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Was machen wir hier? Ein Roundtable-Gespräch mit Nairy Baghramian, Henning Bohl, Christian Flamm, Tine Furler und Thomas Groetz, moderiert von Isabelle Graw

Was machen wir hier, 1 Was machen wir hier, 2

Für junge Künstler/innen kommt Berlin in verschiedener Hinsicht einem Versprechen gleich. Neben der ausschweifenden Galerienszene, die marktperspektivisch verführerisch anmutet, scheinen es vor allem die kulturellen und sozialen Anknüpfungspunkte zu sein, die Berlin - zumindest momentan - zum konkurrenzlosen "It-Place" der Kunstorte Deutschlands macht. In einem von Isabelle Graw geleiteten Gespräch diskutierten Nairy Baghramian, Henning Bohl, Christian Flamm, Tine Furler und Thomas Groetz ihre persönlichen Motivationen für den Umzug nach Berlin. Dabei machten sie deutlich, dass ihr kulturproduzierendes Treiben sich nur mit verkürzender Absicht einem Berlin-Label unterordnen lässt.

Isabelle Graw: Zunächst einmal etwas Grundsätzliches, weil man sich vielleicht wundern könnte, dass hier einerseits Künstler/innen, aber auch zwei Kritiker/innen - mich eingeschlossen - versammelt sind, um die Frage zu diskutieren, was wir hier in Berlin eigentlich machen. Ich würde davon ausgehen wollen, dass wir uns alle gewissermaßen als Kulturproduzent/innen sehen, was nicht heißt, dass dadurch die Unterschiede zwischen Kritik und Kunst unter den Tisch fallen sollen. Aber die Frage, was man an einem bestimmten Ort tut und inwieweit das, was den Ort ausmacht, in die Produktion hineinragt, betrifft uns sicherlich alle in ähnlicher Weise. Auch der Entschluss, ein Heft über Berlin zu machen, ging aus dieser Frage hervor: Warum sind wir eigentlich hier?

Thomas Groetz: Diese Frage habt ihr an euch selbst gerichtet?

Graw: Ja, die Frage nach möglichen Beschreibungen der Situation, mit der man sich hier konfrontiert sieht, und nach den Handlungsmöglichkeiten, die daraus erwachsen. Für 'Texte zur Kunst' war der Umzug nach Berlin ein längerer Prozess. Ende 1996 gab es ein Heft, das "Versprechen Berlin" hieß. Da ging es um Berlin als Projektionsfläche. Damals war schon klar, dass man da eigentlich hin will, aber es hat noch einmal vier Jahre gebraucht, um wirklich umzuziehen. Der Eindruck verstärkte sich, dass es hier viele befreundete Kulturproduzent/innen, geschätzte Kollegen und potenzielle Mitarbeiter gab und gibt, mit denen man zusammenarbeiten und sich auseinander setzen will. Meine Frage an euch: Warum und wann seid ihr hierher gezogen? Und war das eine Entscheidung, die ihr für euch alleine getroffen habt - oder schon im Hinblick auf Leute, die sich hier befanden oder hierher ziehen wollten?

Nairy Baghramian: Bei mir war es nicht freiwillig. Ich bin ja schon länger in Berlin, seit 1985. Mich für Berlin zu entscheiden, für die Kunstproduktion und dafür, als Künstlerin zu agieren, fiel in die Zeit Mitte der neunziger Jahre, als es viele Diskussionen über politische Kunst, Politik und Kunst gab. Diese Diskussionen kehren ja gerade wieder. Als ich zum ersten Mal darüber nachgedacht habe, warum ich in Berlin bin, habe ich zunächst den Ausstieg gesucht und bin nach London gegangen. Nicht um dieser Frage auszuweichen, sondern um mir den Raum zu geben, wieder zurückzukommen. Meine Anwesenheit in Berlin war also zunächst keine bewusste Entscheidung. Aber dann bin ich entschieden hier geblieben.

Graw: Und warum?

Baghramian: Aus meiner Biografie heraus gab es bei mir ein politisches Begehren, das hier jedoch an seine Grenzen stieß. Es gab natürlich Auseinandersetzungen in den Neunzigern, aber die Art und Weise, wie Politik und Kunst zusammengebracht wurden, fand ich schwierig. Sowohl die Produktionsweisen als auch die Gruppenkonstellationen, die sich herausbildeten, gingen mit Problemen einher. In diesem Prozess der Politisierung gab es für mich eine Stagnation, die mich gleichsam erdrückt hat. Deshalb wurde es leichter, als ich in London war, wobei ich in London mit ganz anderen Themen und Schwierigkeiten konfrontiert wurde. Dann bin ich zurückgekommen.

Henning Bohl: Ich bin auch nicht hergekommen, weil ich mich ganz klar für Berlin entschieden hätte. Im ersten Jahr habe ich kaum jemanden gekannt, und dann sind mehr Leute gekommen, die ich von woandersher kannte. Inzwischen habe ich auch einige kennen gelernt, die immer schon in Berlin gewohnt haben. Die meisten Bekanntschaften, die ich hier habe, kannte ich aber schon vor meiner Zeit in Berlin.

Graw: Aber was macht die Magnetkraft dieser Stadt für Kulturproduzent/innen aus?

