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Ernest Larsen

Queering Bachtin über die Filminstallationen von Isaac Julien

Isaac Julien, "Looking for Langston", 1989, Filmstill Isaac Julien, "Looking for Langston", 1989, Filmstill

Der Künstler und Filmemacher Isaac Julien ist spätestens seit seinem halb dokumentarischen Spielfilm "Frantz Fanon - Black Skin, White Mask" von 1996 einem größeren Festivalpublikum bekannt geworden.

Seine Ambition war und ist es, theoretisches Wissen über Postcolonial- und Queerness-Diskussionen mit konkreten Themen und einer differenzierten Ästhetisierung zu verbinden. Ist ein solch hoher Grad an Medienreflexion aufrecht zu erhalten, wenn er mit Videoinstallationen in den Kunstkontext wechselt?

Isaac Julien, der dieses Jahr für den prestigeträchtigen Turner Prize nominiert wurde, hat 1996 begonnen, mit Videoinstallationen zu arbeiten. Dies war ein Zeitpunkt, als das Interesse an den "Young British Artists" rasant zunahm, während zugleich junge schwarze Filmemacher/innen (viele von ihnen Mitglieder des Sankofa Collective wie Julien selbst oder des Black Audio Collective, der beiden profiliertesten der anfangs vom Fernsehsender Channel Four mitfinanzierten Filmproduktions-Workshops) sich fragten, wie die Welle der Popularität, auf der sie eben noch geschwommen waren, so schnell abebben konnte. Als Julien merkte, wie die Unterstützung für queere/schwarze/multikulturelle Filmprojekte erlahmte, vollzog er eine geschickte Wende zurück zur Kunstwelt, von der er sich seit dem Abschluss seines Studiums an der Central St. Martin's School of Art 1984 fast völlig abgewandt hatte.

Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, wollte man diese Rückkehr - ob erzwungen oder nicht - als bloße Strategie ansehen. Juliens Ausbildung in St. Martin's hatte zweifellos nachhaltigen Einfluss auf seine Filme. So verwendete er beispielsweise Historiengemälde als Bildelemente und Museen als Schauplätze. Noch bezeichnender ist seine Entscheidung, den filmischen Raum als eine Art "tableau vivant" zu visualisieren. Die oft elaborierte formale Bewegungslosigkeit der Bilder, sein Sinn für Komposition und Strukturierung ist auch ein fester Bestandteil seiner charakteristischen Konzeption einer grundsätzlich unabgeschlossenen Erzählform. In seinen Filmen entsteht der Anschein einer Handlung nicht aus dem Fluss der Zeit von einer Szene zur nächsten, sondern wird, wie in den "tableaux vivants", aus einer Serie bewusst diskontinuierlicher und wiederholt präsentierter Schlüsselmomente erzeugt. Manchmal bedarf es dabei eines scharfen Auges, um diese Momente zu entziffern und untereinander in Verbindung zu setzen.

Umgekehrt sind seit Juliens Rückkehr in den Kunstkontext seine Erfahrungen als Filmemacher von entscheidendem Einfluss. Im Bewusstsein des noch relativ undefinierten Status der Videoinstallation als vieldeutiger Form einer nicht-theatralischen Ausstellung erkannte er, dass dieses Medium Möglichkeiten offen hielt, wie es sie seit der Pionierzeit des Stummfilms nicht mehr gegeben hatte, als noch keine festen Regeln, keine etablierten Kinos und keine geschulten, gefügigen Zuschauer/innen existierten. Die Verwendung von unkonventionellen Projektionsmethoden und Mehrfachprojektionen ist dabei nicht ausschließlich, nicht einmal in erster Linie eine formale Frage. Wichtiger war vielmehr die Frage, wie Videoprojektionen die vorgefassten Ansichten der Kunstkonsument/innen in Frage stellen konnten. Neue Projektionstechniken und für Kinogänger/innen ungewohnte Orte ohne fest installierte Sitzreihen, Popcorn und Softdrinks bieten eine Chance, die Zuschauer/innen aus der Routine der Konsumhaltung herauszureißen und sie anders anzusprechen als in der Anfangszeit der Filmgeschichte, vor der Regulierung durch kodifizierte Erzählformen und Kapitalinvestoren - sie anzusprechen als eine dezentrierte, energiegeladene Masse von Bedürfnissen, Widersprüchen und Begehren.

