Vorwort
„The Dictatorship of the Viewer" diesen presseweit begierig aufgegriffenen Untertitel gab Francesco Bonami, Leiter der 2003er Biennale von Venedig, seiner Großausstellung mit dem Titel „Dreams and Conflicts". Sein nach postkommunistischer Ideologie-Battle klingender Befund einer „Diktatur des Betrachters", ausgeführt im Rahmen eines schlanken Vorworts, ging von einem allgemeinen Phänomen der „Großausstellung" aus. Was mag er wohl damit gemeint haben, lieferte seine Beschreibung doch immerhin den Fond einer der größten der internationalen Großausstellungen? „Ausstellungen mit zeitgenössischer Kunst haben sich weit über das Fassungsvermögen des Betrachters ausgedehnt, da sie sich zu soziologischen, anthropologischen und kulturellen Thesenwerken umgeformt haben. Die Idee des Plateaus der Menschlichkeit', vorgeführt von Szeemann, hat die Wirklichkeit einer zum Spektakel gewordenen Welt wiedergegeben. In diesem Zusammenhang haben die Betrachter ihre Individualität eingebüßt und sind zu Fragmenten eines amorphen Gebildes geworden, das ,Publikum' genannt wird. Der Blick des Betrachters wurde durch die spektakuläre Wirkungsmacht des Kunstwerks, die mehr und mehr auf seinem Maßstab und seinem Zeitcharakter beruhte, gebrochen oder sogar erniedrigt; der Maßstab wurde bei monumentalen Skulpturen, die Zeit bei Video- oder Filmproduktionen wichtig, die eine ähnliche Aufmerksamkeit forderten wie Spielfilme oder längere Dokumentarfilme." Diese Zurichtung derAufmerksamkeit, so Bonami weiter, habe unweigerlich auch eine Reihe von bösen Folgen für die Betrachter/innen: „Das rhythmische Erleben des Betrachters wurde durch den Zeitrahmen und die Größenverhältnisse der Schauen bestimmt. Das Auge des Betrachters verließ sich nicht auf seine Einbildungskraft, sondern auf das Verhältnis von Zeit und Raummaßstab bei den verschiedenen gezeigten Kunstwerken. Der Kontrolle über ihre Füße enthoben, schwebten die Betrachter durch die Atmosphäre des Ausstellungsthemas. " Demgegenüber wurde dann für die Biennale angekündigt, sie sei ein „Versuch, die Betrachter wieder den Boden unter den Füßen spüren zu lassen". Man mag das als den üblichen Mehrwert-Speak des „exhibitionary complex" abtun oder einfach für eine abgesackte Aufklärungsrhetorik halten. Aber geht man beim Autor nicht von einer schieren Lust Selbstwiderspruch aus, dann hat man sich hier vielleicht zu vergegenwärtigen, dass seine Spektakelkritik in medio paradisi, inmitten der schlechten Unendlichkeit einer Multimillionen-Biennale formuliert wurde.
Uns interessiert hier die ebenso zwiespältige Rolle, die dort wie anderswo der „Figur des Betrachters" zugemessen wird. Sprechend ist immer wieder die Verwendung von Singular (Betrachter/in, meistens: der Betrachter) oder Plural (Betrachter/innen) : Sie deutet den Zuständigkeitsbereich des jeweils gemeinten Subjektdiskurses an, Singular meist für die ästhetischen Feinheiten, Plural fürs Grobe, wenn eigentlich das zahlende Publikum gemeint ist.
Weit davon entfernt, sich über einen solchen Reflex erheben zu wollen, interessierte uns doch der Stellenwert, der zurzeit Betrachter/innen (oder ihren einsamen Subjektivitäten) in ästhetischen, politischen und ökonomischen Feldern des Kunstbetriebs zugedacht wird. Andere Unterscheidungen werden getroffen, wenn es um Betrachter als Zuschauer, Beobachter, Zeugen, Ausstellungsbesucher geht.
Nicht erst seit Bücher wie Georg Francks „Ökonomie der Aufmerksamkeit" ( 1998) recht gut in die Alltagssprache eingegliedert sind, die sich mit der These hervorgetan haben, man könne die Aufmerksamkeit der Betrachtenden im Sinne einer „neuen Währung" verstehen, ist die Figur eine der Ökonomie. Betrachter, das sind jene Konsumenten, deren Verhalten prägend für die immateriellen Ökonomien des Neoliberalismus geworden ist. Sie warten zwar geduldig in den Blockbuster-Schlangen der MoMAs und „Blauen Reiter", ganz materiell, mit den Füßen auf dem Boden, sie essen, trinken und haben Teil an Merchandising, aber ihre eigentliche Leistung ist eine kostbare Immaterie, eine flüchtige Substanz, die ausgedehnte Bereitschaft, sich mit Kulturevents zu konfrontieren und zu identifizieren. Betrachtet man in umgekehrter Richtung andere, kunstbezogene Veröffentlichungen Francks, dann zeigt sich hier unmissverständlich ein Interesse an einer Spiritualisierung der Ökonomie durch das vermittelnde Element des Kunstkonsums.