Groetz: Man spürte in den neunziger Jahren einen Sog nach Berlin. Ich habe das auch gespürt, ohne dass ich das damals für mich konkretisieren konnte. Ich kannte ein paar Leute hier, aber nicht viele. Ich bin eigentlich aufgrund dieser Attraktion vor fünf Jahren hierhin gegangen, weil ich mir davon etwas versprochen habe. In erster Linie schon hinsichtlich eines kulturellen Kontexts, der lebendig und interessant war und in dem ich mich vielleicht wiederfinden konnte. Den es vorher in diesem Sinne nicht so gab.

Tine Furler: Ich war davor sechs Jahre in Düsseldorf, und bei mir war es ähnlich wie bei euch, dass man ein paar Jahre lang immer darüber gesprochen hat, nach Berlin zu gehen und es dann aber noch eine Zeit lang gedauert hat, bis man diesen Schritt wirklich gemacht hat. Ich glaube, in Düsseldorf geht es vielen so, dass die wissen, sie wollen diese Stadt irgendwann verlassen, um sich dann genauer zu überlegen, wohin sie nach dem Studium gehen wollen. Und diesen Sog nach Berlin, den haben alle gespürt. Man hat überall von Berlin geredet.

Graw: Gab es denn eine konkrete soziale Formation, an der du besonders interessiert warst? In deinem Fall vielleicht das, was man heute als den sozialen Kontext im Umfeld der Galerie von Guido W. Baudach - ehemals "Maschenmode" - bezeichnen kann, also Maler wie André Butzer, Markus Selg oder Andreas Hofer? - [1].

Furler: Nein, diese Leute habe ich erst hier kennen gelernt. Es war eher so, dass ich in Düsseldorf sozial gut eingebunden war, dass aber zwei aus meinem Freundeskreis schon nach Berlin gezogen waren, was es mir leichter gemacht hat, diesen Schritt auch zu tun. Aber eigentlich habe ich mich eher von einer Gruppe dort getrennt.

Graw: Das war die Künstler/innengruppe "Hobbypop" - [2].

Furler: Ja, genau.

Christan Flamm: Als ich als junger Mensch nach Berlin kam, war meine produktive Vorgeschichte überschaubar. Das war im Anschluss an den Zivildienst, und ich hatte keine konkrete Vorstellung von Zusammenhängen, die sich mir hier bieten könnten. Es ging eher um allgemeinere Versprechen, die auch in Richtung Spaß gingen. Ich glaube nicht, dass ich damals vornehmlich Kunst im Kopf hatte. Da hat so etwas wie Ausgehen und die Frage, ob man sich amüsiert oder nicht, noch eine lebendige Rolle gespielt - ich finde, das sollte man nicht vergessen.

Graw: Das Versprechen des Nachtlebens. Die Clubs.

Flamm: Ja. Und auch, dass Berlin eine Stadt in Deutschland ist, die Deutschland am wenigsten von allen Städten ähnelt. Wo es vorgeschlagene, geduldete und ausgetragene Verschiedenheiten gab. Das Versprechen günstiger Lebenskosten hat natürlich auch eine große Rolle gespielt, also: Hier gibt's die billigen Räume, wo jeder was losmachen kann.

Graw: Vielleicht war ich ein bisschen zu voraussetzungsvoll, aber ich bin davon ausgegangen, dass sich jeder, der hier sitzt, und da würde ich mich selbst gar nicht ausschließen, bestimmten losen Gruppierungen oder Formationen zugehörig fühlt. In deinem Fall, Thomas, dachte ich an dein kunstkritisches Engagement für den, nennen wir es den "Maschenmode-Zusammenhang". Bei dir, Henning, dich habe ich mit Künstler/innen wie Michaela Meise oder Sergej Jensen, also deinen Freund/innen und ehemaligen Mitstudent/innen aus dem Kontext der Frankfurter Städelschule in Verbindung gesetzt. Bei Tine habe ich ebenfalls auf große Nähe zum sozialen Umfeld der ehemaligen Akademie Isotrop - [3]. und der Galerie Guido W. Baudach geschlossen, die dich bis vor kurzem vertreten hat. Und Christian habe ich mit der Galerie Neu und der für diesen Galeriezusammenhang typischen ornamentalen Ästhetik in Verbindung gebracht. Im Falle von Nairy ging ich davon aus, dass es Gemeinsamkeiten mit anderen Künstler/innen wie Florian Zeyfang oder Judith Hopf gäbe, die ebenfalls ein Interesse an der Idee einer möglichen Politizität von Kunst haben. Liege ich mit diesen Zuordnungen jetzt völlig falsch?

Baghramian: Nicht völlig.

Bohl: Bei mir sind diese Personen nur nicht der Grund gewesen, warum ich hierher gekommen bin. Weil es diese Gruppierung hier noch gar nicht gab. Ich hätte auch woanders hingehen können und hätte das dann vielleicht auch spannend gefunden. Diesem Nach-Berlin-geh-Zwang zu widerstehen, war für mich eine Zeit lang genauso interessant. Das hat sich einfach so ergeben und jetzt ist es so, dass es Zusammenhänge gibt, die es wichtig machen, dass man hier ist.

Furler: Ja, ich finde auch, dass diese Gruppierungen sich viel stärker gefestigt haben in den letzten Jahren. Am Anfang, als ich hier war, gab es diese Gruppierungen noch nicht so stark getrennt voneinander.

