Cookie Warnung
Für statistische Zwecke und um bestmögliche Funktionalität zu bieten, speichert diese Website Cookies auf Ihrem Gerät. Das Speichern von Cookies kann in den Browser-Einstellungen deaktiviert werden. Wenn Sie die Website weiter nutzen, stimmen Sie der Verwendung von Cookies zu. Akzeptieren

73

Paulina Pobocha

ÜBER DIAMOND STINGILYS „ENTRYWAYS“

“Diamond Stingily: Wall Sits,” Kunstverein München, 2019

“Diamond Stingily: Wall Sits,” Kunstverein München, 2019

In ihrer Auseinandersetzung mit der skulpturalen Praxis von Diamond Stingily greift Paulina Pobocha etwa 100 Jahre zurück, auf die Readymades von Marcel Duchamp. Den Vergleich – das klassische kunsthistorische Erkenntnismodell schlechthin – zieht Pobocha in ihrer so präzisen wie persönlichen Prosa, die im gleichen Maße wie ihr Gegenstand amüsant und ernst ist. Diese Annäherung an die Werkserie „Entryways“ stellt die Eigenständigkeit von Stingilys Tür-Installationen heraus. Pobocha sieht sie gänzlich in der Materialität verankert; biografisches Beiwerk kann aus ihrer Sicht getrost unter den Tisch fallen.
Mehr als 100 Jahre sind vergangen, seit Marcel Duchamp bei J. L. Mott Iron Works in New York ein Urinal kaufte, es auf die Rückseite legte, mit „R. Mutt 1917“ signierte und datierte und dann unter dem Titel Fountain bei der damaligen Jahresausstellung der Society of Independent Artists einreichte. Diese unverfrorene (und witzige) Geste brachte das Readymade hervor und veränderte für immer, was als Kunst gilt und was nicht. Mit dem Ergebnis, dass alles, was behauptet, es zu sein, es auch ist. Ob es interessant oder wichtig, gut oder schlecht oder gar, allen Behauptungen zum Trotz, doch nicht Kunst ist, und wer das entscheidet, ist eine ganz andere Frage. Die Schönheit liegt im Auge der Betrachter*innen.
Eine der vielen Aufgaben des Readymade bestand darin, die Kunst von manuellen Formen der Repräsentation, sei es durch Malerei, Skulpturen oder sogar Texte, zu befreien. Warum eine Sache darstellen, die in der Welt bereits vorhanden ist, wenn man die Sache selbst verwenden und daher auf die Mittlerin, auch bekannt als Hand des*r Künstler*in, verzichten kann? Es gibt viele Gründe dafür, und sie bestehen bis heute. Ebenso wie das Readymade in seinen unzähligen Verkörperungen: das assistierte Readymade, das gefundene Objekt, die Assemblage und andere Bezeichnungen, die zwar dicht nebeneinander­liegen, aber nicht unbedingt austauschbar sind.
Diamond Stingily nimmt Dinge, die es in der Welt gibt, und verwendet sie in ihren Skulpturen und skulpturalen Installationen. Dies sind zwei von mehreren Medien, in denen sie arbeitet. Ihre bekannteste Serie von Skulpturen, die zwischen 2016 und 2021 entstand, heißt Entryways. Diese Werkgruppe umfasst ungefähr 25 einzelne Arbeiten. Auch wenn gelegentlich noch andere Objekte ins Spiel kommen, besteht jeder Entryway aus drei entscheidenden Komponenten: einer Tür, einem Baseballschläger und einer Metallstange.