Planungsgruppen von Großausstellungen und repräsentativen Geschichtsorten legen ihrer Arbeit ein sehr simples Modell der Lern-, Erfahrungs- und Wissensstruktur ihrer Betrachter/innen zugrunde. Die Optimierung ihrer Kommunikationsleistungen operiert entweder auf der pessimistischen Grundlage superschmaler Aufmerksamkeitsspannen oder auf der einer bedenkenlosen Zumutung von „Aufmerksamkeitsverbrauch" — oft im Sinne dessen, was auch Bonami zitiert, aber selbst in keiner Weise im Wirkungsfeld einer Kritik erkennt.
In den Kalkulationen der Kulturverwaltungen und der Eventorganisatoren werden — wie die Zuschauerquoten beim Fernsehen — wie im gesamten internationalen Ausstellungsbetrieb Besucherzahlen rhetorisch als absolute Gradmesser für ökonomischen Erfolg — und damit auch für allgemeinen Erfolg eingesetzt. Und das, obwohl im Falle von Kunstmuseen statistische Studien das Gegenteil nachweisen können müssten: Demnach brächten Ausstellungsbesucher/innen nicht nur Gewinn, jede/r Einzelne verursacht bei der aktuellen Mischfinanzierung der Museen auch Kosten. Bekannt ist das Bild der subventionierten Betrachter/innenplätze, mit denen jedes Theater kalkUIieren muss. Trotz dieses Sachverhalts bemessen sich Fördersummen nach wie vor anhand eines solchen Besucherzahlen-Index. Aber auch darüber hinaus erscheinen Betrachter/innen als statistisch vermessene Prototyp-Konsument/innen, ausgestattet mit Koeffizienten aus Finanzkraft und attention span — behavioristische Bündel ohne großes Eigenleben. Aber welchen Eigensinn könnten sie haben? Welche Unberechenbarkeiten? Welche avanciertere, möglicherweise kritische Position könnte ihnen in ästhetischen und kunstkritischen Diskursen zugewiesen werden? Und umgekehrt: Was geschieht mit ihnen in neuen medialen und materiellen Konstellationen? Gibt es andere Einstellungen als die kritische, die aus ästhetischen Kategorien gewonnen wird, aber, vielleicht, aus diesen wieder herausführt? Und ist der reflektierende Betrachter die einzig mögliche positive Betrachterfigur? Welche anderen Formen einer Beteiligung, etwa einer affektiven, sind vorstellbar, und welche lassen sich integieren in den Rahmen einer Ästhetik, die zugleich Kritik sein will?
Diese Fragen stellen wir uns nicht, um auf eine unhintergehbar authentische Betrachter/innenfigur zu kommen — sondern auf eine, die als verhandlungstragende Agentin der Komplexität des zeitgenössischen Betriebs angemessen komplex gegenüberstünde.
Unter den Texten dieser Ausgabe nimmt der Vortrag, den der französische Philosoph Jacques Rancière im Rahmen der Frankfurter Sommerakademie hielt, eine Sonderstellung ein: Er sucht seinen Ausgang nicht im eingerichteten Betrachter/innenverhältnis des Kunstbetriebs, sondern macht am Beispiel des Theaters den Versuch, die Emanzipationsmöglichkeiten des „Betrachters als Zuschauer" zwischen Wissen und Handeln zu formulieren und auch an den Grenzen des Individuellen zum Sozialen zu reflektieren. Der Kulturphilosoph Ludger Schwarte beschäftigt sich mit den Konsequenzen aus einer veränderten „Blicktechnik", wie sie seit der Machtanalyse Michel Foucaults entstanden sind. Aus einer kunsthistorischen Perspektive nach der Rezeptionsästhetik setzt sich Beate Söntgen mit Variationen der „Teilhabe am Bild" auseinander, ein Thema, das der Kommunikationstheoretiker Claus Pias mit einem historischen Rückblick auf die ideologische Figur der „Immer- Sion" im Feld der Computerkunst sowie die Literatur- und Theaterwissenschaftlerin Gabriele Brandtstetter mit installativen und theatralen Kunstformen weiter ausbauen.
Rainer Bellenbaum verdeutlicht Fallen der Betrachterinvolvierung am Beispiel einer Arbeit des Künstlers Santiago Sierra, Michael Fehr betreibt Studien zu Betrachtungsdefizienzen im Kontext von Museen und Sammlungen. Kurze Texte zu wichtigen Büchern der Betrachter-Theorie sowie eine Sammlung von Stimmen zu Juliane Rebentischs für unsere Thematik immer wieder zentralen Buch „Ästhetik der Installation" bilden den Abschluss.