I. Schon 1989 hatte Julien mit der filmischen Hommage "Looking for Langston" versucht, die konventionelle Positionierung der Zuschauer/innen aufzuheben - nicht durch den Aufbau der Vorführsituation, sondern durch eine historisch selbstreflexive Bezugnahme auf Inhalt und Form. Der Film bezieht sich auf die verheimlichte Homosexualität von Langston Hughes, des bekanntesten Schriftstellers der Harlem Renaissance in den frühen zwanziger Jah-ren. Dabei orientiert sich Julien in Tempo, Milieu, Beleuchtung und einer hochgradig atmosphärischen Kinematografie an Vorbildern aus der Ära des Stummfilms. Diese war ja zugleich die Zeit der Harlem Renaissance, in der die afroamerikanische Kultur erstmals ihre Verschiedenheit von, aber auch ihre Gleichwertigkeit mit der Kultur des weißen Mainstream öffentlich affirmierte. Während "Looking for Langston" die Klischees des "Bio-Pic" umgeht, die manche andere narrative oder dokumentarische Filme belasten, beschreibt er ausgiebig die historisch verdrängte Differenz innerhalb der Differenz: die schwule schwarze Kultur, die mit ihrer makellos stilisierten Eleganz dem jungen, schönen Langston wie auch vielen anderen Schriftstellern und Künstlern ihr Umfeld bot. Am auffälligsten ist dies vielleicht in Juliens Appropriation des klassischen Hollywoodstils der zwanziger Jahre realisiert, insbesondere in der Invertierung der idealisierten Repräsentation, in einer "queeren" Version der High-Society-Nachtclub-Szene. Hier flirten und tanzen die modisch angezogenen, aufreizend schönen Männer - Schwarze ebenso wie Weiße - miteinander statt mit Debütantinnen oder Vamps. "Looking for Langston" demonstriert und historisiert auf diese Weise eine spezifisch "queere" Ästhetik. Zugleich unterminierte Julien das populäre Bild von Hughes' Identität so gründlich, dass die Rechteinhaber/innen seines literarischen Nachlasses von Julien verlangten, zwei von Langston Hughes' Gedichten, die von einer Stimme aus dem Off vorgetragen werden, von der Tonspur zu löschen, als der Film in den USA gezeigt werden sollte. Diese Zensur, dieses erzwungene Verstummen, bot Julien ironischerweise eine unerwartete Gelegenheit, das evokative Potenzial des Schweigens in Zusammenhang mit der schon im Filmtitel angelegten konzeptuellen Betonung des Sehens noch zu steigern. So entfaltet der Film das Primat des Anblicks von etwas, das lange dem Blick entzogen war, das bewusst versteckt gehalten wurde, als den elektrisierendsten Moment in der Wiederentdeckung dieser Geschichte.