Diamond Stingily, “Entryways,” 2021

Diamond Stingily, “Entryways,” 2021

Die Türen sind Haustüren. Es sind keine Türen, die in die Innenräume von Industriebauten oder Geschäften, Restaurants, Büros und andere öffentliche oder halböffentliche Räume führen. Wenn sie irgendwo hinführten, dann vom Haus auf die Straße. Es sind keine Türen von Wandschränken oder Schlafzimmern oder Schiebetüren zum Wohnzimmer; sie trennen keine Wohnräume. Das verraten die Schlösser – mal Bolzenschlösser, mal Türketten. Sie heißen Entryways, aber ihre Orientierung gegenüber den Betrachter*innen legt eine Bewegung von drinnen nach draußen nahe – vielleicht sind es exitways, Ausgänge, aber das kommt darauf an, wer spricht.
Für Entryways werden Türen verwendet, die in Nordamerika weit verbreitet sind.
Keine dieser Türen ist neu. Sie sind abgenutzt, schmutzig, lädiert. Ihre Patina enthält Erinnerungen. Sie verströmen Geschichten. Die Entryways haben Sachen gesehen, die ihr euch nicht vorstellen könnt – Momente, die sich in der Zeit verloren haben wie Tränen im Regen.
An jeder Tür lehnt ein Baseballschläger.
Allein das ist schon vielsagend. Ein Bild sagt mehr als tausend Worte.
An der Rückseite jeder Tür befindet sich eine Metallstange, die an Montagematerial erinnert; sie verbindet die Tür mit der Wand und hält sie in aufrechter Position. Der Abstand zwischen Tür und Wand hängt von der Länge der Stange ab und variiert von Arbeit zu Arbeit. Die Türen sind nie unmittelbar an der Wand installiert, damit nicht der leiseste Eindruck entsteht, sie könnten irgendwohin führen. Sie sind an Ort und Stelle fixiert und dienen keinen anderen Zwecken; sie öffnen sich nicht, sie schließen sich nicht; sie führen nirgendwohin.
Obwohl viele von Stingilys Skulpturen aus Alltagsgegenständen konstruiert sind, kommt das Gespräch nie auf Duchamp, wenn es um ihr Werk geht. Und das aus gutem Grund. Erstens liegen 100 Jahre zwischen Fountain, und Arbeiten wie Entryways, und in dieser Zeit sind unzählige Beispiele für Kunstwerke entstanden, die sich auf die eine oder andere Weise mit Readymades auseinandersetzen. Stingily aus dieser Gruppe herauszugreifen, mag willkürlich erscheinen und ist es vielleicht auch. Zweitens sind Duchamps Fountain und seine danach entstandenen Readymades selbstreflexiv (jedenfalls am Anfang; wenn Repliken hinzukommen, wird die Sache heikel). Sie verweisen auf ihren Status als Kunstobjekte. Das liegt nahe. Überlegungen zur Ontologie des Readymade sind mindestens ein Teil dessen, was ein Readymade zum Readymade macht. Sie sind zugleich das, was das Readymade 1917 zu einem radikalen Vorschlag machte. Stingilys Skulpturen aus Türen und Baseballschlägern haben mit solchen Anliegen nichts zu tun; sie gehören einer anderen Gattung von Gesten an. Doch eine Möglichkeit, um bestmöglich zu verstehen und zu definieren, wie Stingily Objekte verwendet, die man als Readymades bezeichnen könnte, wäre zu zeigen, warum und auf welche Weise sie es nicht und was sie stattdessen sind.
Entryways haben biografische Wurzeln. Die Arbeiten zitieren die Gewohnheit von Stingilys Großmutter, in der Nähe ihrer Wohnungstür einen Baseballschläger zu platzieren, um sich notfalls schützen zu können. Die Geschichte ist so zentral für die Diskussion über Entryways, dass sie beinahe ein Teil der Arbeit ist.
Ist die Skulptur so unzulänglich, dass ihre Bedeutung aus der Biografie hergeleitet werden muss?

System Message: WARNING/2 (<string>, line 40)

Line block ends without a blank line.

In seiner Besprechung einer Einzelausstellung von Stingily 2019 schreibt Jacob Proctor in Artforum:

„In einer Zeit, in der die Kunstwelt mit Arbeiten über Identität geflutet wird, zeichnet sich Stingily dadurch aus, dass ihr Rückgriff auf die Lebensgeschichte ihr Werk einem größeren Publikum in hohem Maße zugänglich macht. Für die Besucher*innen dieser Ausstellung […] zählt es, dass ihre Großmutter neben der Eingangstür einen Baseballschläger bereithielt.“ [1]

“Diamond Stingily: Elephant Memory,” Ramiken Crucible, New York, 2016

“Diamond Stingily: Elephant Memory,” Ramiken Crucible, New York, 2016

Diese Geschichte ist so zentral für die Diskussion über „Entryways“, dass sie beinahe ein Teil der Arbeit ist.
Aber sie ist es nicht.
Die Skulptur definiert den dreidimensionalen Raum. Dieser Raum kann von Materie eingenommen werden oder nicht – auch ein leerer Raum kann skulptural sein.
Als versierte Autorin hätte Stingily ihre Erinnerung daran, dass ihre Großmutter in der Nähe ihrer Wohnungstür einen Baseballschläger bereithielt, in einem Essay beschreiben können. Vielleicht hat sie das sogar getan. Sie hat die Geschichte mehr oder weniger ausführlich in zahlreichen Interviews erzählt. Sie hat aus dieser Erinnerung auch eine Skulptur gemacht. Das hätte sie nicht gemusst.
Jeder Entryway besteht aus drei entscheidenden Komponenten: der Tür, dem Baseballschläger und der Metallstange. Betrachter*innen, die ihnen begegnen, müssen sich der Körperlichkeit dieser Skulpturen stellen; dazu gehört nicht nur, was sie sind, sondern auch, aus welchen Dingen sie hergestellt wurden, wie diese Dinge miteinander zusammenhängen, welche Funktionen sie innerhalb der gesamten Komposition haben, welchen Raum die Skulpturen einnehmen und welchen nicht, wie sie positioniert sind und wie sich ihre Körper zu unseren verhalten: Müssen wir uns ihnen frontal oder von der Seite nähern? Kann man um die Skulptur herumgehen und sie von allen Seiten erleben? Um Entryways zu verstehen, sind solche Fragen von größter Bedeutung. Ihre zahlreichen materiellen Spuren von Ereignissen schaffen Raum für eine Fülle von Lesarten. Sie sagen uns alles, was wir wissen müssen. Alles andere ist nur das Sahnehäubchen auf dem Kuchen. Und der Kuchen ist richtig gut.

