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Der Fliegende Holländer Ein Interview Mit Christian Petzold von Jörg-Uwe Albig und Christoph Gurk

John Huston, "Moby Dick", 1956, Filmstill John Huston, "Moby Dick", 1956, Filmstill

In vielen filmischen Darstellungen des Themas "RAF" treten ehemals zentrale Figuren als Hauptdarsteller/innen einer "spannenden" Politstory auf. Christian Petzolds Film "Die innere Sicherheit" arbeitet gegen solche Verkürzungen und gegen die Faktizität des Medialen. Die RAF kommt höchstens in Anspielungen vor und Protagonistin ist eine Familie.

Wie aber lassen sich gesellschaftspolitische Debatten auf der Ebene einer Familiengeschichte und eines Generationenkonflikts verhandeln? Jörg-Uwe Albig und Christoph Gurk sprachen mit Petzold über einen Film, der sich plötzlich in eine tagespolitische Debatte um "Aufarbeitung" der 68er verwickelt sah.

Texte zur Kunst: "Die innere Sicherheit" ist in einer Gegenwart gelandet, mit der du nicht rechnen konntest: Die Debatte um die Sponti-Vergangenheit von Joschka Fischer und "Die 68er" hat dem Film ungeahnte Erfolge beschert. Aber hat das die Rezeption nicht auch in eine Schieflage gebracht?

Christian Petzold: Als die Anrufe der Verleiher kamen, es seien 50.000 Zuschauer aufgrund dieser Diskussion in den Film gegangen, und als dann die Sektkorken knallten, das hat mich nicht gefreut. Das war für mich eine echte Krisenwoche. Der Film kann ja keine Antworten auf diese Diskussion liefern. Trotzdem wurde ich als die Person hinter diesem Film überallhin eingeladen. Ich habe das alles ausgeschlagen, ich wollte in keine Talkshow rein und als RAF-Spezialist auftreten. Ich hatte Angst, dass das den Film in einen Abgrund reißen könnte, weil die Diskussion so unglaublich primitiv geführt wurde. Begriffe, von denen niemand mehr weiß, in welchem Zusammenhang die entstanden und mit welchen Biografien sie verknüpft sind, tauchten für zwei, drei Wochen wieder auf. Das sind so reflexhafte Bewegungen, die gehen vom Bundestag zu "Sabine Christiansen" und dann ist es auch wieder vorbei. Insofern hat die Diskussion dem Film letztlich nicht geschadet. Ich habe eher das Gefühl, dass die Fragen übrig geblieben und keine Antworten geliefert worden sind. Seit Rot-Grün und Berliner Republik kommt man überhaupt nicht mehr nach mit dem, was alles an Unbewältigtem oder nicht Aufgearbeitetem aus dem Boden herausschießt.

Texte zur Kunst: Was hat dir den Anstoß zu diesem Film gegeben?

Petzold: Als Grundmetapher hatte ich immer einen Satz aus dem Buch "Schiffbruch mit Zuschauer" von Hans Blumenberg im Kopf: Wenn Schiffe, die wie Begriffsapparate funktionieren, auf Grund laufen, ist es dann möglich, aus den herumschwimmenden, treibenden Trümmerstücken etwas Tragfähiges zu bauen? Wie kann es die Linke nach diesem bestialischen Zusammenbruch schaffen zu überleben? Als Harun Farocki und ich mit der Arbeit am Drehbuch begannen, kamen wir irgendwann zu dem Schluss, dass dieses aus Wrackteilen gezimmerte Floß die Kleinfamilie ist. In Kreuzberg, wo ich wohne, kann man das besonders gut beobachten. Hier haben sich die linken Kollektive in Kleinfamilien-Zellen mit Maulwurfmittelpunkt zum Überwintern zurückgezogen.

Texte zur Kunst: Für das Floß, das in deinem Film herumtreibt, ist allerdings kein Land in Sicht.

Petzold: Bei Klaus Theweleit gibt es einen Hinweis auf die Autobiografien von Georg K. Glaser und Franz Jung und den Begriff der "Geschichtsstille", der in ihnen eine Rolle spielt. Nach dem Sturm, wenn das Schiff gekentert ist und an den Klippen zerschellt, breitet sich eine Stille aus. Linke wie Glaser und Jung haben plötzlich gemerkt, dass die Geschichte und die Gesellschaft sie nicht mehr braucht. In diesem Moment ist bei ihnen überhaupt erst der Anlass entstanden, eine Autobiografie zu verfassen. Jung beschreibt, wie er eine Streichholzfabrik in der Nähe von Moskau geleitet hat, wie Produktions- und Liebesverhältnisse miteinander zusammenhängen. Und plötzlich ist der Mann nur noch ein Geist, ein Gespenst.