Kein anderer Filmemacher in Juliens Generation beherrscht die Mittel einer luxuriös ausgestatteten Visualität und zugleich einer nicht minder pointierten politischen Aussagekraft, fokussiert auf das transgressive Potenzial des Begehrens. Julien wurde oft genug dafür kritisiert, dass er immer wieder vor allem auf physische Schönheit Wert legt - diesen Bereich der Idealisierung scheinen seine Filme nie zu verlassen. Dabei fand jedoch der Zusammenhang zwischen seinem Stil und seiner Politik zu wenig Beachtung. Gehen wir beispielsweise von einer (etwas reduktiven) Beschreibung seines Stils aus, von dem man sagen kann, dass er auf einer Ästhetik der visuellen Verführung beruht, die das transgressive Potenzial des Sehens wachruft. Die visuelle Verführung eignet sich ebenso wie jede andere dazu, den Widerstand des Willens zu unterlaufen zugunsten des weitaus tiefgründigeren, emanzipatorischen Drangs zur Veränderung, der im Begehren angelegt ist. Das heißt, Juliens Stil und seine Politik besitzen beide ihre Grundlage und ihren integrierenden Zusammenhang in seinem optimistischen Vertrauen auf den Körper als ständig neu erscheinender und daher radikal unvollendeter Quelle der Veränderung. Dieses Vertrauen erinnert daran, wie sehr Juliens gesamtes Projekt einem "Queering" von Michail Bachtin gleichkommt, dessen komplexe Aufwertung von (bitte tief durchatmen!) Exzessen, der nicht finalisierbaren Erscheinung der Körperlichkeit, dem Karnevalesken, der verkehrten Welt, den verborgenen Traditionen marginaler Bevölkerungsgruppen, der Signifikanz des Lachens, provokativen Grenzüberschreitungen, Hybridität und dem Prinzip des Dialogischen sich mit Juliens Obsessionen deckt - und mit der Kultur der Diaspora, aus der Julien stammt. Im besten Fall (wenn sie nicht übertheoretisiert werden) konfrontieren Juliens Filme uns mit der beunruhigenden Erfahrung der wechselseitigen Kontaminierung von Schönheit und Transgression, die sich auch in Bachtins Studien über Rabelais und Dostojewskij andeutet. Indem er uns zeigt, was an der Schönheit riskant und was an der Transgression schön ist, zielt Julien auf eine Destabilisierung beider Begriffe. Oder, anders gesagt: Kunst kann ziemlich langweilig werden, wenn sie keine derartigen Risiken eingeht.

Isaac Julien, "The Long Road to Mazatlán", 1999, Installationsansicht im CCS Museum, Bard College, New York 2000 Isaac Julien, "The Long Road to Mazatlán", 1999, Installationsansicht im CCS Museum, Bard College, New York 2000

II. In mancher Hinsicht bieten Juliens Video-Installationen eine aufschlussreichere Verkörperung dieses Flux als seine Kinofilme. Schließlich gehört es zur großen Attraktivität des Mediums Videoinstallation, dass der Künstler/die Künstlerin hier selbst die Bedingungen der Vorführung vorgeben kann. Juliens Videoarbeiten bilden insofern eine erweiterte Form des Engagements, das er als Künstler-Filmemacher entwickelt hat. Während alle seine Installationen mit komplex rhythmisierten Klangformen arrangiert sind, zeigt sich in den neuesten Arbeiten "The Long Road to Mazatlán" und "Vagabondia", dass Julien die Videoinstallation so einsetzt, als hätte er auch hier einen Schritt um hundert Jahre zurückgetan und würde nun fröhlich den Stummfilm neu erfinden. Obwohl er in beiden Arbeiten den Modus des Fiktionalen wählt, lassen sie sich nie auf ein bestimmtes narratives Genre festlegen. Denn das hieße, einstudierte Reaktionen abzurufen - wieder dieselben alten Zuschauer/innen herbeizubeschwören. Vielmehr inszenieren diese Installationen Mini-Erzählungen, die die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sie aber nirgendwohin lenken. Juliens Schauspieler/innen besitzen beeindruckende physische Präsenz, doch er verwehrt ihnen die Emotionen. So werden sie für uns nie zu Charakteren; sie streifen nur ihre Kostüme über und spielen ihre Rollen. Sie bieten uns den Genuss der Performance, aber nicht den der Identifikation.