Diamond Stingily, “Entryways,” 2017

Diamond Stingily, “Entryways,” 2017

Wenn ich Duchamps Readymades in einem Museum begegne, 100 Jahre nachdem er sie in die Welt gesetzt hat, finde ich sie sehr disruptiv, nicht zuletzt, weil sie mich zum Lachen bringen. Wir haben all diese Objekte schon einmal gesehen, und ihre Alltäglichkeit lässt sie mehr als befremdlich erscheinen. Denke nur an In Advance of the Broken Arm (1964, nach dem verlorenen Original), eine Arbeit, die er zum ersten Mal 1915 machte (oder vielmehr in einem Haushaltswarenladen kaufte), zwei Jahre bevor das Urinal zur Skulptur wurde. Es ist eine Schneeschaufel, die zur Präsentation an der Decke aufgehängt wird. Ihr Titel, der auf die Arbeit aufgemalt wurde, macht eine spielerische Vorhersage, was passieren könnte, wenn dieses Objekt seine bestimmungsgemäße Funktion nicht ordentlich ausführte. Das ist alles. Warum unter allen Dingen, die man in einem Haushaltswarenladen kaufen kann, eine Schneeschaufel? Warum nicht!
Die Arbeiten, die Duchamp als „assistierte Readymades“ bezeichnete, sind ganz anders, wenn man davon absieht, dass auch sie mehr als befremdlich sind. Ein assistiertes Readymade ist eine Skulptur aus mindestens zwei Dingen, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben. Das bekanntestes Beispiel ist zugleich die früheste Skulptur, die er unter Verwendung von Massenware herstellte: Bicycle Wheel (1951, nach dem verlorenen Original von 1913). Duchamp nahm ein Fahrrad-Rad und montierte dessen Gabel auf einen hölzernen Hocker; in dieser Konfiguration konnte sich das Rad weiterhin drehen. Während das Rad und der Hocker ganz alltäglich sind  – und es sicher auch 1913 schon waren –, sind sie in Kombination verblüffend. Die einfache Geste, ein Ding an einem anderen zu befestigen, brachte ein zweckfreies Objekt hervor, dessen Form nicht nur vollständig neu, sondern trotz seiner Einfachheit bis dahin unbegreiflich war.
Stingilys Skulpturen sind völlig anders zu verstehen, auf eine Weise, die von größter Bedeutung ist. Obwohl Stingily Race nicht direkt thematisiert, können wir aufgrund ihres Werks vermuten, dass sie darin auf Erfahrungen zurückgreift, die in Schwarzen Communities besonders verbreitet sind. Dass die Arbeit ihre Geschichte nicht zu Ende erzählt, macht sie umso umfassender.
Ein Baseballschläger, der an einer ramponierten Tür lehnt, ist ein aus dem Leben, dem Film, der Fotografie oder anderen Bereichen der Populärkultur vertrauter Anblick – zumindest in den Vereinigten Staaten. Diese Verbindung ist bekannt und sie ist sinnvoll. Stingily thematisiert klug und mit einfachsten Mitteln die bedrückende Gewaltandrohung, die das alltägliche Leben gefährdet, und verspricht, die Schwelle der Wohnung zu überschreiten. Dass diese Türen alt sind – bei einigen blättert die Farbe ab, einige weisen Spuren der Hände auf, die sie immer wieder berührt haben, einige sind provisorisch mit Holzstücken geflickt –, deutet darauf hin, dass sie Menschen gehörten, die es sich leisten konnten, in einem Haus zu leben; aber sie konnten es sich nicht leisten, die Schranke, die sie von der Außenwelt trennte, zu reparieren oder zu ersetzen. Das Prekäre dieser Tatsache konzentriert sich in dem Baseballschläger, der beinahe nonchalant an die Tür gelehnt ist, wie um anzudeuten, dass dieser Zustand so konstant ist, dass er zur Normalität wird. Kein Grund, Alarm zu schlagen.
Diese Skulpturen sind alles andere als unzulänglich. Ihre Materialität sagt uns alles, was wir wissen müssen. Die Entryways enthalten Geschichten – vielleicht Stingilys, vielleicht die ihrer Großmutter, vielleicht deine, vielleicht unsere.

Übersetzung: Barbara Hess

Paulina Pobocha ist Autorin und Senior Curator am Hammer Museum, Los Angeles.

Image credit: 1. + 2. Courtesy the artist, Queer Thoughts, New York, and Greene Naftali, New York; 3. Courtesy of Diamond Stingily and Ramiken Crucible, photo Dario Lasagni; 4. Courtesy of Institute of Contemporary Art Miami, photo Fredrik Nilsen

Anmerkung

[1]Jacob Proctor, „Diamond Stingily: Kunstverein München“, in: Artforum, 58, 4, 2019, S. 239.