Die von Fritz Winter für seine Malerei proklamierte Hinwendung zur Erde gab der kunsthistorischen Rezeption Anlass, naturphilosophische Ideen wie „Urkräfte“ besonders stark zu machen, was mit einer gewissen Offenheit für rechtes Gedankengut einherging. Am Beispiel des Bilderzyklus „Triebkräfte der Erde“ (1943/44) nimmt Eva von Redecker eine Gegeninterpretation vor: Das Verhältnis zur Natur sieht sie hier als emanzipatorisch. Ausgehend von der Prämisse, dass Natur entweder beherrscht oder befreit sei, legt sie in drei Schritten dar, in welcher Weise die Ölgemälde des Bauhausschülers und Gründungsmitglieds der Gruppe ZEN 49 ein Naturverständnis zum Ausdruck bringen, das als antifaschistisch verstanden werden kann.
Anlässlich einer Ausstellung des damals 57-jährigen Malers Fritz Winter schrieb der Kunstkritiker Will Grohmann 1962: „Was ihn, den Älteren, mit den Jüngeren verbindet, ist sein Verhältnis zur Erde, dieser so beschaffenen Erde, die nach allen Umwegen, die die Menschen über den Weltraum gemacht haben, sich wieder meldet.“ In einer Gegenwart, in der Artensterben und Klimakatastrophe im Alltag spürbar sind, lässt dieser Satz aufhorchen. Winter selbst äußerte sich ganz ähnlich: „Eines ist gewiß, wir werden uns auch in Zukunft enger an die Erde halten als an den Sputnik.“ Ob sein Werk wirklich zukunftsweisend sein kann, könnte aber gerade durch die von ihm emphatisch propagierte Erdverbundenheit in Frage stehen. Entsprechend beklagt die Winter-Forscherin Gabriele Lohberg naturphilosophische Abwege in der Rezeption: „So verschwindet das tatsächliche Werk hinter einem überschwänglichen Fabulieren über ‚Urkräfte‘, ‚kosmische Visionen‘, ‚Allverbundenheit‘.“ Lohberg bescheinigt auch dem Künstler selbst, an diesem „Fabulieren“ seinen Anteil gehabt zu haben, und geht sogar so weit, ihm eine gewisse „Nähe zu NS-Wortgut“ zu attestieren.
Ohne diese Ambivalenz zerstreuen zu wollen, möchte ich im Folgenden eine andere Deutung erproben. Mir scheint, dass die Triebkräfte der Erde, eine Bilderserie, in der Winter eingehend seine terrestrische Orientierung auslotet, Kriterien für ein dezidiert emanzipatorisches Naturverhältnis bietet. Mythologisierung und Verdinglichung werden gleichermaßen in einer Ästhetik aufgehoben, die ich als „antifaschistische Abstraktion“ ausweisen möchte.
Der Werkzyklus besteht aus 45 kleinformatigen Ölgemälden, in denen sich erdige Grundierungen und geometrische Flächen überlagern, Licht und kristalline Formen brechen, vereinzelt kräftige Farben hervortun, aber insgesamt gedeckte Brauntöne und milchig weiße Schichten dominieren. Winter schuf die Bilder im Genesungsurlaub von der Front zwischen Weihnachten 1943 und Frühjahr 1944. Er malte auf Schreibmaschinenpapier, weil er als „entarteter“ Künstler Ausstellungs- und Schaffensverbot hatte und keine von der Reichskunstkammer rationierten Malutensilien beziehen konnte.
1930 erhielt Winter sein Diplom vom Bauhaus, wo ihn vor allem Paul Klee prägte. Als kommunistisch orientiertes Bergarbeiterkind aus dem nördlichen Ruhrgebiet war er in Dessau eine ungewöhnliche Erscheinung: Er arbeitete als gelernter Elektromonteur unter Tage und schlief aus Geldnot eine Weile im Schulkeller. „Im Vergleich zu ihm waren wir Säuglinge“, erinnert sich Mitschüler Hans Fischli. Nach Hitlers Machtübernahme zog Winter mit seiner Partnerin Margarete Schreiber-Rüffer nach Bayern aufs Land: „wir werden wohl eine zeitlang im exil lebend unsere arbeit tun müssen“, formulierte er in programmatischer Kleinschreibung in einem Brief.
