Gesprächsweise Zu einem Buch von Daniel Arasse
Wie viel ist Betrachter/innen zuzutrauen? Die deutsche Ausgabe von Daniel Arasses "On n'y voit rien. Descriptions" markiert die Extreme: alles und nichts. Während der Text intellektuell höchst anregende Bildanalysen mit kritischer Methodenreflexion und wissenschaftlicher Selbstpositionierung verbindet, verweist einen die irreführende Aufmachung in die Kinderbuchabteilung - so tatsächlich in einem Berliner Museumsshop gesehen. Dieser Übertragungsfehler konterkariert Arasses Bemühen, mit seinen "Descriptions" auch über die Kunstwissenschaft hinaus ein erweitertes, flexibles und vor allem auch mündiges Betrachter/innenmodell anzubieten. "On n'y voit rien. Descriptions", das 2000 erschienene und in unglücklich machender deutscher Übersetzung "Guck doch mal hin!" betitelte Buch des französischen Kunsthistorikers Daniel Arasse ist nicht primär eines über die Rolle des Betrachters innerhalb des Prozesses der Bildkonstituierung. Es versucht, über das "Nacherleben" interpretatorischer Höhenflüge von außen an ausgewählte Meisterwerke heranzuführen. Damit liegt ihm grundsätzlich ein anderes theoretisches Konzept zugrunde als den Forschungen etwa Wolfgang Kemps, dessen rezeptionsästhetische Studien in den achtziger und frühen neunziger Jahren die werkimmanente Betrachterposition als kategoriale Größe der Kunstproduktion betonten und als methodische Referenz der Kunstwissenschaft etablierten. Arasse setzt bereits selbstverständlich diese mehr oder weniger abstrakte interne Figur, als die sich jede/r reale externe Betrachter/in entdecken kann, voraus. Er schließt aber zugleich auch an ältere Modelle ekphrastischer Analyse an.
Das Buch, im Original ein zierliches Taschenbuch mit einem schwarzweiß gehaltenen, spärlichen Abbildungsteil, beinhaltet fünf Studien zu Gemälden des 15. bis 17. Jahrhunderts, [1] in denen der Autor eine ziemlich konkrete Vorstellung von einer Authentizität des Betrachtens entwickelt - diese ist allerdings trotz eindeutiger Hauptautorschaft Arasses interessanterweise als eine dialogische gedacht. Immer wieder legt er offen, wie er aus der Selbstbeobachtung und der Kommunikation mit realen wie fiktiven Gesprächspartner/innen - seien es solche, die Profession und/oder solche, die Passion zum Schauen anhält - überhaupt zu seinen Ergebnissen kommt. Wie kommt eine kunsthistorische Betrachtung zustande, wie läuft sie ab, wie kann sie schließlich doch zu einer geteilten Lektüre und zum geschriebenen Text werden? Arasse versucht, diese Vorgänge als Ergebnisse einer gemeinsam erinnerten Beobachtung zu vermitteln. Damit etabliert er eine Kategorie kunstbezogener Erkenntnis, die bei der Genese kunsthistorischer Texte selten reflektiert wird: dass es eigentlich immer zuerst das Gespräch gibt, das ansonsten zumeist in den "Without-whoms" der Fußnoten und Vorwörter versinkt.
Arasse inszeniert im Prinzip die intimere Form eines platonischen Gastmahls, aber das eben mit dem ganzen Witz und der ganzen Kritikfähigkeit eines Renaissancekenners - keinesfalls eines angestaubten "Kenners und Könners". So lässt sich der Witz, den er in den alten Meistern wiederfindet, durchaus und nicht ohne Vergnügen mit seinem eigenen ins Verhältnis setzen, wodurch auch die Grenze von Ernsthaftigkeit und Humorlosigkeit im wissenschaftlichen Schreiben adressierbar wird.