Flamm: Ich finde die Vorstellung absurd, sich eine Galerie als identitätsstiftendes Moment vorzustellen. Man kann davon ausgehen, dass eine Galerie ein Unternehmen ist, das man schon mit entwirft, aber bei dem man nicht mit entscheidet, wie es im Endeffekt aussieht. Ich glaube nicht an eine Definitionsmacht, die entweder von Seiten der Galeristen oder Galeristinnen kommt oder von einem vereinfachenden Blick von außen. Und wenn ich mir jetzt einen Zusammenhang vorzustellen hätte, der "Neu" heißt, kann ich mir den nicht vorstellen. Weil es auch innerhalb dieses Nicht-Zusammenhangs extrem widersprüchliche Ansätze gibt.

Graw: Da stimme ich dir zu. Bis in die neunziger Jahre hinein gab es noch eine Vorstellung und Praxis der "programmatischen" Galerie. Als Beispiele wären die Galerie Werner oder auch die Galerie Hetzler und die Galerie Nagel zu nennen. Inzwischen müssen Galeristen auf den Markt bezogene Kompromisse machen und international kooperieren. Deshalb haben sie in der Regel kein klar konturiertes Programm mehr, das etwa über Jahrzehnte hinweg durchgezogen würde. Eindeutig bestimmbare Galeriekontexte gibt es nicht mehr. Gleichwohl ist es möglich, künstlerische Produktion auf ihrem Rahmen zu beziehen. Gibt es nicht trotzdem lose Gruppierungen von Leuten, denen man sich verbunden fühlt und bei denen man den Eindruck hat, man würde ähnliche ästhetische Präferenzen haben? Oder agiert man in dieser Stadt eher als Einzelkämpfer?

Groetz: Man sucht sicher Gleichgesinnte. Das ist erstmal ein typischer Impuls, der ganz automatisch funktioniert. Obwohl ich nicht konkret losgegangen bin, aber für mich ist ein gewisser Kontext von Leuten schon auch wichtig gewesen, der damals mit der Galerie Maschenmode und mit dem "Dirt" - [4]. zusammenhing. Diese Orte haben Leute zusammengeführt. Da gibt es schon eine Verbundenheit, und ich habe einen Widerhall zu dem gespürt, was mich interessierte, auch in programmatischer Hinsicht.

Graw: Kannst du diese Programmatik genauer bestimmen?

Groetz: Mit der Akademie Isotrop habe ich selbst zum Beispiel ja gar nichts zu tun. Das ist eine Sache in Hamburg gewesen, die 1999, glaube ich, zu Ende war. Leute aus dieser ehemaligen Akademie sind dann nach Berlin gekommen und sind Teil einer gewissen Szene geworden, die sich 2000 oder 2001 um "Maschenmode" und "Dirt" formiert hat. Man spürte da doch etwas - das würde ich auch heute noch sagen - Programmatisches und gerade das interessierte mich, obwohl es scheinbar überholt schien. Ein Interesse an einer gewissen Unmittelbarkeit und am Expressiven, an einer Emotionalität, mit der man Kunst betreibt und mit der man auch kulturpolitisch agiert oder mit der man schreibt. Das, was ich als programmatisch empfinde, hat sich auf mein eigenes Schreiben zum Teil ausgewirkt. Eine gewisse Leidenschaftlichkeit vielleicht.

Flamm: Ich möchte einen Einwand gegen diese Vereinfachung vorbringen, der Kontext "Maschenmode" sei aus der Akademie Isotrop hervorgegangen. Das halte ich für sehr, sehr falsch.

Groetz: Das habe ich so nicht gesagt.

Flamm: Das war nicht gegen dich gerichtet, nur habe ich diese Einschätzung eben schon des Öfteren gehört. Ich habe diese Geschichte damals sowohl zentral als auch marginal miterlebt und glaube auch deshalb einschätzen zu können, dass der Teil, der so etwas ausmacht wie "Maschenmode", nur einen Bruchteil dessen darstellt, was Isotrop einmal ausgemacht hat. Auch was ästhetische Vorstellungen und Einstellungen allgemeiner Art betrifft. Ich glaube, das waren damals über zwanzig Leute, und diejenigen, welche dann in dem Maschenmode-Kontext wieder aufgetaucht sind, stellen einen verschwindend kleinen Teil davon dar. Deshalb wäre diese Verkürzung der Geschichte der Akademie Isotrop gegenüber - so wertvoll oder nicht wertvoll sie jetzt sein mag - ein bisschen ungerecht. Man darf diesen Leuten nicht die einzige Diskursmacht überlassen und es ihnen somit einräumen, ein Erbe zu verwalten, das schließlich auch anderen gehört.

Furler: Ich glaube nicht, dass das jemand macht. Das war ein komplettes Missverständnis.

Baghramian: Vor kurzem habe ich im Internet gesehen, dass die Galerie Guido W. Baudach (ehemals "Maschenmode"), in deren Umfeld ich mich ja eigentlich eher gar nicht verorte, keine Frauen mehr ausstellt.

Graw: Dieser Ausschluss der Künstlerinnen betrifft doch auch dich, Tine, wenn ich das richtig mitbekommen habe.