Schreiber-Rüffer, die 1915 im ersten Jahrgang, in dem Frauen zugelassen wurden, in Halle das Studium der Nationalökonomie abschloss, war politisch deutlich aktiver als Winter Sie gehörte der sozialistischen Frauenbewegung an und unterhielt im Wohnhaus in Dießen am Ammersee eine „Pension“, in der Jüd*innen mit Pässen versorgt wurden, um in die Schweiz ausreisen zu können. Sie pflegte diverse Freund*innenschaften zu Künstler*innen, darunter Else Lasker-Schüler. Ohne ihre Patronage hätte Winter weder die äußeren Bedingungen für sein umfangreiches Werk gefunden noch die Anerkennung seines Publikums. Als er im Mai 1949 aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückkehrte, war er durch Schreiber-Rüffers gezieltes Management in der Zwischenzeit berühmt geworden.
Was macht aber den Kern des Werks aus, für das sie sich einsetzte? Wenn man einfach die Thematik, die „Triebkräfte“ oder „Energie“ der Natur betrachtet, erschließt sich nicht zwangsläufig ein emanzipativer Gehalt. Ist Winters Kunst also nur indirekt antifaschistisch, durch Zugehörigkeit zu einer verfolgten Kunstströmung und den Umgang, den Schreiber-Rüffer bot, während ihn die Naturthematik zum Rückzug von der Welt oder zu rechtsoffenem Neuheidentum verleitete?
Solch eine Gegenüberstellung scheint mir verfehlt. Die Front verläuft nicht zwischen Naturalisierung und Entnaturalisierung, zwischen Land und Stadt, zwischen Romantik und Sachlichkeit. Die Front verläuft an allen Punkten quer durch die Natur selbst, und zwar als eine zwischen Beherrschung und Befreiung. Herrschaft über die Natur ist – wie alle moderne Herrschaft – „Sachherrschaft“. Sie beruht darauf, etwas Lebendiges zu verdinglichen und es als Eigentum zu behandeln.
Jede emanzipative Anstrengung der Gegenwart kämpft gegen solche Verdinglichung auf zwei Ebenen: der kapitalistischen Ökonomie, die Ökosysteme in Ressourcen zerschneidet, um sie vernutzen und vermarkten zu können; und der faschistischen Ideologie, die eigentumsförmige Phantasmen schafft, auf die die Anspruchshaltung bevorzugter Bevölkerungsgruppen gelenkt wird. Ich bezeichne diese Phantasmen als Phantombesitz. Sie verschleiern die Frage nach den echten Besitzverhältnissen und erfinden Feind*innen, gegen die die eigenen Willkürspielräume verteidigt werden. „Unser Land“ in „Wir holen uns unser Land zurück“ ist eben nicht der an Investoren ausverkaufte Acker, sondern die ethnonationale Lebenswelt, die von Nicht-Weißen gereinigt werden soll.
Im Grunde ist die Propertisierung, die Überführung von Lebendigem in Eigentumsobjekte, selbst eine Abstraktion. Es ist die Reduktion von Vielgestaltigem und weitschweifend Verbundenem auf den Nenner des potenziellen Eigentums. Aber wo die Abstraktion durch gewaltsame Zurichtung, gesetzliche Vorschriften und eingefleischte Vorstellungen erst mal real geworden ist, hilft gerade die Konkretion ihr nicht mehr ab. Das Landschaftsgemälde wehrt sich ebenso wenig wie die Aktzeichnung gegen den parzellierenden, Besitzbarkeit unterstellenden Blick.
Faschistische „Ökologie“ äußert sich in phantasmatischer Herrschaft über die Natur oder auch darin, sich ihrer vermeintlichen Ordnung blind zu unterwerfen. Dem setzen Die Triebkräfte der Erde eine andere Abstraktion entgegen. Man könnte sie die Abstraktion einer ökologisch reflektierten Moderne nennen oder eben: eine antifaschistische Abstraktion.