Das Dialogprinzip macht der Autor greifbar, indem er divergierende methodische Ansätze in seinen Gesprächspartner/innen gleichsam personifiziert, etwa durch namentliche Nennung eines konkreten Kollegen, der für eine bestimmte Forschungsrichtung steht oder durch plastische Skizzierung des Gegenübers, die sich ex negativo aus seiner Argumentation ergibt. So spielt er meh- rere Kategorien von Zuhörer/innen oder Widerredner/innen in unterschiedlichen Verhältnissen durch, weshalb sich die Figur des Betrachters/Lesers immer wieder wandelt. Dabei wird einmal mehr explizit, dass man kaum einmal nur über seinen Gegenstand, sondern immer auch mit oder gegen andere Autor/innen denkt und argumen-tiert, in ständiger Auseinandersetzung mit deren Thesen.
Den Text durchzieht konsequent ein Wechselspiel zwischen authentischer Beschreibung - das Buch heißt im Original ja auch "Descriptions" - und einem Wissensdisplay mit Verweisen auf kunst- und kulturwissenschaftliche Forschungen. Mit solchen Zitaten markiert Arasse Zäsuren, die sich als Störsignale in die Fiktion des Gesprächs mischen und die Konstruiertheit der Situation betonen. Denn letztlich geht es um die Idealität solcher Dialogprinzipien oder solcher Schreibweisen überhaupt; [2] ebenso aber auch um deren Abgrenzung voneinander - und natürlich auch darum, die passenden Gemälde zu finden, die eventuell dem realen Gespräch zugrunde lagen und/oder dem fiktiven zugrunde liegen sollten. Damit wären die Ergebnisse des Interpreten nicht nur aus den Bildern hergeleitet und entsprechend deren raisons mental gedeutet, sondern sie wären auch dem Temperament der Gesprächspartner und den Erfahrungen als Sprechender und Zuhörer geschuldet. Letztlich will es so scheinen, als hätte Arasse, grundsätzlich ein sehr dialogischer Wissenschaftler, der auch häufig mit anderen publizierte, einen entscheidenden Wesenszug seines Arbeitens auf-gegriffen und mit diesem Buch dessen Exemplifikation versucht.
Das Gelungene daran lenkt von den schwachen Seiten ab. Deren offensichtlichste hat allerdings nicht Arasse zu verantworten. Dem deutschen Verlag ist das Kunststück gelungen, das Buch in das wahrscheinlich hässlichste und zugleich verniedlichendste Cover zu packen, das zurzeit auf dem Buchmarkt zu haben ist. Das hat geradezu Methode. Die totale Geschmacklosigkeit konstruiert sich, wie so vieles in den Museumsshops, ihr "lowest common denominator"-Publikum selbst: Eine so auffällige Differenz mag sich neben einem gehörigen Maß an Ignoranz auch einer divergenten populären Bildbeschreibungs- und Betrachtungskultur in Frankreich und auch Italien verdanken, wo Autoren wie Roberto Zapperi oder Federico Zeri, Salvatore Settis oder Carlo Ginzburg auf hohem Niveau auch "populär" geschrieben haben, ohne dass sich ein Bildungsdünkel eine Abbildungsfläche verschafft hätte. Übersetzungen ins Deutsche hat es gegeben, allerdings nur begrenzt erfolgreich, vielleicht, weil es hierzulande kaum eine entsprechende Rezeptionshaltung gibt. Dieses Defizit trifft auch das vorliegende Buch, das vom deutschen Verlag demonstrativ auf Popularitätstauglichkeit hin getrimmt wird. Schon allein die Wandlung vom mehrdeutigen "Man sieht nichts" zum Kindergartenmotto "Guck doch mal hin" spricht für sich. Die Irritation über diese grafischen wie inhaltlichen Modifikationen ist eine des Lesers, sie gründet sich aber auf eine andere, die vielleicht auch die des Verlags war - eben die Frage nach dem idealen Publikum der Publikation. Zweifellos ist der Text allemal faktenreich, von hoher argumentativer Klarheit und so nahe am Objekt entwickelt, dass auch der/die Nicht-Kunsthistoriker/in seine/ihre Anregungen daraus ziehen, vieles mit Arasse entdecken und über manche Stellen vielleicht hinweglesen wird. Dennoch kann man wohl kaum von einem populärwissenschaftlichen Buch sprechen, geht es doch beständig auch um Methodenkritik, um Reflexionen über die "Leistungsfähigkeit" der Kunstwissenschaft und um ziemlich heftige Positionierungsfragen innerhalb des Systems - und das größtenteils mit einem nicht geringen Maß an ironischen Anspielungen.