Furler: Ich arbeite einfach jetzt nicht mehr mit der Galerie zusammen, weil ich benutzt und belogen wurde. Aber mehr will ich jetzt auch nicht dazu sagen. Eigentlich hat das wirklich nur mit mir und dem Galeristen zu tun, und ich bin trotzdem noch in diesem Freundeskreis. Es ist nicht so, dass ich mich komplett aus der Gruppierung rauskatapultiert habe oder katapultiert worden bin.

Graw: Haben wir es in solchen Gruppen nicht mit einem strukturellen Sexismus zu tun, der mit Programmatik eng verknüpft ist, wie sie Thomas vorhin angesprochen hat? Denn diese Idee, das Unmittelbarkeit möglich und anzustreben sei, ignoriert schließlich die Tatsache, dass unser Zugriff auf Realität nur ein durch Medien etc. vermittelter sein kann. Das Insistieren auf Unmittelbarkeit oder Expression setzt zudem das klassische (männliche) Künstlersubjekt voraus, das zu vermeintlich unmittelbaren oder expressiven Gesten in der Lage ist und sich über die Komplexität der Verhältnisse hinwegsetzt.

Baghramian: Es gab kürzlich eine Veranstaltung in Berlin, die "Klartext" hieß und im Künstlerhaus Bethanien stattfand. Sie war im Hinblick auf Gruppenbildung und Politikverständnis symptomatisch, und ich fragte mich, wie man derartige Missverständnisse weiterhin produzieren und die Diskussion um Gruppenbildung, politische Kunst, Politik und Kunst derart vereinfachen kann. Sobald künstlerische Arbeiten politische Ikonografien aufweisen, sollen sie schon politisch sein. Ich glaube auch nicht, dass Gruppenbildung an sich etwas Politisches in sich trägt - da regt sich stets mein Widerwille, auch aus meiner eigenen Erfahrung mit realpolitischen Gruppenbildungen heraus. Ich war tatsächlich sprachlos, als ich jetzt vor kurzem wieder in Bethanien saß. Wieso braucht man diese Art von Polarisierungen, wieso braucht man einerseits diese Ausnahmesubjektbildung, und setzt dann "Gruppenbildung" als politische Form dagegen?

Bohl: Ich habe den Eindruck, dass es diese Gruppen im Moment gar nicht mehr so stark gibt. "Maschenmode" hat sich ja zu einer wirklichen Galerie erst entwickelt, sich in ein Produkt verwandelt. Die starke gesellschaftliche Funktion, die damit verbunden war, besteht so nicht mehr. Ich sehe im Moment auch nicht, dass es einzelne klar zuzuordnende Gruppen gäbe. Das gilt auch für mich selber und meinen Zusammenhang, in dem ich mich bewege, in dem es kein gemeinsames Programm gibt, auch nicht unbedingt eine gemeinsame Ästhetik.

Graw: Bestimmte ästhetische Vorlieben werden auch nicht geteilt?

Bohl: Die gibt es bestimmt, aber die einzelnen Ansätze sind doch sehr unterschiedlich. Im Moment scheint mir die Situation eher offen zu sein, jedenfalls im Vergleich zu der Zeit vor zwei Jahren. Es gibt keine festen Orte mehr, auf die sich alle oder bestimmte Teilgruppen einigen würden.

Graw: Könnte man also den Befund einer friedlichen Koexistenz unterschiedlicher künstlerischer Entwürfe nebeneinander erheben? Gibt es keine symbolischen Kämpfe mehr? Falls dem so wäre, was steht dann eigentlich jeweils auf dem Spiel?

Flamm: Ich glaube nicht daran, dass man von Berlin weggehen muss, um Abstand von Berlin gewinnen zu können. Ich kann mir sehr gut für mich vorstellen, dass ich den Abstand auch innerhalb Berlins finde. Und wenn ich durch diesen gewonnenen Abstand einen neuen Blick auf vereinfachte Gruppierungen bekomme, dann werden Gemeinsamkeiten innerhalb dieser Gruppen auch wieder vorstellbar. Von Berlin ausgehend kann man sagen, dass hier zusammenzuleben und miteinander zu tun zu haben auf jeden Fall eine bestimmte Kraft hat. Diese Diagnose ist jedoch unvollständig - ich habe mir immer einen Zusammenhang gewünscht, der ortsungebunden wäre.

Groetz: Die Frage ist natürlich, inwieweit man sich mit einer Gruppe identifiziert. Ich habe es zum Beispiel hier in Berlin auch nicht nur mit einem sozialen Kontext zu tun. Wenn man selbst absolut auf einen sozialen Kontext angewiesen ist, um sich zu äußern und um ein Forum zu haben, ist das natürlich eine gefährliche Sache, weil diese Möglichkeiten mit der Veränderung des Kontextes zu Ende gehen. Andersrum ist es genauso schwierig, alleine zu existieren. Hier stellt sich die Frage, ob man ein wirkliches Subjekt ist, das frei ist und aus sich heraus agiert. Ist man nicht im Grunde sein eigener Kontext, aufgrund der verschiedenen Stimmen, die in einem sprechen, und aufgrund der verschiedenen Erfahrungen, die man macht? Diese Art Singularität oder Individualität existiert für mich in dem Sinne gar nicht. Soziale Kontexte sind auch immer gut dafür, um aufmerksam zu beobachten, ob man sich mit Ideen identifizieren möchte. Dann ist es aber auch einfach nur schön, mit Menschen zusammen zu sein, etwas zu teilen.