Drei Faktoren machen deren besondere Qualität aus. Der erste, vielleicht augenfälligste Unterschied zur Abstraktion der Propertisierung besteht darin, dass Winters Kompositionen nicht Dinge, sondern Dynamiken darstellen. Es geht ihm nicht um die Repräsentation von Natur, sondern um den Nachvollzug ihrer Wirkkräfte. Auf ästhetische Weise versucht Winter, der großes naturwissenschaftliches Interesse hatte, Modelle für dynamische Zusammenhänge zu finden, insbesondere dort, wo diese von Zerstörung und Ausbeutung unterbrochen sind. Den im Stellungskrieg zerborstenen Wäldern unterliegt ebenso wie den Kohleflözen eine organische Wachstumskraft, die Winter methodisch sichtbar machen will. Die im abstrakten Bild aufgedeckte Dynamik ist jedoch nicht von urgewaltiger Wucht. Im Bildgeschehen sei, wie Tayfun Belgin es beschreibt, „immer auch eine zarte Struktur zu erahnen, eine leise Gebärde, eine flüsternde Sprache“. Antifaschistisch ist die von Winter aufgespürte Naturkraft unter anderem deshalb, weil sie nicht auf den Triumph der größeren Stärke zielt, sondern mit einem Freiheitsstreben verwoben scheint. Auch Theodor W. Adorno und Max Horkheimer verlängern dieses Streben in die gesamte Naturgeschichte: „[d]ie unendliche Geduld, der nie erlöschende zarte Trieb der Kreatur nach Ausdruck und Licht.“
Die Energien, die Winter einfängt, sind zweitens im scharfen Kontrast zu faschistischem Vitalismus immer schon plural. Keine souveräne Urgewalt, sondern ein bedingungsreiches, vielgestaltiges Kräftespiel. „Die geistige Durchdringung, ohne dass die Einzelform zerstört wird“, beschreibt es Lohberg. Die im Plural stehenden Triebkräfte verweigern sich der Hierarchisierung. Schon im Rahmen der politischen Auseinandersetzungen am Bauhaus betont Winter folgenden Wert der abstrakten Malerei: „die neue komposition […] kennt keine herrschaft, sondern nur eine gleichordnung aller kräfte. sich mit diesen dingen abgeben, hat das keinen sinn? keinen wert für unsere neue lebensform?“
Die dynamische, egalitäre Abstraktion sprengt also sowohl die Verdinglichung als auch das autoritäre Subjekt-Objekt-Verhältnis der eigentumsförmigen Abstraktion. Als drittes Merkmal tritt eine Transzendenz hinzu, die grundlegende Unverfügbarkeit markiert. Schon der Nachvollzug schöpferischer Kräfte zielt auf das Unsichtbare. „es kommt nicht darauf an, zu zeigen, was da ist, sondern zu offenbaren, was auch da ist“, formuliert Winter in einem Kriegsbrief. Das Unsichtbare, das auch da ist, sind einerseits die Wirkkräfte, die Winter in seinen Gemälden registrieren will, so wie das Sandrelief am Meeresboden die Strömung verzeichnet. Es geht ihm darin aber auch um ein Sensorium für Kräfte, die eher geistiger Natur sind, spezifisch für das menschliche Vorstellungsvermögen, aber nur in Annäherungen abbildbar.
„Ich glaube, daß nur der Menschen Geist in Räume steigen kann und Höhen, die geschlechtslos das All umgeben wie Tag und Nacht. Und große Erkenntnisse haben keine leuchtenden Farben, sie sind entweder schwarz oder weiß oder grau. […] Ich bin froh, rot und gelb zu sein, aber ich sehne mich nach Grau, dem Unendlichen … Daß wir dieser Unendlichkeit dienen müssen, das immer wieder zu sagen, ist meine einzige Aufgabe in der Kunst.“
Mir scheint, dass die „entartete“ Abstraktion, die die Natur als unendliche, herrschaftsfreie Dynamik nachbildet, tatsächlich antifaschistisch genannt werden kann. Sie verweigert sich sowohl der totalitären Pose des Alleigners als auch der autoritären Verdinglichung zum verfügbaren Objekt. Ebenso wenig tendiert sie zu ökofaschistischer Menschenfeindschaft, weil sie den Menschen selbst als wesentlichen Teil der Natur auffasst. Winters terrestrische Malerei ist eine Konzentrationsübung, die der Erde gerade deshalb näherkommt, weil sie sie in neue, freie Formen übersetzt.
Eva von Redecker ist Philosophin und Autorin. Zuletzt erschien von ihr im S. Fischer Verlag Bleibefreiheit (2023).
Aus rechtlichen Gründen können Bilder, die diesen Text in der gedruckten Ausgabe begleiten, hier nicht gezeigt werden.
Anmerkungen