Ironischerweise sind es gerade die neuesten formalen und technischen Entwicklungen im Bereich des digitalen Video, insbesondere die nicht-lineare digitale Schnitttechnik, die diesen Schritt zurück in eine Stummfilmzeit zugleich zu einem Schritt nach vorn machen. Die digitale Bearbeitung ermöglicht es, in jedem einzelnen Bild Geschwindigkeit, Farben und Richtung zu manipulieren, in einem Ausmaß, dass bis dato für "unabhängig" arbeitende Filmemacher/innen unvorstellbar war. Für Julien erleichtert die Digitaltechnik eine dynamische Verwendung von Mehrfachprojektionen, die im Prinzip das Potenzial mehrerer Erzählstränge weiterentwickelt. Die Dreifachprojektion "The Long Road to Mazatlán" benötigt vier synchronisierte DVD-Player, drei LCD-Projektoren und ein Surround-Sound-System mit zehn Lautsprecherboxen. Dieser achtzehnminütige, in satten Farben schwelgende digitale Videofilm, gedreht in San Antonio (Texas) und Umgebung, erinnerte unmittelbar an die sensationelle Dreifachprojektion im Schlussteil von Abel Gances "Napoléon" (1927). Gance verwendete die Mehrfachprojektion, um die Höhepunkte seines heroischen Filmepos zu einem bravourösen Spektakel zu erheben. Die drei parallel projizierten Filmstreifen steigern die eine Geschichte. Trotz sei-nes unbezweifelbaren ästhetischen Erfolgs blieb Gances Experiment der polyvisuellen Projektion eine Seltenheit - vor allem aufgrund der enormen Schwierigkeiten und Kosten einer vollständigen Vorführung. Nach seiner Erstveröffentlichung wurde das Original des Films später zu Streifen zerschnitten und stückweise verkauft. Juliens "Video-Cinerama" ist dagegen nicht nur billiger, sondern heroisiert auch nicht und bietet zudem eine komplexere visu-elle Erfahrung: Die Reduktion des Maßstabs ist hierfür vielleicht entscheidend. Das fast überwältigende Spektakel von Gances Epos ersetzt Julien durch die Intimität einer Dreifach-Videoprojektion, die die Zuschauer/innen zu der merkwürdig befriedigenden Aktivität veranlasst, den Fortgang einer Geschichte zu registrieren, die nicht von der Stelle zu kommen scheint. In den permanent sich vervielfältigenden Perspektiven der drei Projektionen und den unerwarteten Verschiebungen und Wechseln von Farben, Geschwindigkeit, Richtung und Wiederholung zeigt sich ein zelebratorisches, ambivalentes und zersetzendes Porträt der mythischen Maskulinität des amerikanischen Cowboys. An einer Reihe von klassischen Western-Schauplätzen, beispielsweise einer staubigen Landstraße, einer Tex-Mex-Bar, einer Rinderauktionsarena und einem Motel, entfaltet ein einsamer weißer Cowboy im weißen Hemd ein erotisches Drama aus flüchtigen Blicken, verhaltenen Gesten und obsessiven Fantasien in Richtung eines zweiten weißen Cowboys im schwarzen Hemd. In anderen Worten: Die "queere" Umkehrung des mythischen Western-Dramas, in dem normalerweise der Gute den Bösen verfolgt, bis es zum finalen Showdown kommt, zielt nicht auf eine orgasmische Explosion der Gewalt, sondern auf einen explosiven Orgasmus.

Dabei spannt sich eine ungefähre Analogie zwischen der vage vorwegnehmenden, hoffnungsvoll wünschenden Haltung der alltäglichen Museumsbesucher/innen, die mit unterschiedlicher Intention und Aufmerksamkeit diese endlos unentschiedene Verführung beobachten, und dem halb nervösen, halb erregten Cowboy im weißen Hemd, der dem Objekt seines Begehrens nachspürt. Juliens spannungsvolle Darstellung der Körperlichkeit richtet sich unmittelbar an die stummen Zuschauer/innen, die zu einem beliebigen Zeitpunkt der Endlosschleife eintreten und ihre Bewegungen lange genug unterbrechen, um die Handlung zu verfolgen, die sich im Halbdunkel an eine Wand lehnen oder ein wenig vorbeugen, um den nächsten dreifachen Bilderschub zu absorbieren - und die vielleicht in diesem Moment selbst das Objekt des flüchtigen Blicks anderer Zuschauer/innen sind. Die Offenheit der Videoprojektions-Umgebung wirkt mindestens ebenso destabilisierend wie die beinahe ziellosen Bewegungen der anwesenden Körper in einem nahezu leeren Raum. Ebenso wenig wie die Cowboys gelangen die Zuschauer/innen je an das Ende dieser langen Straße. Allerdings konnte ich bemerken, dass die meisten - egal zu welchem Zeitpunkt sie den Installationsraum betreten hatten - abwarteten, bis sie das Video einmal in ganzer Länge gesehen hatten - was darauf schließen lässt, dass die unabgeschlossene Form einer Empfänglichkeit seitens der Zuschauer/innen keineswegs entgegensteht. Szene für Szene bieten die multiplen Perspektiven der drei Projektionen Julien die Möglichkeit, einen hybriden Modus des Erzählens zu entwickeln, der die Unmittelbarkeit des Begehrens festhält, während dessen Subjekt, Objekt und Richtung sich permanent in unvorhersehbarer Weise verschieben und all diese Bewegungen ihrerseits den fast absurden Exzess des Begehrens imitieren.