Texte zur Kunst: In deinem Film sind die Naturgeräusche oft stärker als die Stimmen der Menschen.

Petzold: In einigen amerikanischen Comics von Zeichnern wie Daniel Clowes oder Adrian Tomine findet man auch diesen Moment, wo Figuren aus einer Ordnung herausfallen. Sinnliche Eindrücke werden da auf einmal unheimlich stark, bevor der totale Crash passiert. Bei "Die innere Sicherheit" lebt die Tochter in der Gegenwart, während sich die Eltern in der Vergangenheit und Zukunft bewegen. Die Tochter riecht plötzlich, schmeckt, nimmt wahr. Vielleicht haben das die Eltern der Tochter durch ihre Niederlage überhaupt erst ermöglicht. Bei der Produktion habe ich zusammen mit dem Kameramann und dem Tonmann immer darauf geachtet, dass wir an Orten drehen, wo der Wind sichtbar und hörbar ist. Die Zwischenbereiche waren uns wichtig, beispielsweise der Weg, kurz bevor man die Stadt erreicht, ein Haus am Rande der Stadt oder die Autobahnraststätte neben der Autobahn, ein Autobahnhotel.

Filmstills aus: Christian Petzold, "Die innere Sicherheit", 2000 Filmstills aus: Christian Petzold, "Die innere Sicherheit", 2000

Texte zur Kunst: Zwischen den Menschen und ihrer Umgebung steht keine Geschichte mehr.

Petzold: Die Tatsache, dass ich einen Autorenfilm machte, kam mir zwischendurch fast genauso gespenstisch vor wie die Situation der Protagonisten in dem Film. An einem Punkt ging mir durch den Kopf, dass die Rechten immer Höhlen haben, beispielsweise Syberberg, der auf der documenta x solche Gruften gezeigt hat, in denen Hitler- und Wagnerfiguren herumstehen. Die Linken, die im Untergrund waren, die RAF-Leute, hatten dagegen immer nur Blitzbilder von Radarfallen. Dieser Unterschied - hier das Transparent-Phantomhafte der Linken und dort das Erdige, Schwere, Mythische der Rechten - hat uns eine Zeit lang beschäftigt.

Texte zur Kunst: Ist das Auto nicht auch eine Höhle?

Petzold: Ich glaube, das Auto hat auf die Struktur der Familie genauso viel Einfluss wie der Abendbrottisch. Beides taucht in dem Film ja auch auf. Die Linke wird nicht mehr geliebt. Wir fanden, dass sie wie der Fliegende Holländer ist, der immer auf den Meeren umherziehen muss. Nur haben wir statt der Meere die Autobahn als Schauplatz gewählt, weil die bei der Rasterfahndung einen ganz wichtigen Teil des Überwachungssystems darstellt. Der Polizeiübergriff am Ende des Films ist praktisch eine Art Liebesbeweis des Staates an die Linken, der ihnen zeigt, dass sie überhaupt noch irgendeine Identität haben. Nur das Mädchen, das ja gegenwärtig ist, hat eine Chance. Wenn sie irgendwo eine Erinnerungsspur hinterlassen kann durch einen Kuss, eine Berührung, sich ins Körpergedächtnis einschreiben kann, dann kommt sie runter von der Bahn. Aus diesem Grund verrät sie ihre Eltern.

Texte zur Kunst: Sie ist auch die Instanz, vor der die Eltern für die Zuschauer/innen ihr Leben rechtfertigen müssen.