Graw: Sind diese sozialen Kontexte als Störfaktor für das Ego, als Kontingenzmaschinen zu betrachten? Stellen sie eine Möglichkeit dar, von sich selbst abzulenken?

Bohl: Das würde ich so sehen. Den Vorteil oder Wert von Berlin sehe ich darin, dass die Situation relativ offen ist. Über die neunziger Jahre in Köln wird ja historisierend oft gesagt, dass dort die Gruppe regierte, die eine eigene Sprache entwickelte, die sich aus dem Lokalen speiste. So etwas sehe ich in Berlin im Moment gar nicht. Vielleicht sieht es von außen anders aus. Für mich stellt es sich derzeit nicht so dar, dass an so komischen kleinen Systemen gearbeitet würde, die dann von außen kaum verständlich erscheinen.

Graw: Ist diese Offenheit real?

Baghramian: Die Situation ist auf jeden Fall - im Vergleich zu den neunziger Jahren - offener geworden. Damals legitimierte man sich über Negation gegenüber der Kunstwelt. In dieser Hinsicht gibt es schon eine Veränderung. Oder ist das nur meine Wahrnehmung?

Flamm: Also ich glaube schon, dass unheimlich viele Freundschaften innerhalb der letzten zwei Jahre beendet wurden. Ich kann mir auch vorstellen, dass sich viele Gruppen eher über Abgrenzung zu anderen, denn über bestimmte Eigenschaften oder Gemeinsamkeiten zueinander definieren wollen. Man sieht sich im Unterschied zu den Leuten, die man einschätzen kann, und das sind oft gerade jene, die einen im Privaten begleitet haben, was zu Verwerfungen führt. Innerhalb dieser phantomhaften Gruppen gibt es unterschiedliche Entwürfe von eigenen Moralitäten, so stelle ich es mir jedenfalls vor. Auch bestimmte Vorstellungen von Spaß und Rhetorik - eben nicht wirklich in erster Linie Inhalte.

Graw: Es gibt also ein Auseinanderfallen und vielleicht einen Zerfall loser Gruppenformationen zu beobachten - eine Art Vereinzelungstendenz?

Furler: Ich empfinde es eher umgekehrt, dass sich die Gruppen verfestigen. Wenn man die letzten fünf Jahre betrachtet, lässt sich eine Verfestigung der Gruppen feststellen und dadurch gehen vielleicht auch Freundschaften auseinander. Weil sich die Gruppen stärker abgrenzen wollen. Henning meinte vorhin, dass es keine Orte mehr gäbe, auf die man sich einigen würde. Das liegt, glaube ich, daran, dass sich die einzelnen Gruppen in sich zurückgezogen haben.

Bohl: Ich muss meine Rede von der Offenheit ein wenig korrigieren. Ich glaube schon, dass es so eine Art Nebeneinander-Existieren verschiedener Gruppierungen gibt. Es ist nicht so, dass alles ganz offen wäre und man sich mal für das eine und mal für das andere entscheiden könnte. Nur gibt es keine wirkliche programmatische Ausformulierung innerhalb dieser Gruppen, die ein einheitliches Bild abgeben würde.

Groetz: Eine Gruppe macht meiner Ansicht nach keinen Sinn, wenn es kein Ziel gibt. Das Soziale ist schön oder angenehm oder man fühlt sich wohl, aber das Tolle ist natürlich, wenn man in einem Zusammenhang mit Leuten gemeinsam eine Art Zuspitzung von etwas, aber nicht nur eines Lebensgefühls, erreichen kann. Um dies dann auch irgendwie zu dokumentieren. Diese Zeitschrift 'MEISE' - [5]. ist sicherlich ein Ergebnis davon. In ihr wird schon eine gewisse Richtung vorgegeben.

Bohl: Ich glaube, dass wir es mit einer Übergangssituation zu tun haben. Bestimmte Strukturen haben sich in ihrer Festigkeit aufgelöst, andererseits ist noch nicht ganz klar, welche Ziele die Gruppen jeweils formulieren. Ich nehme das sehr stark wie Nairy wahr, dass man auf die Grenzen dieser extremen Entwürfen gestoßen ist.

Flamm: Aber ein sehr wichtiger Punkt, der zu Gruppen führt, ist noch nicht richtig angesprochen worden, und das ist diese Erwartung von Auffüllung mit Mehrwert der eigenen Produktion. Diese Einbildung, dass ein mit mehreren Leuten geteilter Lebenswandel dazu führt, dass die eigene Produktion interessanter erscheint. Dieses Versprechen ist oft Initialzündung für ein Zusammenkommen jeder Art.

Graw: Die Gruppe wäre somit Karriereclub.

Baghramian: Ich finde dieses Flirten mit Gruppen- oder Subjektbegriffen extrem konstruiert. Wenn wir uns zum Beispiel die Geschichte der Konzeptkunst angucken - da gab es soziopolitische, geografische Hintergründe, die erklären, warum sie in dieser Dekade passierte. Alle zwei, drei Jahre wird zyklisch wieder über Gruppen oder Nicht-Gruppen in Berlin gesprochen. Ich habe als Künstlerin keine Lust, mit diesen Zuordnungen zu flirten, weil sie mir zu einfach erscheinen.

