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Holy Terror Mike Sperlinger über Merlin Carpenter in der Simon Lee Gallery, London

Merlin Carpenter, „The Opening“, Simon Lee Gallery, London, 2009, Ausstellungsansicht Merlin Carpenter, „The Opening“, Simon Lee Gallery, London, 2009, Ausstellungsansicht

„Im Haus des reichen Mannes“, so wird ein Ausspruch von Diogenes durch Sinope überliefert, „gibt es keinen Platz, um auszuspucken, als in dessen Gesicht.“ Der Urzyniker der Geschichte hätte sich bei der Eröffnung von „The Opening“ in der Simon Lee Gallery sicher heimisch gefühlt, wenn er Merlin Carpenter dabei zugeschaut hätte, wie er eine leere Leinwand mit dem Spruch „Simon Lee utter swine“ beschmiert.

Die Ausstellung ist die fünfte in einer Ausstellungsreihe von Carpenter, in denen die Gemälde während der Vernissage hergestellt werden – auch wenn Carpenter in der Presseveröffentlichung die hypothetische Möglichkeit offenlässt, dass die Leinwände einfach leer bleiben könnten („Sofern die Gemälde gemalt werden“). Carpenter begann diesmal erst spät – nachdem bereits ein Teil der Besucher gegangen war und die Eisskulptur-Platte für das Fingerfood zu schmelzen begonnen hatte –, eine Traube von verschwitzten Zuschauern hinter sich herziehend, die elf Bilder innerhalb von wenigen Minuten zu malen. Auf den meisten der Gemälde fanden sich am Ende Slogans – neben der schweinischen Bewertung seines Gastgebers stand auf den anderen: „CUNTS“, „Bad BEUYS“, „KUNST“, „STOP ART“, „BANKS ARE BAD“, „KUNST=Kapital“, „Beuys BADBOI“ und „DESTROY NEO LIBERAL“. Die einzigen Ausnahmen waren ein zarter Ab- Ex-Spritzer und ein Beuys-artiges schwarzes Kreuz. Nach Berichten über vorherige Ausgaben der Reihe zu urteilen, scheint Carpenters Arbeit in eine eher klassische Phase eingetreten zu sein – weder griff eines der Gemälde auf die Wände über, wie bei Overduin and Kite in Los Angeles im letzten Jahr, noch gab es einen Husarenstreich wie bei dem von -Christian Nagel organisierten Berliner Mercedes-Benz-Showroom- Event im Mai 2008, wo die Leinwände aus einem fahrenden Auto heraus bemalt wurden.

Carpenters aktueller Zyklus ist beispielhaft in seiner Reduziertheit: Carpenter ist ein Vorreiter des idealistischen Zynismus, der einsame Reiter einer heranwachsenden Apokalypse (in der Presseveröffentlichung steht, dass die derzeitige „Depression“ zu „Hunger und zu Mad Max“ führe). Zynismus ist der sehr reale Mast, an den Carpenter sich gefesselt hat, und seine Arbeit steckt mit bemerkenswerter Brutalität die Grenzen der Selbstkritik in der Kunstwelt ab und löst dabei den Unterschied zwischen dem Unverblendet-Sein und dem Desillusioniert- Sein auf. Peter -Sloterdijk definierte den charakteristischen modernen Zynismus als „aufgeklärtes falsches Bewusstsein“, eine Art ironischer Impotenz. Wie wir eine Kunst des Zynismus bewerten, mag davon abhängen, ob wir die Ironie oder die Impotenz betonen. Selbst wenn wir den Zynismus wettmachen wollten, bliebe dennoch das irreduzible Risiko: Wie alle Formen von Ironie übersteigt er beständig das Urteil der Kritik, indem er sich auf eine weitere Reflexionsebene zurückzieht – die kommerzielle Ausbeutung dieser Gemälde wird so zum Beispiel zu einem bewussten Teil ihrer anti- heroischen Pose. Carpenter schreibt in der Presseveröffentlichung, dass, wenn der Kapitalismus fähig ist, jede Kritik an sich in seine Selbstverbesserung umzufunktionieren, es besser wäre, „in einen Kunststreik zu treten, in seine eigene Ausstellung zu laufen, außer sich […] bereit zu Vandalismus und Zerstörung“. Aber natürlich ist „The Opening“ kein „Kunststreik“ – die angebliche Möglichkeit der Nicht-Performance ist lediglich ein Reizmittel. Und was wird zerstört? Die makellosen Leinwände? Carpenters Praxis und/ oder Karriere? Oder, um vollkommen apokalyptisch zu werden, die Möglichkeit von Kunst an und für sich? Ist Carpenter ein Samson, der mit falschem Pathos den Tempel niederreißt und auf unsere Köpfe fallen lässt?

