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BOTANIKEN DES BEGEHRENS Esther Buss über „Un prince“ von Pierre Creton und die Filmreihe „Animal, Mineral, Vegetable – Natur und Nichtmenschliches im Film“ im Kino Arsenal, Berlin

Pierre Creton, „Un prince“, 2023

Pierre Creton, „Un prince“, 2023

Auch scheinbar unberührte Landschaften sind, wie dieses Heft nahelegt, meist von Menschen gemacht oder beeinflusst. Aber die nichtmenschliche Umwelt berührt uns ebenfalls und hat, im Sinne posthumanistischer Theorien, Einfluss auf unsere Konstitution. Was geschieht, wenn Filmemacher*innen Tiere, Mineralien und Pflanzen in den Mittelpunkt stellen, wie es der Titel des Filmprogramms im Arsenale ankündigte, beschäftigt Esther Buss in ihrer Review. Dabei gilt ihr Augenmerk vor allem einem Film, in dem Pflanzenwelt, ländlicher Raum und schwuler Sex miteinander verwachsen, um damit auch die dem Begehren inhärente Eigenschaft fruchtbar zu machen, Körpergrenzen zu überwinden und Verbindungen zu anderen menschlichen und nichtmenschlichen Objekten zu stiften.

Auf einer unbewohnten Insel vor der Küste Cornwalls ist eine Botanikerin mit der Beobachtung der Pflanzenwelt beauftragt. Irgendwann bekommt ihr ritualisierter Tagesablauf, zu dem neben bestimmten Wegrouten auch der obligatorische Logbucheintrag gehört, Risse, und die Vergangenheit der Insel dringt in die filmische Wirklichkeit ein. Sie materialisiert sich in Form von erinnerungsflashhaften Störbildern: Szenen und Fragmente, in denen sich zurückliegende Schiffs- und Bergwerkskatastrophen mit der Mythengeschichte Cornwells kurzschließen. Auch greifen Flechten, die auf einer besonderen Blumenart zu wachsen beginnen, plötzlich auf den Körper der Forscherin über, um sich an ihrer Bauchnarbe anzusiedeln. Enys Men (Großbritannien, 2021) von Mark Jenkins, gedreht auf selbst entwickeltem 16-mm-Material, ist ein bildgewaltiger, stark an Rhythmus und Attraktionsmontage interessierter Film, der Momente von Folk Horror und Psychedelic mit Naturbeobachtung mischt. Als zentrale zeitliche Markierung – die Geschichte spielt Anfang der 1970er Jahre – fungiert neben bestimmten Ausstattungsdetails ein umweltpolitisches Buch, das die abendliche Lektüre der Forscherin ausmacht und mehrfach prominent ins Bild gesetzt wird: A Blueprint for Survival. Im Jahr 1972 zuerst in einer Sonderausgabe der Zeitschrift The Ecologist erschienen, versuchte der Text auf die globalen Umweltprobleme aufmerksam zu machen und den Anbruch eines neuen Zeitalters einzuläuten, in dem „der Mensch lernen wird, mit dem Rest der Natur zu leben, anstatt gegen sie“. [1] Empfohlen wurde unter anderem das Zusammenleben in kleinen, dezentralisierten und autarken Gemeinschaften.

Seit Erscheinen von Blueprint haben die sicht- und spürbaren Folgen jahrhundertelangen menschlichen Einwirkens auf die Umwelt und die sie begleitenden Diskurse auch im Kino immer mehr Spuren hinterlassen. So richtet sich der filmische Blick im Zuge von Anthropozentrismuskritik und Planetary Turn vermehrt auf Existenzweisen und Umweltkontexte, in denen der Mensch nur eine Daseinsform unter vielen ist – wenn er nicht ganz hinter der Betrachtung von nichtmenschlichem Leben verschwindet (etwa in den formal ambitionierten Tierbeobachtungen, die in den letzten Jahren gehäuft auftauchten [2] ). Dem stetig anwachsenden Feld dieser Darstellungsweisen widmete sich nun ein umfassendes, auch in formaler Hinsicht diverses Filmprogramm. „Animal, Mineral, Vegetable – Natur und Nichtmenschliches im Film“, so der Titel der von Filmkurator James Lattimer zusammengestellten Reihe, berührte dabei auch jene Grenzbereiche, in denen das Verhältnis des Menschen zur Natur nicht einfach zu klassifizieren ist – schon gar nicht mit so gängigen Begriffen wie Bewahrung, Schutz, Nachhaltigkeit oder care. Andere, mitunter auch triebgesteuerte Handlungsprinzipien kommen ins Spiel: neben der visuellen Lust am Horror wie bei Mark Jenkins etwa erotisches und sexuelles Begehren.

