, aus der heraus sie schrieb, war geprägt vom immer präsenten US-amerikanischen Rassismus und dem Backlash der Reagan-Administration mit ihren Fantasien von einem begrenzbaren Atomkrieg, in dem die USA keinen Schaden nähmen. Die Frage nach dem Wesen und Nutzen artenübergreifender Allianzen, die Butler in Lilith’s Brood verhandelt, fand später vor allem durch Texte der Philosophin Donna Haraway Eingang in den Kunstdiskurs.

Im begleitenden Katalog zu „IBMSWR“ arbeiten die Künstlerin und der Kurator der Ausstellung, Daniel Milnes, die Verortung des Werkes zwischen postkolonialem Diskurs, Gender- und Animal Studies sorgfältig heraus. Aus den weiteren Beiträgen der umfang- und bildreichen Publikation sei hier vor allem ein Text hervorgehoben: In ihrem lesenswerten Essay schreibt die Autorin und Romanistikprofessorin Thangam ­Ravindranathan über die zentrale Bedeutung des Elefanten in der kolonial strukturierten Welt des 20. und 21. Jahrhunderts, die ihn in ökonomischer, territorialer und philosophischer Hinsicht zum Knotenpunkt verschiedenster Interessen werden ließ.

Vor dem Hintergrund der im Katalog versammelten Verweise wird die Ausstellung in ihrer ganzen Vielschichtigkeit erfassbar. Glissants Sprache für eine postkoloniale Poetik setzte noch das Vorhandensein einer postkolonialen Welt voraus. Die imaginierte Welt hingegen, in der Sandra Mujinga ihre Kreatur erwachen lässt, kennt keine Nationen mehr, kennt die Kolonie so wenig wie die Postkolonie. Es ist eine Welt, in der das Überleben von der Wiederanpassung an eine wie auch immer feindlich gewordene Umwelt abhängt: Survival of the thickest. Lassen wir uns vorsorglich eine Elefantenhaut wachsen oder eine Haut aus Felsen.

„Sandra Mujinga: IBMSWR: I Build My Skin With Rocks“, Hamburger Bahnhof, Berlin, 9. Dezember 2022 bis 1. Mai 2023.

Oliver Hardt ist Regisseur, Autor und Filmemacher. Sein Interesse gilt zeitgenössischer Kunst, Architektur und Design mit besonderem Augenmerk auf die hybride Kultur der afrikanischen Diaspora.

Image credit: 1+2. Courtesy of Sandra Mujinga, Croy Nielsen, Vienna and The Approach, London, photo Jens Ziehe; 3. Courtesy of Sandra Mujinga, Croy Nielsen, Vienna und The Approach, London

Anmerkungen

[1]„Je bâtis a roches mon langage“, in: Édouard Glissant, ­L’Intention poétique, Paris 1969, S. 43, zit. nach: Kathryn ­Yussoff, „Die Wächter*innen der nahen Zukunft“, in: ­*Sandra Mujinga, IBMSWR: I Built My Skin With Rocks*, Ausst.-Kat., hg. von Hamburger Bahnhof – Nationalgalerie der Gegenwart, Berlin, 2022.
[2]Am deutlichsten bei Andreas Kilb, „Die andere Seite der Haut“, in: FAZ vom 27.12.2022; außerdem bei Sophie Jung, „Invasion der Architektur“, in: wochentaz vom 10.–16.12.2022, und Ingeborg Ruthe, „Ode an den Elefanten“, in: Berliner Zeitung vom 10.12.2022.