„The Opening“ lässt sich auch als ein Akt des Entzugs verstehen, wie eine Parodie jener Platzhalter-Arbeiten Adrian Pipers aus den 1970er Jahren, die erklärten, dass angesichts der allgemeinen Bedingungen von „Repression, Rassismus, Heuchelei und Mord“ […] „das ursprünglich für diesen Ort vorgesehene Werk zurückgezogen wurde“. [1] Die Graffiti-artigen Slogans der Ausstellung bewirken jedoch eher unsere Verlegenheit als unsere Solidarität. In seinen jüngsten Schriften schlägt Carpenter angesichts der möglichen Rekuperation eine strategische, an Paranoia grenzende Gewissenhaftigkeit vor; wenn Kapitalisten Gewehr bei Fuß stehen, um selbst aus kritischen Erkenntnissen Geld zu schlagen, dann empfiehlt er – wie Diogenes, der bekanntermaßen Falschmünzerei betrieb –, mit falscher Münze zu handeln: „Statt Marktformen des fortgeschrittenen Kapitalismus zu kritisieren und mit diesen Daten als Informationen die Kunstwelt zu füttern, wäre es besser, die Kunstwelt mit der Kunstwelt zu füttern.“ [2] Beuys’ utopische Kreativität wird nur für den Zweck wiederhergestellt, um uns mit Historie zu stopfen und uns an ihr würgen zu lassen. Als wäre er vom Geist Lee Lozanos verfolgt, der Malerin, deren radikaler Rückzug aus der Kunstwelt in den 1970ern nur den spekulativen Hunger nach ihren Werken nährte, als sie jüngst „wiederentdeckt“ wurde, versucht Carpenter Vereinnahmung abzuwenden, indem er statt Protest nur eine flüchtige und ironische Pantomime der Unmöglichkeit von Protest bietet. Hier geht er vielleicht über den Zynismus hinaus und zu einer Art buchstäblichem Nihilismus über – ähnlich wie die Arbeit des verstorbenen Keith Arnatt „Is It Possible for Me to Do Nothing as My Contribution to This Exhibition“ (1970). Arnatts Arbeit war ein geistreicher, gewandter Text, der die Paradoxien analysierte, die entstehen, wenn man nichts anbietet: Jeder „Beitrag“, wie nichtig auch immer, ist bereits etwas. Carpenters „Opening“-Reihe bildet andererseits einen Teufelskreis, in dem Satire ihr eigenes Scheitern aufführt und daraus (vermutlich) Gewinn zieht.

„The Opening“ treibt das Publikum in die Enge. Wegen der Tautologien ist eine Reaktion vorprogrammiert, und indem wir uns überhaupt damit beschäftigen – sei es als Publikum, als Kritiker oder als schwatzende Klasse –, gehen wir eine verhängnisvolle Mittäterschaft ein, in der wir die Geste lediglich (moralistisch) verurteilen oder ihr (zynisch) Beifall zollen können. Jede Einsicht verdankt sich der echten Absurdität dieses authentischen Dilemmas und nicht den Bedingungen des Dilemmas selbst. Es gibt natürlich auch andere Aspekte der Mittäterschaft. Carpenter schreibt: „Wenn man seine Freunde kritisiert, ist man selbst darin verwickelt. Selbstkritik fängt daher vielleicht bei den Freunden an.“ [3] Merlin ist ein Freund, und ich würde vorbringen, dass „The Opening“ die falsche Sackgasse darstellt. Es gibt zweifellos eine virtuose Perversität im Festhalten an den Begriffen einer komplexen Kritik, wie es in Carpenters Schriften zum Ausdruck kommt oder dann, wenn er gegen den Markt gerichtete Waren in einer Mayfair-Galerie ausstellt. Aber meiner Ansicht nach beruhen die Praktiken der „falschen Münze“ letztlich auf einer Art von okkultem Avantgarde-Optimismus, auf einem Glauben an die vorenthaltene richtige Münze, verbunden mit einer Überbewertung der Bedeutung der Intention.

Carpenter bleibt ein „holy terror“ für eine Kunstwelt, die den unschuldigeren Zynismus von Karrieren bevorzugt, die sich auf Kritik aus Kunsthallenmitteln gründen: eine Verschwörung der guten Absicht. Dagegen zeigt „The Opening“ mit verstörender Direktheit die Unmöglichkeit zu entscheiden, wem der Scherz gilt, und hierfür dürfen wir dankbar sein. Manchmal ist schlechten Witzen den Vorzug zu geben, vielleicht weil sie uns daran erinnern, wie selbstgerecht alle guten Witze sind. In diesem Fall allerdings, selbst wenn ungewiss bleibt, wer zuletzt lacht, besteht kein Zweifel, dass all dieses Lachen ziemlich spät kommt.

(Übersetzung: Robert Schlicht)

Merlin Carpenter, “The Opening”, Simon Lee Gallery, -London, 1. April bis 25. April, 2009.

Anmerkungen

[1]Aus Adrian Pipers Arbeit „Context No. 8: Written Information Voluntarily Supplied to Me During the Period of April 30 to May 30, 1970“ (1970).
[2]Aus Carpenters Essay „The Tail That Wags The Dog“, online auf seiner Webseite: www.merlincarpenter.com.
[3]Ebd.