Joaquim Pedro de Andrade, eine Schlüsselfigur der brasilianischen Cinema-Nuevo-Bewegung, hat mit dem transgressiv-komischen Werk Vereda Tropical (Brasilien, 1977) wohl kaum Umweltbelange im Sinn gehabt, auch wenn es, zumindest in Ansätzen, jüngere Strömungen des Umweltaktivismus, wie etwa der ökosexuellen Bewegung, berührt. [3] Sein vom Militärregime verbotener Kurzfilm, Teil eines Episodenfilms namens Contos Erózicos, folgt einem jungen Mann, der seiner sexuellen Vorliebe für Wassermelonen nachgeht. Das Verhältnis zu dem begehrten Objekt ist zärtlich, wild und mitunter auch etwas gewalttätig, doch wird seine Orientierung bei aller Komik nicht als Anomalie gezeigt. Nachdem er einer Freundin davon erzählt hat, schlendern beide über einen Markt, wo die Frau nun ihrerseits entschieden nach phallischen Gewächsen greift.

In der filmischen Auseinandersetzung mit der veränderten Wahrnehmung der Umwelt und den natürlichen Kreisläufen von Wachstum und Verwesung gewinnen meist jene Arbeiten vermehrt Sichtbarkeit, in denen die anthropozentrische Weltsicht auf offensichtliche Weise verlassen wird. Blickperspektiven verschieben sich zum Nichtmenschlichen, manchmal wird auch der Versuch unternommen, den Kontakt mit der Natur durch den Einsatz von analogem Material materialästhetisch nachzuempfinden. So etwa in Le quattro volte (Italien/Deutschland/Schweiz 2010) des italie­nischen Filmemachers Michelangelo Frammartino, einer zyklischen Betrachtung der Natur, die sich von der Figur eines Ziegenhirten über das Animalische und Pflanzliche zum mineralischen Prozess der Holzkohlegewinnung bewegt. Neben diesen visuell überwältigenden Ansätzen, die durchaus auch Sehnsüchte nach einer gewissen Ursprünglichkeit und dem ,einfachen‘ Leben befriedigen können, folgen die Arbeiten Pierre Cretons einem ganz anderen Begriff von Koexistenz. Sein jüngster Film Un prince (Frankreich 2023) ist autofiktional und zum Teil von Erinnerungen an seine Jugendzeit inspiriert. Pflanzenwelt, ländlicher Raum und homoerotisches Begehren greifen darin ganz selbstverständlich ineinander.

Pierre Creton, „Un prince“, 2023

Pierre Creton, „Un prince“, 2023

Creton ist Filmemacher, bildender Künstler, Landwirt und Gärtner, er lebt und arbeitet in ­Vattetot-sur-Mer in der Normandie, einer Gemeinde mit knapp 300 Einwohner*innen. Ausgangspunkt seiner in den letzten 30 Jahren entstandenen Arbeiten ist meistens die Begegnung mit Menschen in seiner unmittelbaren Umgebung, eine der Protagonistinnen in Un prince etwa ist eine Kundin, für die er als Gärtner tätig ist. Cretons lokale filmische Praxis ist umso erstaunlicher, bedenkt man, dass in dieser Region Frankreichs die Rechte bei Wahlen üblicherweise hohe Stimmenanteile gewinnt. [4] Un prince ist eine sanfte Utopie, die mit großer Selbstverständlichkeit auftritt – ohne den Gestus des politischen Widerstands oder irgendeiner aufklärerischen Agenda.

An der Erzähloberfläche ist Un prince die Geschichte eines in sich gekehrten normannischen Lehrlings und seiner beruflichen wie sexuellen Lehrjahre. Während seiner Ausbildung an einer Gartenbauschule bewegt er sich nahtlos zwischen Botanik und sexuellen Begegnungen (mit seinen bedeutend älteren Ausbildern). Dass mit der Entscheidung für die Arbeit mit Pflanzen und Erde – die Alternative wäre das Fleischerhandwerk gewesen – eine bestimmte Empfindsamkeit einhergeht, wird bereits in einer der ersten Einstellungen angedeutet: Ins Bild einer zwischen Kieselsteinen wachsenden Pflanze greift eine Hand, um sie behutsam mit einer Schaufel auszugraben.