Wie ein Stummfilm verzichtet "The Long Road" auf gesprochene Dialoge und setzt an deren Stelle eine packend vorgeführte Pantomime, choreografiert von Javier de Frutos, der auch den Cowboy im weißen Hemd spielt. Die modernistische Stilisierung banaler Bewegungen zu choreografierten Gesten deutet aber nicht nur auf die pantomimische Darstellung von Emotionen in Stummfilmen, sondern betont auch, wie konventionell stilisiert der körperliche Ausdruck von Emotionen und der Wunsch nach Kontakt bei unseren Begegnungen im Alltagsleben sein kann.

"The Long Road" versammelt ein außerordentliches Spektrum von solchen Andeutungen und Verweisen auf teils schwule, teils mainstreamige kulturelle Ausdrucksformen. Der Titel entstammt einer Textzeile aus Tennessee Williams' Bühnenstück "The Night of the Iguana". Andere Bezugspunkte sind Andy Warhols "Lonesome Cowboys", eine Sequenz am Swimmingpool, die aus David Hockneys Bildserie "Swimmers and Pools" zitiert ist, und ein komischer Moment, in dem der Cowboy im schwarzen Hemd vielleicht absichtslos, vielleicht bewusst aufreizend Travis Bickle in "Taxi Driver" parodiert, als er ruft "You lookin' at me?" - statt wie in Scorceses Film "You talkin' to me?". Diese ostentativen Bezüge fügen dem konstanten Bemühen von "The Long Road", das Stereotyp des starken, schweigsamen, über-maskulinen Mannes aus den Weiten des amerikanischen Westens umzukehren, eine weitere Dimension hinzu.

Julien "queert" diese Performance der Männlichkeit zu einem eleganten Tanz, während er zugleich ihre hypnotische Kraft als eine Art Schutzfärbung enthüllt, gebildet aus den verdächtig profilierten Insignien von Stetson-Hut, besticktem Leinenhemd, hautengen Jeans und spitzen Stiefeln. Die kraftvolle Erotik des Cowboy-Drag kontrastiert mit der Frustration des nackten Begehrens in der Swimmingpool-Szene - wobei unklar bleibt, ob Letztere vielleicht nur eine Fantasie darstellen soll. Wenn die Körper der beiden Männer sich unter Wasser einander annähern, sich aber letztlich verfehlen, oder wenn sie beiderseits der langen Straße einander melancholisch gegenüberstehen, scheint Julien andeuten zu wollen, dass dieselben Stereotypen, die das Begehren wecken, seiner Erfüllung im Wege stehen. Julien unterwirft den Mythos des Cowboys den Bachtin'schen Riten der Invertierung - doch wie im Karneval ist auch hier die konventionelle Maskulinität nur vorübergehend auf den Kopf gestellt.