Petzold: Sie haben sich fünfzehn Jahre lang erklärt und eine höchste Form von Transparenz erarbeitet. Den ganzen Film über sehen wir diesen Eltern bei ihrer Legitimationsarbeit zu. Sie rechtfertigen sich für familiäre Verfehlungen, die im normalen Leben völlig lächerlich wären, in so einer Ausnahmesituation aber zum Zusammenbruch eines ganzen Organismus führen können. Es hat mich interessiert, wie die Protagonisten in ihrer Schuld- und Familienökonomie zu überleben versuchen. Die Eltern haben die Tochter bewusst in die Welt gesetzt als Versuch, sich aus dem Moment der Geschichtsstille zu befreien. Man nimmt die Welt durch das eigene Kind wieder wahr. Alles, was man erlernt hat, muss man in der Mitteilung zum Kind wieder überarbeiten. In der Pubertät ist dann meistens Schluss mit der Zelle. Die letzte Szene im Film ist eine Art Zellteilung, die Geburt der Tochter als soziales Wesen. Sie wird aus dem Auto herausgeschleudert, der Wagen liegt im Hintergrund auf dem Dach, sie steht völlig alleine im Feld. Und dann ist der Film zu Ende.

Heinrich Breloer, "Todesspiel", 1996/97, Filmstill Heinrich Breloer, "Todesspiel", 1996/97, Filmstill

Texte zur Kunst: Ist die Familie ein reines Konstrukt, oder gibt es dafür in der Geschichte der RAF ein Vorbild?

Petzold: Das Bild der Familie hatte ich schon die ganze Zeit im Kopf. Ich wollte eine Gruppe in den Mittelpunkt rücken und kein Individuum. Mit der Figur der Tochter habe ich eine fiktive Instanz geschaffen, von der aus man diese Gruppe überhaupt beschreiben kann. Erst nach dem Film habe ich erfahren, dass auch Hans-Joachim Klein während seiner Zeit im Untergrund zwei Töchter gezeugt hatte. Er wollte sich stellen, aber vorher noch mal drei Monate mit seinen Kindern verbringen. Er lebte seit 1975 halb versteckt in Frankreich als Knecht auf einem Bauernhof und war überhaupt nicht mehr politisch tätig. In jedem seiner Spiegel-Interviews redet er über die Liebe, über den Geruch und den Wein. Er wollte eben einfach ein normales Leben führen. Die Kinder waren ein Versuch, sich im Präsens anzuerden.

Texte zur Kunst: In den Gefängnisbriefen der RAF konnte man lesen, wie die Gefangenen zu einem einzigen Körper verschmelzen. Jede Abweichung muss, wie bei dem Mädchen in "Die innere Sicherheit", als Bedrohung des Gesamtkörpers bestraft werden.

Petzold: Die RAF hatte den "Moby Dick" als Grundbuch. Die Mitglieder haben sich Künstlernamen gegeben, die aus diesem Roman stammten, und Baader war natürlich Ahab. Ihnen hat das Bild gefallen, dass der weiße Wal der Leviathan ist, der riesig aufgeblähte Staat das Monster und die Schiffsbesatzung die organisierte Zelle, die dagegen ankämpft. Aus diesem Grund taucht das Buch im Film auf und natürlich auch deshalb, weil es eines meiner Lieblingsbücher ist. Am Anfang, auf den ersten fünfzehn Seiten, beschreibt der Ich-Erzähler, warum sich die Menschen so sehr zum Wasser hingezogen fühlen. Dass das Wasser einen tröstet und dass es etwas ist, das den Menschen überlebt. Am Schluss gibt es dann ein tolles Bild: Alles geht unter, der Erzähler hängt an dem Sarg des Harpuniers und überlebt. Das ist eine wunderbare Metapher für den Erzähler, der nie so richtig involviert ist und dann als Überlebender von den Toten die Kraft zieht, seine Geschichte zu erzählen.

Texte zur Kunst: Dein Film fängt auch am Meer an, bevor sich die Handlung auf die Autobahn verlagert, den betonierten Fluss. Die Autobahn ist aber immer noch eine Straße, und die Straße ist in den siebziger Jahren als politischer Schauplatz verloren gegangen. Ist die Flucht auf der Autobahn ein Versuch, die Straße zurückzuerobern?

Petzold: Die Autobahn hängt eng mit dem Titel des Films zusammen: "Die innere Sicherheit". Das hat etwas absolut Hygienisches: ein Mädchen, das erwachsen werden will, und ein Staat, der durch seine Körperhygiene auch erwachsen werden will. Ich hatte als Bild im Kopf, dass der Körper der BRD von einem Virus befallen wird. Die Autobahnen sind die Adern des Körpers. Und deshalb treibt der weiße Volvo wie ein Erregerteilchen herum. Die BKA-Autos sind die weißen Blutkörperchen, die den Erreger einkreisen und eliminieren.