Graw: Bildende Künstler/innen haben sich traditionell Zuschreibungen und Etiketten - etwa dem der Minimal Art - verweigert, nach dem Motto: Darauf lässt sich meine Arbeit nicht reduzieren. So vereinfachend Gruppenlabel oder das Label "Berlin" auch sein mögen - man kann nicht so tun, als ließe sich künstlerische Produktion unabhängig von diesen Parametern angemessen verstehen. Zumal Zuschreibungen ja auf einem Anlass beruhen.

Baghramian: Diese Zuschreibungen sind ja auch nicht abzulehnen, sie haben durchaus Potenzial. Was ich daran kritisiere, ist vielmehr diese Spaltung in entweder heroisches Einzelsubjekt oder politischer Künstler. Und vor diese falsche Alternative möchte ich mich nicht gestellt sehen. Natürlich beeinflusst meine soziale Tätigkeit, mein sozialer Kontakt auch meine Arbeit, das kann ja gar nicht anders sein.

Flamm: Mir ist es immer so vorgekommen, dass die gemeinsamen Ziele der Kunstgruppen in Berlin im Unterschied zu Einzelpositionen sehr vage sind.

Bohl: Gleichwohl findet eine Auseinandersetzung statt, die in die Ateliers hineingetragen wird. Das Atelier ist ja nicht ein Ort, wo unabhängig von äußeren Dingen gearbeitet würde.

Groetz: Die Frage ist eben: Was ist wirklich das Selbst? Das, was man als Selbst oder als seine Individualität betrachtet, ist sowieso das Produkt von etwas Sozialem. Die Frage ist, ob das erstrebenswert ist oder ob darin nicht auch eine gewisse Tragik liegt. Das heißt, dass dieses Soziale, das in mich einströmt, im Grunde das ist, was mich womöglich völlig zuschüttet. Bin ich an einer inneren Entwicklung interessiert und möchte ich dafür womöglich meinen sozialen Kontext verwenden?

Graw: Das klingt jetzt sehr instrumentell, so als würde man das Soziale zu Produktivitätszwecken gezielt nutzen. In Wahrheit sucht man sich seinen Freundeskreis ebenso wenig "gezielt" aus, wie man auch nicht ganz zufällig in ihn hineingerät. Es gibt schon Gründe, warum man sich mit jemandem versteht.

Groetz: Nur wenige suchen bewusst Kontakt mit etwas, das sie selber innerlich herausfordert oder infrage stellt. Obwohl das eigentlich sinnvoller für die eigene Entwicklung wäre. Es gibt wenige Systeme, auch in Gruppen, die das befördern. Man könnte sagen, dass bestimmte Gruppierungen, auch historisch, wie man in der Kunstgeschichte sehen kann, am effektivsten waren, wenn sich das Individuum eben nicht sicher und geborgen und aufgehoben fühlte, sondern extrem aufmerksam sein musste. Weil man vielleicht schnell aus der Gruppe wieder herausgeschmissen wird, wie bei den Surrealisten und danach bei den Situationisten und so weiter.

Graw: Diese Gruppen funktionieren über Ausschluss, der sich zwar in jedem Fall erklären lässt, aber auch aus den willkürlichen Entscheidungen eines "Führers" resultiert. Dieser Gruppentypus hat sich zwar als ausgesprochen produktiv erwiesen, geht aber mit einer strukturellen Gewalt einher, die aus heutiger Sicht nicht unbedingt erstrebenswert erscheint.

Bohl: Heute gibt es diese manifestartigen Programmatiken nicht mehr. Zwar wird auch innerhalb eines Freundeskreises durchaus kritisch beobachtet, was der andere tut. Gegenüber meinen Freunden fühle ich mich nicht unbedingt auf der sicheren Seite. Das gefällt mir aber auch. Man bildet schon eine Art von Gruppe, nur ist es nicht so, dass man eine gemeinsame Position hätte oder dass es keine Unterschiede gäbe. Natürlich gibt es zahlreiche Gemeinsamkeiten, aber eben auch sehr große Unterschiede innerhalb der Auffassungen in einer Gruppe. Es ist eher ein freundschaftliches Sich-Begleiten, ich habe ein Interesse an den anderen Herangehensweisen von Freunden.

Furler: Ich glaube auch, dass Kritik innerhalb der Gruppe bestimmt stattfindet. Was so eine Gruppe ausmacht, ist, man hofft es zumindest, dass die anderen in der Gruppierung nach außen hin bedingungslos verteidigt werden.

Bohl: Man protegiert sich gegenseitig, tritt als Fürsprecher der anderen auf, weil man ihre Arbeit einfach interessant findet, auch wenn sie von der eigenen Position abweicht. Dadurch kann auch so eine Entspanntheit entstehen, die man sich alleine nicht vorstellen kann. Eine Kritik aus der Gruppe kann aber auch viel mehr treffen, als eine Kritik von jemandem, der sowieso aus einer anderen Ecke kommt.

Flamm: Ich kann mir streng abgesteckte Gruppen in der Wirklichkeit nicht vorstellen. Meine Vorstellung von Gruppe, falls ich denn Teil von einer sein sollte, was ich hoffe, ist eine offene Sache, die weder an einen Ort, noch an Alter gebunden ist. Eher schon an Interessen, Wissen oder Vorstellungen von Schönheit.

Graw: Wenn man einen Schönheitsbegriff teilt, kommt das doch einer Programmatik gleich.

Flamm: Man könnte es mit Freundeskreisen vergleichen.