Die Aufmachung der deutschsprachigen Ausgabe kann jedoch getrost als Indikator genommen werden für das Maß an Intelligenz und Geduld, für die Lesefreudigkeit und die -gewohnheiten, die man im deutschen Sprachraum den Leser/innen zutraut. Eine solche verlegerische Praxis schreibt das Bild eines Konsumenten fest, der geführt werden muss - und damit ist ganz sicher keine Anleitung nach Arasse'schem Modell gemeint, der wohl eher mit gut gezielten Impulsen Gedanken freizusetzen hoffte - mehr Vergil und Dante als Gouvernante.
Die Perpetuierung einer Unmündigkeit des Betrachters aber konterkariert den Inhalt des Buches, in dem gerade der Betrachter zur zentralen Instanz wird und analog zu seiner Qualität hinsichtlich der Setzung des Bildes auf anderer Ebene (auch auf anderer Ebene als in der Literatur) den Text konstitutiert - nämlich ganz und gar nicht implizit. Das Selbstbewusstsein des Lesers als Mitbegründer des Textes wie als mündiger Betrachter wird in der originalen Ausgabe zudem durch das Format des Buches konfirmiert, ein kleines Taschenbuch, das wohl eher als transportables Arbeitsgerät gedacht werden kann und einen schon aufgrund der wenigen und schlechten Abbildungen vor die Originale drängt, wenn man's genau wissen will.
Der DuMont-Prachtband hingegen verstärkt den im Text angelegten Aspekt des Meisterlichen und damit auch einen porösen Aspekt im Arasse'schen Dialog-Modell des Ideenstreichhölzeranzündens und -verlöschens: Wie könnte nämlich ein adäquater Versuch aussehen, der etwa zeitgenössische Kunst zu seinem Gegenstand machte oder Werke von so genannten drittklassigen Meistern - wenn also eine gewisse Ebene von Altmeisterschaft verlassen würde, auf der man von an Hochkultur geschultem Publikum ausgehen kann.
Für das methodische Konzept des Buches könnten solche Versuche letztlich produktiver sein und an den Stellen, an denen der Text gelegentlich seine Argumentation mit gespielter Naivität einführt, ist darin eine bestimmte Idealität der Vorurteils- und Voraussetzungsfreiheit in der Annäherung angelegt - kokett, versteht sich, weil diese Freiheit letztlich auch nur Fiktion bleiben kann. Durch das wie en passant vorgeführte Jonglieren mit kultur- und kunstwissenschaftlichem Wissen setzt der Kunsthistoriker seinen gesamten - durchaus bildungsbürgerliche Bedürfnisse befriedigenden - Background spannungsreich gegen das vermeintlich spontane Herangehen der Betrachtung. Diese bleibt zudem Gemälden vorbehalten und damit auf das Exemplum gelehrter Kunstbetrachtung schlechthin beschränkt. Zugleich wird eindeutig ersichtlich, dass Arasse damit sicher keinen Kanon vorgeben will, sondern paradigmatische Werke für Probleme heranzieht, an denen er sich sein Kunsthistorikerleben lang abgearbeitet hat.