Julien selbst nannte einmal Abel Gances Verwendung der Mehrfachprojektion als eine Quelle der Inspiration, doch sein Interesse an der Erforschung der "multi-perspectivalized, multi-spectival view" beruhe vor allem darauf, dass er "a sort of carnival to the eye" biete. Dies zeigt sich noch direkter in dem unerwarteten Auftauchen von drei elegant kostümierten Showgirls mitten auf der Straße, welche die beiden Männer voneinander trennt. Auf derselben Straße sehen wir auch eine langsam kriechende Kobra - dann folgt ein plötzlicher Schnitt zu einer extremen Nahaufnahme der Kobra, so nah, dass wir unwillkürlich daran erinnert werden, wie diese mächtige Schlange von Zeit zu Zeit ihre Haut, ihr Kostüm abstreift. Solche widersprüchlichen Ausdrucksformen des Karnevalesken, die implizit die disruptive Macht einer öffentlichen Sexualität affirmieren, sind vielleicht Anzeichen von Juliens Wunsch, die kritische Dimension eines Konzepts aufrechtzuerhalten, über das Bachtin schrieb: "Der individuelle Körper hört in einem gewissen Maß auf, er selbst zu sein; es wird sozusagen möglich, seinen Körper auszutauschen oder zu erneuern (durch den Wechsel des Kostüms, der Maske)."

Isaac Julien, "The Long Road to Mazatlán", 1999, Installationsansicht im CCS Museum, Bard College, New York, 2000 Isaac Julien, "The Long Road to Mazatlán", 1999, Installationsansicht im CCS Museum, Bard College, New York, 2000

III. Die Installation "Vagabondia", gedreht in Sir John Soane's Museum in London, führt die Arbeit mit multiplen Perspektiven in veränderter Form fort - unter besonderer Verwendung der Doppelprojektion. Julien setzt hier nicht einfach zwei Bilder nebeneinander, um so implizit ihre Simultaneität zu evozieren, wie es etwa Andy Warhol in "Chelsea Girls" tat, einem 16mm-Film, der hauptsächlich in Kinos gezeigt wurde. Ein besserer Vergleich wäre Sherry Millners vom Situationismus inspirierte Super-8-Doppelprojektion "Disaster"(1976). (Ich sollte an dieser Stelle sagen, dass mein vielleicht etwas exzessives Interesse an solchen Mehrfachprojektionen insbesondere auf meine Mitwirkung an der Produktion von "Disaster" zurückgeht.) In diesem Film füllte Millner die eine Seite der Projektionsleinwand mit appropriierten Bildern von Katastrophen, auf die andere Seite projizierte sie währenddessen autobiografisches Bildmaterial, in dessen Mittelpunkt die augenscheinlich drängenderen Katastrophen des täglichen Lebens standen.

Juliens Interesse gilt einer anderen Art von konzeptueller Divergenz: der Tendenz des architektonischen Raums, die widersprüchlichen Umstände seines Ursprungs zu verschleiern. Denn Soanes exzentrisches Museum, bis unters Dach gefüllt mit Kuriositäten, römischen Altertümern, visionären Zeichnungen von Piranesi und einem ägyptischen Sarkophag im Keller, wurde auf der fast völlig vergessenen Grundlage eines Vermögens erbaut, das er in den britischen Kolonien erworben hatte, das heißt, auf dem Rücken von Sklav/innen. Um etwas von der verborgenen Geschichte dieses Hauses anzudeuten, das Sir John Soane, ein Architekt des 18. Jahrhunderts, entworfen und selbst bewohnt hat, bedient Julien sich wiederum der Mittel nicht-linearer digitaler Schnitttechnik. Er verwendet die Projektionsfläche wie eine Art Kaleidoskop, so dass die eine Hälfte der Projektion ein seitenverkehrtes Doppel der anderen ist, und erzeugt so eine beständige Spannung aufgrund der Frage, welches der beiden Bilder das "richtige" und welches nur das Spiegelbild ist. Diese besondere Ästhetik erscheint um so passender, da das einstige Wohnhaus, das Meisterwerk des Architekten Soane, seine Präsenz vor allem der strategischen Platzierung von Spiegeln in fast allen Räumen verdankt, sowie den geschickt arrangierten, unerwarteten Blickschneisen, die auch ganze Etagen miteinander verbinden. "Vagabondia" erinnert so an die verwirrende Erfahrung eines Gangs durch die Museumsräume. Die irritierende Schönheit der Doppelprojektion verleiht darüber hinaus der surrealen Frage, wie die Toten in der Gegenwart weiterleben und sie sogar beherrschen können, eine physische Präsenz. Die Figur der Konservatorin - die Schauspielerin Cleo Sylvestre, die schon in zwei früheren Filmen von Julien Schlüsselrollen spielte - erscheint hier als Mittlerin zwischen Vergangenheit und Gegenwart.