Bohl: Die ja auch nicht an eine Stadt gebunden sein müssen. Ich bin aus ähnlichen Gründen mit Leuten aus verschiedenen Städten befreundet oder an ihnen interessiert. Das beschränkt sich nicht nur auf Berlin.

Graw: Wir alle werden jedoch mit dem Label "Berlin" identifiziert, ein Mehrwert, der unseren Arbeiten sozusagen anhaftet.

Flamm: Diese ganze Berlin-Zuschreibung ist doch eine ganz klare Kunstmarkt-Perspektive.

Graw: Nur ist dieser Kunstmarkt nicht außerhalb von uns.

Flamm: Ja, aber man kann sich doch anstrengen, bitte, dem ein bisschen was entgegenzusetzen.

Bohl: Das Berlin-Label ist eine Verkaufssache, die dafür sorgt, dass Produkte zugeordnet werden können. Neben allen Gemeinsamkeiten zwischen Michaela Meise, Sergej Jensen und mir sehe ich trotzdem enorme Unterschiede in der Grundhaltung.

Groetz: Dann schließt sich im Grunde wieder der Kreis. Die Frage ist ja, ob es eine wirkliche Verbundenheit auf einer kulturellen Ebene gibt oder nicht? Man kann das dann immer wieder alles auseinander fleddern, aber ich finde es interessanter, wirklich darüber zu sprechen, ob man die Punkte benennen kann, wo man etwas mit anderen Leuten teilt, die im künstlerischen oder kulturellen Feld arbeiten. Für mich wären das Themen wie ein gesteigertes Menschenbild, Existenzielles und die Bedeutung von Geschichte, die man gemeinsam zuspitzen und erforschen kann. Eine gewisse Art von Fortschritt und innerer Entwicklung ist nur mithilfe anderer Menschen möglich. Vorausgesetzt, jeder hat für sich ein Ziel, und es gibt ein gemeinsames Ziel, das nicht aus dem Auge verloren wird.

Baghramian: Da würde ich dir zustimmen, sonst würde ich ja nach Nürnberg oder Hannover ziehen und dort leben. Ich glaube, dass ist wirklich eine Entscheidung, hier zu leben, weil ich nah dran bin, weil ich daran teilhaben kann.

Groetz: Aber wo möchtest du nah dran sein? Ist es eine besondere Ästhetik oder eine gewisse Lebenseinstellung?

Baghramian: Berlin lässt Ambivalenz und Fragilitäten und subtile Auseinandersetzungen zu. Auch das kann exzessiv sein, aber es ist nicht eine dogmatische Haltung, die das eine oder das andere verbietet. Diese Zulässigkeit schätze ich. Auch was linke Politik betrifft, dafür gibt es hier einen Boden und Orte - keine festen Gruppierungen.

Groetz: Ich sehe in meinem Fall schon eine gewisse Grundtendenz, und die hat mit einer Übersteigerung und mit Expressivität zu tun, die sich bewusst oder unbewusst gegen bestimmte Vorstellungen auflehnt - die mit Postmoderne und Distanz zu tun hatten. Das ist für mich die Richtung, die bisher nie klar formuliert worden ist. Aber ich würde sie in etwa so formulieren.

Bohl: Ich kann in Abgrenzung dazu genau das Gegenteil behaupten. Ich bin absolut nicht an Expressivität interessiert, vielmehr an einer Künstlichkeit. Ich weiß gar nicht, ob ich da für die Gruppe sprechen könnte, der ich zugewiesen werde. Es finden kaum Gespräche darüber statt.

Graw: Bestimmte "Essentials" werden in Freundes-Künstlerkreisen ja vorausgesetzt und nicht ständig verhandelt, oder?

Flamm: Ich kann diesen Traum von Vereinfachung und Kanonisierung mit anderen nicht teilen, weil ich ihn nicht lebe und dadurch auch nicht wirklich formulieren könnte. Ich könnte höchstens als gemeinsamen Nenner ein großes Interesse für Menschlichkeit bestimmen oder auch ein großes Desinteresse an Expressivität. Ich habe Erwartungen an eine Wirklichkeit, die durchaus innerhalb von Kunst stattfinden muss, aber meine Wirklichkeit findet wesentlich außerhalb von Kunst statt - die geklärt sein muss und in der es möglichst gerecht zugeht.

Graw: Bestimmte ethische Grundvereinbarungen, wie zum Beispiel die, nicht mit sexistischen oder rassistischen Stereotypen zu kokettieren?

Flamm: Ja. Ich will nicht mit Gegenargumenten gegen politische Korrektheit leben, die mit der Unterstellung von "Spaßfeindlichkeit" operieren.

Bohl: Politische Überlegungen spielen für mich auch eine Rolle, es ist mir wichtig, dass man es sich in seiner Position nicht zu bequem macht, dass man sich immer wieder solche Fragen stellt und seine eigene Haltung zu korrigieren sucht. Aber eben ohne dies zwanghaft in Ästhetiken oder Inhaltlichkeiten oder eben Illustration eines politischen Willens umkippen zu lassen. Die Darstellung politischer Inhalte ist noch kein politischer Akt. Eine solche Haltung zeichnet vielleicht auch die Gruppe aus, in der ich mich wie auch immer lose bewege. Kunst - wie wir sie jetzt alle machen - spielt einer bürgerlichen Kunstauffassung zu. So wie wir jetzt Kunst produzieren, kann es nur in diesem System funktionieren, auch wenn Kunst kritische Aufgaben übernimmt.

