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Vorwort

Diese Ausgabe von „Texte zur Kunst“ trägt den programmatischen Titel „Life at Work“. Zugegebenermaßen haben wir uns damit einiges vorgenommen, geht es doch um nichts Geringeres als die Neubewertung eines theoretischen wie historischen Zusammenhangs, der die Geschichte der modernen und zeitgenössischen Kunst wie kaum ein anderer bestimmt hat: Seit der notorischen Zeitenwende „um 1800“ wird den Formen der Kunst ein quasi-organisches Eigenleben zugeschrieben (siehe den Beitrag von Thomas Khurana). Es entwickelten sich zwei gegenläufige Strömungen, welche die Debatten um die moderne Kunst nachhältig prägen sollten: In Huysmans „Á Rebours“ von 1884 bot Jean Floressas Des Esseintes´ mit Juwelen inkrustierte Schildkröte das Schreckbild eines extremen Ästhetizismus, der einer Verherrlichung des Anorganischen gleichkommt. Das Leben wird hier so radikal ästhetisiert, dass es zu Tode gerinnt. Diesem Horror versuchte sich eine wichtige Tendenz der modernen Ästhetik, am einflussreichsten wohl in den Strategien der historischen Avantgarden, entgegenzustemmen, indem sie auf die Evokation von Lebendigkeit setzte, die nicht nur der Dekadenz des „L´art pour l´art“, sondern der verdinglichten Warenwelt des Kapitalismus selbst Widerstand leisten wollte. Die Moderne war mithin durch einen Kampf um die Lebendigkeit im Leben gekennzeichnet. Wie aber stellt sich diese Problematik aus neuerer Perspektive dar – nach Jahrzehnten, in denen der Poststrukturalismus und die Dekonstruktion bevorzugt „Biologismen“, „organische Metaphern“ bzw. generell Ideen von Unmittelbarkeit und Authentizität – zu Recht – kritisiert haben? Kann der Topos des Lebendigen noch Geltung haben, wo doch längst klar ist, dass das Vorhaben der historischen Avantgarden, das Leben durch die Kunst zu transformieren, schlechterdings reanimiert werden kann? Wie steht es heute um das „Leben der Formen“, dem der französische Kunsthistoriker Henri Focillon in seinem gleichnamigen Buch von 1934 nachspüren wollte? Kann es einen kritischen Bezug auf „das Leben“ in der Kunst und darüber hinaus überhaupt geben, nachdem Theorien der Biopolitik längst schon eindringlich erörtert haben, dass der Kapitalismus und sein Wertgesetz in alle Bereiche des Lebens vorgedrungen sind? Wie könnte diese schillernde „Ästhetik der Lebendigkeit“ als bis heute relevanter, kritischer Strang der künstlerischen Produktion und Theorie gedacht werden?

Die in dieser Ausgabe versammelten Beiträge begegnen der Herausforderung dieser Fragen, indem sie „das Leben“ nicht als biologisches, sondern soziales Faktum begreifen, das es vor der Folie künstlerischer Praktiken zu historisieren gilt. Aus diesem Grund setzen eine Reihe von kunsthistorischen Fallstudien (etwa zu Joseph Beuys, Lee Lozano und Marina Abramovic) in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren an: an jenem Zeitpunkt also, der einen Paradigmenwechsel hin zum Regime des Postfordismus markiert, in welchem die Unterscheidung zwischen Leben und Arbeit zunehmend porös wird. Gerade der kulturelle Sektor avanciert ab dieser Zeit zur Blaupause für die gesamte Ökonomie; nicht länger steht der Fließbandarbeiter, dessen entfremdetes Leben mittels Kunst zu befreien wäre, für das vorherrschende Produktionsmodell ein, sondern der flexible Kulturproduzent, fortwährend kommunizierende „Performer“ (siehe den Beitrag von Sven Lütticken), die „live“-Ereignisse eher denn materielle Güter schaffen (siehe den Beitrag von Rachel Haidu). Wenn Subjektivität selbst solchermaßen zum wichtigen Wirtschaftsfaktor geworden ist und – nach Paolo Virno – die Performance des Virtuosen nicht mehr nur für die Kulturindustrie eine entscheidende Kategorie darstellt, sondern für die gesellschaftliche Produktion überhaupt, so kann ein anderer Begriff des Lebens bzw. des Lebendigen Aktualität behaupten: Nicht länger können vor diesem Hintergrund vitalistische Vorstellungen gegen Verdinglichung ausgespielt (siehe das Gespräch zwischen Lütticken und Hito Steyerl) oder eine gesellschaftliche Umwälzung imaginiert werden, die auf der Überschreitung der Grenze zwischen Kunst und Leben basiert (siehe den Beitrag von Sabeth Buchmann). Der Bezug auf die ästhetische Tradition der Moderne, die auf eine andere Form des Lebens abzielt, ist damit aber nicht tout court diskreditiert, sondern unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen neuerlich zu verhandeln (siehe den Beitrag von Branden W. Joseph). Das Motto „Life at Work“ ernst zu nehmen, heißt also über die Konsequenzen des Paradigmenwechsels vom vornehmlich fordistisch hin zum postfordistisch organisierten Leben sowohl für die Methoden der Kunstgeschichte nachzudenken (siehe den Beitrag von Eric C. H. de Bruyn) als auch für eine künstlerische Praxis, die um ihre eigene Bedingtheit weiß, ohne deswegen das Potenzial des ästhetischen Versprechens auf Lebendigkeit in all seiner Ambivalenz zu nivellieren (siehe den Beitrag von Paul Chan). An die Arbeit!

ISABELLE GRAW / SVEN LÜTTICKEN / ANDRÉ ROTTMANN / JENNI TISCHER

PS: Dies ist meine letzte Ausgabe als Chefredakteur von „Texte zur Kunst“. An dieser Stelle möchte ich daher allen meinen Dank aussprechen, ohne die meine Arbeit in den letzten Jahren in vielerlei Hinsicht unmöglich und unvergleichbar ärmer an gemeinsam erarbeiteten Ideen, ausgefochtenen Diskussionen und überstandenen Anstrengungen gewesen wäre: allen Kollegen und Kolleginnen in der Redaktion und im Verlag, Autoren und Autorinnen, den Mitgliedern des Beirats, (Editions-)Künstlern und Künstlerinnen, Übersetzern und Übersetzerinnen, Korrekturlesern und Korrekturleserinnen und sonstigen Unterstützern und Unterstützerinnen gilt mein herzlicher Dank! André Rottmann