Sir John Soane's Museum, London Sir John Soane's Museum, London

Wir sehen, wie ein als Sir John Soane verkleideter Mann in periodischen Abständen erscheint und eine Treppe hinuntergeht. Eine schwarze Frau tritt auf, ebenfalls im Stil des 18. Jahrhunderts gekleidet, als wollte sie die Behauptung widerlegen, dass es in England vor 1945 keine Präsenz von Schwarzen gegeben habe - das heißt, bevor die ersten Schiffe mit Einwanderern aus der Karibik, unter ihnen auch Juliens Eltern, nach England kamen, gleichsam wie die Wiederkehr des Verdrängten. (Tatsächlich lebten in London im 18. Jahrhundert schon über 10.000 Schwarze.) Die größte Irritation geht von einem merkwürdig gekleideten jungen Mann (Ben Ash) aus, der einen eigenartigen Tanz aufführt, von einem Stuhl zum nächsten springt. Sein beunruhigendes Doppelbild durchbricht die glatte, spiegelbildliche Oberfläche, die ansonsten in diesem Video dominiert. Das Museum hat sich in einen Performance-Raum transformiert und wir erkennen darin das Museum selbst als die Performance einer bestimmten Geschichte. Diese Theatralik wird in dem Video durch eingeblendete Großaufnahmen von den Falten eines tiefroten Samthandschuhs intensiviert, den der neue, aus einem vergangenen Jahrhundert aufgetauchte Begleiter der Konservatorin trägt. Im Studio Museum in Harlem, wo ich die Installation sah, war dieses Bildelement zudem räumlich wiederholt durch einen doppelten tiefroten Samtvorhang, durch den man gehen musste, um in den Projektionsraum zu gelangen.

Die Konservatorin taucht also inmitten eines Trios von lebendigen Gespenstern auf, die sie heraufzubeschwören scheint, wenn sie beispielsweise die Bildergalerie betritt und uns zeigt, dass dort hinter doppelten Wänden, die sich mit einem kunstvoll ausgetüftelten Scharniersystem bewegen lassen, verborgene Hogarths hängen. Hogarths Gemälde erinnern zugleich an die Blüte des Karnevalesken im urbanen London des 18. Jahrhunderts, in der Zeit von Soanes architektonischen Meisterleistungen. Das Museum erscheint so als ein unvollständig befriedetes Überbleibsel aus der kolonialen Vergangenheit und als Verkörperung von Soanes Bedürfnis, die gewaltsame Vergangenheit hinter einer extravaganten Ansammlung ungezählter, aus ihren Originalkontexten gerissener Objekte und Relikte zu verbergen. In einer subversiven Würdigung von Soanes verspieltem Spleen hat Julien seine Installation wie ein Kinderspielzeug aufgebaut.

Es ist gewiss kein Zufall, dass das Verspielte, das Überbordende und die Überraschungsmomente von Juliens Videoinstallationen mit ihren Anklängen an die frühen Stummfilme und mit einer konzeptuellen Verwendung des Kaleidoskop-Effekts einhergehen. Diese beiden Formen des Umgangs mit Vielfalt erweisen sich nicht nur als besonders wirkungsvolles Mittel des visuellen Ausdrucks, sondern besitzen auch ein beachtliches metaphorisches und historisches Gewicht.

(Aus dem US-amerikanischen Englisch von Christoph Hollender)