Graw: Wir arbeiten also alle einem idealistischen Kunstbegriff zu, speziell dann, wenn wir ihn infrage stellen. Gibt es nicht die Möglichkeit, diesen Glauben an die Kunst oder an eine aus Berlin kommende Kunst zu zerschlagen, statt ihn weiter zu beliefern, mit kritisch abweichenden oder interessantistischen Angeboten?

Flamm: Ich glaube schon, dass man gegen unfreiwillige Zuschreibungen etwas tun kann. Indem man sich zum Beispiel bestimmter Dinge enthält oder sich dafür entscheidet, an ganz anderen Punkten aufzutauchen als dort, wo man vermutet wird. Und neben der Kunstproduktion gibt es ja im Übrigen auch noch die verschiedenartigsten anderen Produktionen, denen man sich genauso widmen kann.

Graw: Obwohl diese anderen Produktionen von außen gesehen die Attraktion noch erhöhen. Gerade die Betätigung von Künstlern als DJs wirkt sich positiv auf ihren Status aus, macht sie noch interessanter. Auch solche Kompetenzerweiterung vermögen idealistische Kunstauffassungen nicht zu stören.

Flamm: Natürlich gibt es immer die Tendenz, daraus einen Mehrwert zu machen, aber man kann sich auch dafür entscheiden, sich offiziell oder offensichtlich einer Sache zu widmen, aber das eigentliche Interesse in eine andere zu verlegen.

Bohl: Das würde ja auch bedeuten, man müsste die ganze Sache hinschmeißen, weil man die Widersprüchlichkeiten nicht aushalten kann oder aushalten will. Geht es nicht eher darum, selbst überhaupt handlungsfähig zu bleiben, auch wenn es Zuschreibungen gibt, egal, in welche Richtung man sich bewegt. Wenn man sich unabhängig von solchen Zuschreibungen macht, können sie zwar weiterhin gemacht werden, aber ob sie zutreffend sind, ist dann eine andere Frage.

Graw: Du meinst, dass das Individuum die Möglichkeit hat, derartige Zuschreibungen zu unterlaufen, sie in die Irre zu führen?

Groetz: Wenn man es geschafft hat, ein wirkliches Individuum zu sein, dann ist es ganz egal, welche Zuschreibungen auf einen fallen. Dann ist das nicht mehr das Wesentliche und der Widerspruch entsteht auch nicht. Dieser Widerspruch entsteht doch nur, wenn man sich innerlich nicht wirklich sicher ist.

Bohl: Ich glaube vielmehr, dass Unsicherheit und Nicht-Festlegung auf einen bestimmten Entwurf das Gegenmittel sein müsste, mit dem sich einer Festschreibung begegnen lässt. Man kann schließlich auch mit Desinteresse arbeiten, sich schlicht nicht dafür interessieren, was auf einen projiziert wird.

Anmerkungen

[1]"Maschenmode" heißt heute Galerie Guido W. Baudach. Ende 1999 wurde der Projektraum "Maschenmode" von Guido W. Baudach, Martin Germann und Peter K. Koch auf der Torstraße, Ecke Chausseestraße in Berlin-Mitte in einem ehemaligen Ostberliner Strickmodengeschäft gegründet. Im letzten Sommer wurden größere Räume in der Oudenarder Straße in Berlin-Wedding bezogen.
[2]Die Gruppe hobbypopMUSEUM wurde 1998 von einer Gruppe von Maler/innen in Düsseldorf (mit Mitgliedern aus London) gegründet und bedient sich verschiedenster Medien. Diese in "Settings" kombinierten und als Vermittlungsmedien verstandenen Arbeiten befragen situationsspezifisch das Konzept Ausstellung. In wechselnder Zusammensetzung existiert hoppypopMUSEUM bis heute.
[3]Akademie Isotrop wurde 1996 in Hamburg von einer etwa zwanzig junge Künstler/innen umfassenden Gruppe gegründet. Als Antwort auf die Praktiken etablierter Ausbildungsinstitutionen entwickelten sie ihr eigenes Curriculum, für das bestimmte Aktivitäten charakteristisch waren: Gegenseitige Korrektur, Vorträge und Performances von Mitgliedern und eingeladenen Gästen, Einzel- und Gruppenausstellungen in einer selbst organisierten Galerie, die Herausgabe einer Zeitschrift. Existierte unter diesem Namen bis 1999.
[4]Der von Thomas Zipp konzipierte und gemeinsam mit Guido W. Baudach betriebene Künstlertreff "Dirt" wurde Ende November 2000 in direkter Nachbarschaft zur "Maschenmode" eröffnet, einer ehemaligen Fahrschule. Das "Dirt" war unter anderem zur Finanzierung des Ausstellungsbetriebs gedacht und blieb bis Mai 2001 geöffnet.
[5]Die Zeitschrift 'MEISE', jährlich erscheinend im Berliner Verlag Heckler und Koch, entstand aus dem Kontext der Galerie "Maschenmode". Für die zwei bisherigen Ausgaben wurden "Amerika" (Oktober 2003) und "Der Europakrieg" (September 2004) als thematische Schwerpunkte gewählt – daneben gab es Beiträge zu Kunst und Literatur sowie Kochrezepte.