Texte zur Kunst: Die Straße spielt im deutschen Autorenfilm eine große Rolle, etwa in Wim Wenders' "Im Lauf der Zeit". Die Zeit der RAF fällt auch mit der Zeit des Autorenfilms zusammen. Hatte das Ausdrucksinventar dieses Genres einen Einfluss auf deinen Film?

Petzold: Man darf nicht vergessen, dass das Autorenkino zu 80 Prozent Schrott produziert hat. Aber drei, vier Filme von Wenders, beispielsweise "Summer in the City" oder "Alice in den Städten", sind von einer ungeheuerlichen Melancholie durchzogen. Da wird auch schon von der bevorstehenden Zerstörung des Kinos gesprochen. Aus dieser Melancholie heraus entsteht eine ganz merkwürdige Beschäftigung mit Deutschland von jemandem, der im Grunde nur amerikanische Platten besitzt, aber plötzlich beginnt, John-Ford-Landschaften an der innerdeutschen Grenze zu entdecken. Wenders hat Bilder hergestellt, die sich nicht verkaufen, sondern beobachten, registrieren, Wüsten feststellen - psychische und moralische. Mit dem Verlust des Autorenkinos ist auch eine Form der Beschäftigung mit den eigenen Verhältnissen verloren gegangen.

Texte zur Kunst: Sind die flachen Bilder, die dein Film vorführt, ein Spiel mit der Ästhetik des Fernsehens, das den Film mit?nanziert hat?

Petzold: Die Unterscheidung von Kino und Fernsehen kann man nicht über Bildtiefen treffen. Das würde ja bedeuten, dass "Citizen Kane" der beste Film ist, weil er Tiefe hat, dabei ist er tiefstes 19. Jahrhundert. "Rote Sonne" von Rudolf Thome dagegen spielt nur vor farbigen Wänden, der ist flach bis zum Umfallen. Wir wollten Gespenster zeigen, Körper, die schon fast durchlässig sind. Deshalb spielt der Film immer im Hellen und praktisch nie in der Nacht. Jede Szene findet vor einem Fenster statt. Selbst das Haus, in dem sich die Familie versteckt, besteht aus Glas. Das ist eine der dreitausend Reemtsma-Villen, die überall herumstehen. Diese hier hat sich ein südafrikanischer Kunstsammler gekauft, der nicht bedacht hatte, dass er in ein Haus aus Glas keine Bilder hängen kann. Vor diesem Hintergrund sollten die Figuren sichtbar-unsichtbar sein. Sie sind überall da, aber keiner schaut sie mehr an: das Vampir-Thema - nicht mehr ganz auf der Welt zu sein. Das ist der Grund, warum es im Film diese Flachheiten gibt.

Texte zur Kunst: Habt ihr also im Gegenteil versucht, Fernseh-Ästhetik zu vermeiden?

Petzold: Die Filmkritik hat in den Siebzigern bis Anfang der Achtziger unheimlich gegen die Fernsehsprache gewettert. "Schuss/Gegenschuss" galt schon als Schweinerei. Das finde ich nicht. Schlimmer ist, dass das Fernsehen seine Zuschauer nicht kennt, beziehungsweise sie zum Verschwinden gebracht hat. Die Bilder richten sich an ein unrespektiertes, vermasstes Publikum und deswegen müssen sie anschaffen gehen, etwas bedeuten. Der Fernsehfilm erzeugt nur Bilder, zu denen man "Ja" oder "Nein" sagen kann. Wenn man zeigen möchte, dass eine Schauspielerin wie Katja Flint eine reiche Frau spielt, dann wird in Nahaufnahme gefilmt, wie sie ihre Gucci-Schuhe anzieht. Das Fernsehen, das ja auch alles mit 35 mm oder 16:9 dreht, kopiert ein Kino, das es im Grunde glücklicherweise gar nicht mehr gibt. Ein Kino, das tolle Mu-sik einsetzt, irrsinnige Vorspänne und wahnsinnige Totalen am Anfang, und dann doch nur immer bei derselben Einstellung landet. Bei Deleuze heißt das "Terror der Halbtotalen". Immer muss das Gesicht dessen zu sehen sein, der spricht, wird der Tauschwert der Schauspielerfresse ausgestellt, weil die so viel Geld kostet. "Die innere Sicherheit" war von vorneherein gegen diese Denkweise konzipiert. Wir haben ganz oft Menschen von hinten gezeigt, und wir haben bei Autofahrten nie durch die Windschutzscheibe gefilmt, weil das ein absolutes Fernsehbild ist.