Es geht nicht um "die" Kunst, es geht nicht mal um "die" Malerei und ihre spezifische Textualität; es geht um einen sehr persönlichen Fragenkatalog und dessen Exemplifizierung. Der Autor steht mit seiner Auswahl unweigerlich in der Tradition einer bestimmten Form der Kunstbetrachtung, die sich von der Zusammenstellung imaginärer Galerien in neuzeitlicher Traktatliteratur herleiten lässt. Dennoch bleiben dies die Nebentexte des Buches. Der Haupttext widmet sich ganz der Ablöse des monadischen Betrachtermodells. Bei aller Gelehrtheit lässt er Nischen für eine nicht institutionalisierte Wissenschaftlichkeit, für Wissensdurst geradezu und für enthusiastische sinnliche Erfahrung - kurz: Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Mann Spaß an seiner Arbeit hatte. Das begeistert zugegebenermaßen, schlägt aber an jenen Stellen um, wo es zu genießerisch und lebemannmäßig rüberkommt, wo mit gewisser Süffisanz der voyeuristische Aspekt der Betrachtung inszeniert wird: wo es fast verschämt durch den Text durchklingt, dass das Leitbild der Kunstbetrachtung doch irgendwie das Frauenbild ist - und somit auch ein Superinstrument der Kunstgeschichte. Freilich ist die Setzung der Frau als idealer Gegenstand der Malerei eine ebenso traditionsreiche wie Besitz ergreifende Geste. Wenn Arasse seinen intellektuellen Eros nun hauptsächlich an der Inszenierung von Weiblichkeitsbildern vorführt, setzt er damit gewissermaßen am trivialsten Punkt der Kunstbetrachtung an und dabei zugleich seine teilweise ganz intensive Selbsthinterfragung aus.
Im Text zu Tizians "Venus von Urbino" gibt er den Voyeurismus des Betrachters zwar durchaus der Lächerlichkeit preis, doch wird seine eigene Distanz kaum einmal greifbar. Zudem hat er in seinem "Gesprächspartner" Charles Hope auch einen leichten Gegner, denn dieser ist nicht nur ein idealtypischer negativer männlicher Betrachter, sondern auch noch zufälligerweise ein Kunsthistoriker, der ziemlich (gender)theorieresistent seit Jahren an seiner Klassifizierung dieses Akts als idealem Pin-up festhält. Die Ignoranz gegenüber der eigenen geschlechtlichen Kodierung des Blicks gehört durchaus zu den Konventionen paternalistischer Kunstgeschichtsschreibung, der sich offenbar auch Arasse nicht ganz entziehen konnte, so sehr ihm sein brillantes diskursives Modell die Gelegenheit dazu geboten hätte. Trotz seiner blinden Flecken auf geschlechterkonstruktivistischer Ebene im Bild und im Betrachten bleibt seine große Leistung, dass er den Betrachter/die Betrachterin als flexible Kategorie versteht und einführt. Die Kunstgeschichte hat selbigen/selbige als werkimmanente Größe, wie schon gesagt, ohnehin erst vor nicht allzu langer Zeit und mit einiger Verspätung gewonnen, und nun ist dieser rezeptionsästhetische Aspekt seine/ihre zentrale Qualität schlechthin. Arasse aber überholt diese Definition, weicht sie auf, und fügt der Werkbezogenheit die Dimension der Diskussion und deren Verschriftlichung auf anderer Ebene hinzu. Dieses Aufbrechen der Vereinzelung, die Betonung der Vielstimmigkeit als Grundlage von Diskursivierung ist die eindeutige Leistung seines Textes, selbst wenn darin die rückwärtsgewandte Sehnsucht nach Authentizität mitschwingt - die nun per se ja nichts Schlechtes ist.
Anmerkungen
[1] | Diese widmen sich Tintorettos "Venus, Mars und Vulkan" (um 1550), einer Verkündigung von Francesco del Cossa (1470/72), Brueghels "Anbetung der Könige" (1564), Tizians "Venus von Urbino" (1538) und "Las Meninas" (1656) von Velázquez. Ein weiterer Text, "Magdalenas Schamhaar", untersucht die Fusionierung verschiedener Frauengestalten aus biblischen bzw. hagiografischen Überlieferungen in der idealtypischen Gestalt Maria Magdalenas. |
[2] | Nicht unwahrscheinlich, dass Arasses Projekt unter dem Eindruck von Louis Marin, einem nicht minder kommunikationsfreudigen Wissenschaftler entstand und letztlich damit auch als Antwort an ihn gedacht war. Besonders wäre hier an dessen Schrift "De l'Entretien" (1997), dt. "Über das Kunstgespräch", Berlin 2001, zu denken. |