Die Einstellungen des Films sind klar und statisch, Cretons Blick auf Pflanzen wie Männer ist unaufgeregt und frei von sensueller Aufladung; sie werden vielmehr mit geradezu dokumentarischer Sachlichkeit gezeigt, ob die Körper jung oder alt sind, schön oder weniger schön, ist unwichtig. Über den Bildern von Gewächshäusern; Pflanzenzeichnungen, unter denen pornografische Fotografien hervorscheinen; von Männern in einsamen Jagdhütten, beim Verkauf von Grünzeug an Markständen, bei Umarmungen und Küssen, zu zweit, zu dritt, liegt das eigentliche Gewächs des Films: die Sprache. In mehrstimmigen Monologen, die als Voiceover zu hören sind und sich den Figuren im Bild nicht einfach zuordnen lassen (die Stimmen sind nicht mit den Darsteller*innen identisch), entfalten sich die Erzählungen des Lehrlings, seines Ausbilders und Arbeitgebers sowie der Schuldirektorin auf verschlungenen Pfaden. Berichte über die erotisierende Wirkung von Propolis und den Geschmack von Sperma nach einem Tag im Wald stellen unablässig Verwandtschaften zwischen Natur und menschlicher Sexualität her, später kommt die Praxis des Filmemachens als ein weiteres Beziehungselement hinzu. Zentrale und fast bis zum Ende des Films abwesende Figur ist ein geheimnisvoller junger Mann und „Prinz“ aus Indien, der in die Normandie „verpflanzt“ wurde und 40 Jahre später (in Gestalt des Regisseurs Pierre Creton) die Wege des Gärtners und ehemaligen Lehrlings kreuzt.

Cretons eigenwillige Pastorale propagiert weder Rückzug noch die Besinnung auf „Ursprüngliches“, schon in dem nach Märchen klingenden Titel wird die regionalistische Verankerung aufgebrochen. Auf einer Reise in den Himalaya, die der Lehrling einmal mit seinem Botaniklehrer unternimmt (die gezeigten Passagen stammen aus Cretons Film L’arc d’iris, souvenir d’un jardin von 2006) finden sie genau die Pflanzen wieder, die sie in den Gewächshäusern anbauen. Zurück in der Normandie, verarbeiten sie die von der Reise mitgebrachten Bilder in kollektiver Arbeit zu einem filmischen Herbarium. Und auch die literarische Form, die neben Novalis den Schweizer Lyriker, Essayisten und Übersetzer Philippe Jaccottet zitiert, mäandert zwischen Tagebuch, Autobiografie und Roman. Un prince entwirft alternative Formen der Gemeinschaft wie der Filmerzählung: eine Art Blueprint des Umpflanzens, Wachsens, Gedeihens – und der fließenden Übergänge zwischen Adaption und Adoption.

Un prince, Pierre Creton (Frankreich 2023); „Animal, Mineral, Vegetable – Natur und Nichtmenschliches im Film“, 1. bis 30. Juni 2024, Kino Arsenal, Berlin.

Esther Buss ist Filmkritikerin, lebt in Berlin und schreibt u. a. für Cargo, Jungle World und Tagesspiegel. Demnächst erscheint von ihr Aus der ersten Person, ein Buch zum autobiografischen Kino (Scriptings/Archive Books, 2024).

Image credits: Courtesy of Arsenal - Institut für Film- und Videokunst

Anmerkungen

[1]Vorwort, in: A Blueprint for Survival, Edward Goldsmith/Robert Allen/Michael Allaby/John Davoll/Sam Lawrence (Hg.), London 1972.
[2]Filme wie Victor Kossakovskys Gunda (2020), Andrea ­Arnolds Cow (2021) oder auch Jerzy Skolimowskis EO (2022) fanden ihre Wege sogar in deutsche Kinos.
[3]Die Ecosex-Bewegung wurde von den Performancekünstler*innen Annie Sprinkle und Beth Stephens ins Leben gerufen. Das 2011 veröffentlichte Manifest propagiert vielfältige Beziehungen und Umgangsweisen mit der Natur.
[4]In Cretons Heimatort Vattetot-sur-Mer wählten bei der letzten Europawahl rund 34% der Einwohner*innen La France revient!.