Texte zur Kunst: War es ein Problem, den Film mit Hilfe des Fernsehens zu produzieren?

Petzold: Als wir merkten, dass wir abgesehen von ein paar kleinen staatlichen Institutionen kein Geld bekommen, war das Fernsehen das große Muss. Von besonders klugen Redakteuren bekam ich dort zu hören, dass das Thema seit Richters Stammheim-Zyklus für die Bundesrepublik doch erledigt sei. Ich habe zu dieser Person gesagt, das wäre das erste Mal in der Geschichte der Menschheit, dass ein Thema durch die Kunst erledigt werden kann. Die Fernsehstationen üben heutzutage eine wahnsinnige Macht aus. Die Redakteure, natürlich nicht alle, leben in Reihenhäusern, lesen Spiegel und Stern, haben jeden Tag einen ungeheuren Quotendruck und sehen die Zuschauer nur noch virtuell. Die denken, alles, was gerade diskutiert wird, muss unbedingt in einen Film.

Texte zur Kunst: Hat das Fernsehen nicht den Vorteil, schnell reagieren zu können?

Petzold: Ich glaube, dass das Fernsehen noch nie irgendetwas entdeckt oder empfunden hat, obwohl es so schnell ist. Das Fernsehen ist immer nur da, wo schon andere Kameras sind. Es ist ein Ort, wo Gegenwart wie in Magensäure verdaut wird. Das Kino dagegen leistet eine ganz andere Erinnerungsarbeit. Antonioni hatte noch nie in seinem Leben Popmusik gehört und drehte in den sechziger Jahren mit "Blow Up" einen Film, der genau die damalige Situation in London getroffen hat. Kinofilme haben eine andere Form von Produktionsverhältnissen, die langsam ist und sich den Orten anders aussetzt. Deshalb verfängt sich die Wirklichkeit darin viel eher.

Texte zur Kunst:"Deutschland im Herbst" von Kluge, Schlöndorff und anderen war auch eine Momentaufnahme.

Petzold: Der einzig sehenswerte Beitrag in "Deutschland im Herbst" ist der von Fassbinder, wo er fast dokumentarisch sein Kokain versenkt und seine Mutter anbrüllt, weil sie dafür war, dass die hingerichtet werden in Stammheim. Das ist ein unglaublich großartiges Dokument. Da hört man zum letzten Mal die Bundesrepublik, bevor Kohl kommt. Danach ist der atmosphärische Raum geschlossen worden.

R.W. Fassbinder, "Die dritte Generation", 1978, Filmstill R.W. Fassbinder, "Die dritte Generation", 1978, Filmstill

Texte zur Kunst: Fassbinder schickt den Film sozusagen durch seinen eigenen Körper. Ist das eine Option, mit der man heute arbeiten kann?

Petzold: Klaus Theweleit fordert diese Authentizität angesichts der völlig zerstörten Bildwelten und Verhältnisse in der Bundesrepublik. Die Gegenstrategie besteht für ihn darin, unter Einsatz des eigenen Lebens einen Film zu machen. Dann landet man schließlich, wie seinerzeit Rainald Goetz, in Klagenfurt und versucht, mit der Rasierklinge die Juroren zu überzeugen. Auch wenn ich sonst ein Riesenfan von Goetz bin, bin ich hier völlig anderer Meinung. Ich fand an Fassbinders Beitrag gerade nicht das Moment des Authentischen interessant, denn diese Szenerie ist ja auch eine Fiktion. Fassbinder zeigt in einem historischen Moment, dass er nicht fähig ist, an Douglas Sirk zu denken, etwas nicht in einen wunderschönen Titel zu kleiden wie "Liebe ist kälter als der Tod". Es gibt Momente im Leben, in denen man keine Liebesbriefe schreiben kann, keine Form hinbekommt, keine Zeit hat. Dass er sich diesem Moment stellt, in dem ihm als Künstler und Autor alles aus den Händen gleitet, das fand ich eben nicht authentisch im Sinne von Geniekult und einer Künstlerfigur, die die Realität absorbiert.

