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VORWORT

Johan Huizinga „Zauberkreis“ beschreibt ­kulturelle Felder, deren Eigenlogik sich in Regeln und Ritualen manifestiert und so eine Distanz zu normativen Gesellschaftsordnungen behauptet. Zugleich wirken die den „Zauberkreis“ umgebenden ökonomischen und politischen Gefüge auf ihn ein, werden in ihm neu verhandelt und führen so mitunter zu jenen Regelverschiebungen, wie sie diese Ausgabe von TEXTE ZUR KUNST anhand eines Vergleichs von zwei der Praktiken untersucht, die Huizinga mit seinem Konzept umkreist hat: Kunst und Sport. Die ­folgenden Betrachtungen setzen an verschiedenen historischen Punkten und kulturpolitischen Phänomenen an. So geht es zum Beispiel um das ­Aufbegehren gegen die akademische Disziplinierung der Kunst durch den Impressionismus, das Aufbrechen misogyner Traditionen mittels sportlich fokussierter Kunstpraktiken, die Auswirkungen des Plattformkapitalismus auf digital gestützte Körper­politiken und die Durchsetzung von Fairness im sportlichen Wettkampf mittels technisch generierter Bilder.

Entlang weiterer Begriffe, die die von ­Huizinga zusammengefassten Phänomene ausdifferenzieren, haben wir den Matchplan für die 139. Spielrunde von TZK entwickelt. Dabei standen uns Orit Gat und Lucas Edward Plazek beratend zu Seite. Ihnen gilt unser Dank ebenso wie allen Beitragenden, die vom Training bis zur Analyse am Ball geblieben sind:

TRAINING (Florentina Holzinger mit Caroline Lillian Schopp) – Das künstlerische Werk ­Florentina Holzingers mag in dem Sinne undiszipliniert sein, als dass es sich einer klaren Einordnung in eine Gattung verweigert, doch baut es auf rigoroser körperlicher wie inhaltlicher Vorbereitung auf. Die Intensität der Performances ihres Ensembles lässt sich nur mit entsprechendem Training halten. Ebenso kann Holzingers feministische Kritik an misogynen Tropen nur gelingen, wenn die Auseinandersetzung mit den kunst- und kulturhistorischen Vorlagen, die die Grundlage für ihre Werke bilden, über ein ­aktualisierendes Aufwärmen hinausgeht.

FAIR PLAY (Andrea Bowers und ­Gabriel Kuhn) – Für den modernen Sport zentrale Werte wie Respekt und Fairness machen ihn anschlussfähig für linke Überzeugungen. Zugleich bleibt diesem europäischen Zivilisations­projekt seine koloniale, kapitalistische und ­heteropatriarchale Geschichte eingeschrieben. Wie CJ Jones und Travers im Vorwort zur „The Sports Issue“ (Mai 2023) von TSQ: Transgender Studies ­Quarterly ­festhalten, überrascht es daher kaum, dass gerade die Körper von trans Athletinnen ­rechten ­Kräften als Angriffsfläche dienen. Gegen misogyne Argumente und Handlungen, die das Sportfeld weiterhin prägen und auch darüber hinaus gesellschaftlich gebilligt werden, arbeitete Andrea Bowers unter anderem mit der Werkgruppe #sweetjane (2014) künstlerisch an.

FOUL (Gertrud Koch, Max-Jacob Ost und Volker Schürmann, mit Leonie Huber) – Faire Wettkampfbedingungen für alle Teilnehmenden zu gewährleisten, zählt zu den Grundfesten sportlicher Begegnungen und damit auch die egalitäre Durchsetzung von Regeln und die Ahndung von Verstößen. Mit Videoschiedsrichter*innen ist die entsprechende Entscheidungsfindung im Tennis, Rugby und Cricket – und seit 2018 im Fußball – zunehmend technologisch gestützt. Bilddaten werden ausgewertet, um die Fehlerhaftigkeit des menschlichen Urteils bei der Entscheidung über Foul, Abseits oder Handspiel zu vermeiden, wodurch sich der für das Spiel zentrale affektive Moment der Evidenz von der Wahrnehmung des Spielgeschehens zur Analyse dieser technischen Bilder verlagert.

RISIKO (Jules Pelta Feldman) – Spielregeln schließen Brutalität im Sport nicht zwangsläufig aus, im Gegenteil zählt sie in Disziplinen wie American Football zu den zentralen Elementen. Als Teenager selbst diesen Gefahren auf dem Spielfeld ausgesetzt, kehrt Matthew Barney über die Jahrzehnte seines Schaffens immer wieder zur Auseinandersetzung mit dieser gewaltvollen Sportart zurück. Seine künstlerische Annäherung an das Risiko von Sportverletzungen gibt Anlass, Performancekunst und Sport als potenziell ­prekäre Körpereinsätze neu zusammenzudenken.

ZIEL (Harmon Siegel) – ­Künstlerische ­Disziplinen verfügten historisch über ebenso klare und mit Autorität durchgesetzte Bewertungs­kriterien und Zielsetzungen wie sportliche. Während in letzteren ein Aufbegehren schnell zur Disqualifizierung führt, kann ein entsprechender Regelbruch in der Kunst seit der Moderne den Wettstreiter*innen einen Platz in der Avantgarde sichern. Der Kurs der künstlerischen Vorhut lässt sich – anders als auf der Rennstrecke – immer nur rückblickend bestimmen: Mag Édouard Manets Les Courses à Longchamp (1866) also für ­zeitgenössische Betrachter*innen unfertig ­ausgesehen haben, bemisst die Kunstgeschichte es heute als Etappensieg moderner Malerei.

TRACKING (Georgina Voss) – Die zahlen­mäßige Erfassung und digitale Verarbeitung ­körperlicher Anstrengungen und Abläufe ist längst nicht mehr Profisportler*innen vorbehalten. Mit Apps wie Strava tracken inzwischen ­Millionen Menschen ihre hobbymäßig betriebenen Ertüchtigungen. Der durch die digitale Sammlung und Auswertung geformte Datenkörper hat wiederum Auswirkungen auf die Physis. So gaben beispielsweise joggende US-Soldat*innen geheime Militärstützpunkte preis. Und dass ein virtuell gestütztes Verständnis des eigenen Körpers in dessen Fremdkontrolle umschlagen kann, machen die Diskussionen um Menstruations-Apps vor dem Hintergrund restriktiver Abtreibungsgesetze deutlich.

ANALYSE (Peter L’Official) – Während in der Kunstkritik das leidenschaftliche öffentliche Vortragen von Argumenten tendenziell abklingt, schrecken Sportjournalist*innen und -kommentator*innen vor beherzten Urteilen nicht zurück. Auch gelingt im Sport, was in der Kunst immer seltener wird: eine kollektive Erfahrung. Verbindet man jedoch die beiden Felder, wie es das Projekt von LJ Rader tut, offenbaren sich überraschende Analogien. Unter dem Handle @ArtButMakeItSports liefert er auf seinen Social-Media-Accounts Bildpaare, die aktuelle Sportereignisse kunsthistorisch kommentieren und über formale Parallelen zu einer vergleichenden Reflexion der gesellschaftlichen Dimension beider Felder anregen.

Trotz fortwährender kapitalistischer Vereinnahmung und neoliberaler Selbstoptimierung bewahren Kunst und Sport, so die These dieser Ausgabe, das Potenzial, mittels performativer, ästhetischer und affektiver Ausdrucksformen neue Perspektiven auf Körper, Identität und Gesellschaft zu eröffnen.

Leonie Huber, Antonia Kölbl und Anna Sinofzik