Texte zur Kunst: Er zeigt nur, dass das, was im Film geschieht, etwas mit ihm zu tun hat. Was hat "Die innere Sicherheit" mit dir zu tun?

Petzold: Das Mädchen in dem Film ist ungefähr so alt wie ich Ende der Siebziger, als ich in meiner westdeutschen Kleinstadt zwischen Wuppertal und Düsseldorf lebte. Sie geht auch ungefähr dieselben Wege. Die Fußgängerzone, der Plattenladen, das sind alles Orte, die ich dann als Motive wiedergefunden habe. Mir kam es damals in der Kleinstadt so vor, als hätte der Staat in seiner Suche nach den RAF-Leuten auch diese kleine Stadt erreicht. Die Stadt wurde unruhig, die Lehrer waren unruhig und das hat mir gefallen. Plötzlich war jede Autobahnausfahrt mit Bedeutung und Fiktion aufgeladen. Eine elende Siedlung bei einer Autobahn sah dann genauso aus wie eine der konspirativen Wohnungen aus der Tagesschau. Solche Erinnerungen haben sich vielleicht in ein paar Bildern niedergeschlagen, aber es ist kein biografischer Film. Wir versuchen, von dem Autobiografischen, Authentischen wegzukommen und eine viel höhere Form von Wahrhaftigkeit zu erreichen.

Texte zur Kunst: Wie hast du die politischen Ereignisse damals wahrgenommen?

Petzold: Meine Eltern waren Helmut-Schmidt-Fans. Die fanden, dass er das Hochwasser persönlich aus Hamburg zurückgedrückt hat. Für Schmidt war die RAF wie die Waffen-SS, und das konnten meine Eltern absolut unterschreiben. Für die waren das Schweine, die aus der bürgerlichen Mitte, in der alles verhandelbar ist, austreten. Meine Eltern hatten diese Grundangst, dass das in Deutschland immer zu Faschismus führt, egal ob von links oder rechts. Und diese Angst meiner Eltern war eines der schönsten Gefühle der siebziger Jahre. Der Fernseher führte die Familie nicht mehr im Halbkreis zusammen, sondern teilte sie in einzelne Splitter auf, es gab erregte Diskussionen.

Texte zur Kunst: Haben die Medienbilder, die 1977 erzeugt worden sind, dein Interesse für den Film geweckt?

Petzold: Nein, das fing für mich mit der Hitchcock-Retrospektive in der Kinemathek in Köln an. Das war genau im Deutschen Herbst, bedeutete aber eine völlig andere Welt. "North By Northwest" hat bei mir direkt zu New Wave geführt. Diese Form von Stilisierung, Formgebung, Eleganz - das alles kam im politischen Alltag überhaupt nicht vor. Die Eltern wollten alles normalisieren, ja nicht auffallen. Diese fantastischen Anzüge, Ska-Musik, damit kamen die gar nicht klar, das war viel besser als RAF. Bei dem Thema RAF konnte mein Vater ja noch mit Schmidt argumentieren, aber wenn man mit einem Anzug dasaß und eine Mentholzigarette rauchte, dann hatte er gar keinen Begriffsapparat zur Verfügung.

Texte zur Kunst: Ist dann die Ästhetik in Politik umgeschlagen?

Petzold: Als ich öfter einen Freund in Italien besuchte, das erste Mal war 1979, kam ich in Kontakt mit dem deutschen Verfassungsschutz. Es fiel auf, dass ich innerhalb eines Jahres sieben Mal in Italien war. Mein Freund schrieb für die Zeitschrift Il Manifesto. Das war eine harte Gruppe, einige von ihnen waren im Gefängnis. Die haben Punk gehört und gleichzeitig die "Kontrollgesellschaft" von Deleuze diskutiert. Ich hatte überhaupt keine Ahnung davon, aber die haben mich dann unheimlich politisiert. Talking Heads und RAF, das war ungefähr gleichzeitig. Zerfallene Politikgruppen, keine Utopien, unheimlich gute neue Musik. Das ging bei mir immer zusammen. Und die Frage, wie man produzieren kann. Dass man gegen die Verhältnisse sein muss, aber ihnen keine Alternative entgegensetzen kann. Und dass es gar nicht so schlimm ist, wenn man die nicht hat.