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Vorwort

Im Jahr 2015 ist es fast unangenehm, den Begriff „Bohème“ zu verwenden, ein Wort, das derart eng mit Alteritätsfantasien verbunden ist und das schnell den Eindruck einer Nostalgie für die „gute alte Zeit“ erweckt. Nichtsdestotrotz wird unter Künstlern/Künstlerinnen, Galeristen/Galeristinnen sowie auch in Publikationen wie Texte zur Kunst weiterhin häufig die Existenz einer solchen bohemistischen Zone beschworen: In der eigenen Vergangenheit wird nach kulturellem Wert geschürft; Gründungsmythen werden um ehemalige Marginalität gesponnen; Außenseitertum wird profitabel gemacht. Doch haben wir die Bohème nicht nur (wenngleich auch) zum Leitthema dieser Ausgabe gemacht, um Anstoß zu einer kritischen Selbstschau zu geben. Es geht uns hier auch darum, einen Überblick über die Veränderungen zu gewinnen, die dieser ideologische Raum in den letzten Jahrzehnten durchlaufen hat.

Das Modell eines sich innerhalb eng gesteckter örtlicher und sozialer Grenzen abspielenden kulturellen Austauschs, wie man es in zahlreichen Underground-Szenen im vorigen Jahrhundert vorfand, scheint in großen Teilen der Kunstwelt wie auch der breiteren Gesellschaft einer Akzeptanz des Mainstreams als Kanal legitimer Kulturproduktion gewichen. Sub- versus massenkulturelles Kapital, Vorstellungen von Gemeinschaft und Kollektivität, Verfügbarkeit im Netz, soziale Privilegien, aber auch Aussteigertum, Verdrängung und Exil – das Themenspektrum, das wir unter dem Begriff der Bohème diskutieren wollen, ist breit. Viele werden annehmen, dass bohemistische Ideale dem Verlangen nach der angeblich totalen Konnektivität des Internets zum Opfer gefallen sind. Gleichzeitig ist auch deutlich, dass soziale Entrechtung und Vertreibung, die durch den Filter der Bohème einst romantisierend aufpoliert werden konnten, für viele erneut zur akuten, sehr realen Gefahr geworden sind.

Vor allem anknüpfend an letztere Beobachtung, wenden wir uns in der vorliegenden Ausgabe an die Soziologinnen Cornelia Koppetsch und Saskia Sassen. Ausgehend von den Themen ihres jüngsten Buchs „Expulsions: Brutality and Complexity in the Global Economy“ fragen wir Sassen, ob die Abkehr von einer an Inklusion orientierten Sozialpolitik in den letzten Jahrzehnten zu einer derart nachhaltigen Kräfteverschiebung geführt hat, dass der Wunsch, der bürgerlichen Welt des Kapitalismus den Rücken zu kehren, durch Bemühungen ersetzt wurde, den Anschluss nicht zu verlieren. Welche Formen nehmen die neuen (ungleich extremeren) Ausschlüsse an, die hier entstanden sind – Regionen, die laut Sassen noch weitgehend unerforscht sind? Koppetsch, die in ihrer jüngeren Forschung unter anderem protokolliert, wie die deutsche Gesellschaft auf die wachsende Gefahr der Ausgrenzung mit konformistischen Tendenzen reagiert, liefert in dieser Hinsicht einige Antworten. Im Gespräch mit Hanna Magauer analysiert sie die aktuelle Situation im Kreativsektor. Bohemistische Szenen, argumentiert Koppetsch, können nicht künstlich oder planmäßig erzeugt werden; sie entstehen vielmehr als Nebenprodukt jenes Prozesses, in dem eine Gesellschaft die Identitäten ihrer Teilgruppen organisiert.

Aus ähnlicher Perspektive eröffnet Diedrich Diederichsen Einblicke in die heutige Lebenssituation des Bohémiens, einer Figur, die er durch ihre (freiwillige oder unfreiwillige) Distanz von spezifischen sozialen Privilegien definiert. Diese Distanz, so Diederichsen, war früher attraktiver, als sie es heute ist. Und doch muss man die derart Abgegrenzten auch als kulturelle Produzenten/Produzentinnen anerkennen. Stephan Dillemuth (der gemeinsam mit Josef Strau den Kölner Projektraum Friesenwall 120 leitete, einen Brennpunkt der sich in engen Szenen organisierenden deutschsprachigen Kunstwelt Anfang der 1990er Jahre) plädiert dementsprechend leidenschaftlich dafür, diese Zonen der Ausgrenzung nicht aufzugeben, sondern das Potenzial, das ihnen (die Validierung durch Sammler/innen oder Kritiker/innen einmal beiseitegelassen) nichtsdestotrotz innewohnt, zu nutzen. Wenn wir die Idee der Bohème als geschlossenes System beibehalten – eines, das „Insider“ zusammenhält, indem es sie als „Outsider“ positioniert –, könnte dann eine radikale Verfestigung dieser Grenzen uns erlauben, einen geschützten Raum für künstlerische Forschung zurückzugewinnen?

Wenn man den Ausführungen der Semiotext(e)-Redakteurin und -Übersetzerin Noura Wedell glauben darf, ist es allerdings angesichts der Psychopathologien des zeitgenössischen Kapitalismus sehr schwierig geworden, solche Grenzen zu ziehen. Wie können wir im 21. Jahrhundert „aussteigen“, wenn die Gesellschaft des Spektakels unablässige Produktivität diktiert und ihre Forderung bis in die Körperzellen hinein durchzusetzen vermag? Einzig indem wir die Materialität des Todes akzeptieren, schlägt Wedell vor, und indem wir uns weigern, die Gegenwart allein zu (er-)tragen, eröffnet sich noch eine Perspektive.

Totale Verfügbarkeit und totale Vereinzelung sind auch Themen, die Caroline Busta in ihrem Beitrag aufgreift. Sie prüft, wie sich die Verlagerung von Vorstellungen „alternativer“ Kultur, die in den 90er Jahren herrschten, zur neuen Offenheit gegenüber massenkulturellen Codes in jüngsten Formationen der Subjektivität von Künstlerinnen niederschlägt. Was aber geschieht, wenn nicht der Mainstream, sondern die Stile subkultureller Formationen zum Substrat für künstlerische Praktiken werden? Wenn Werke zur Repräsentation einer Szene-Ästhetik gerinnen, der die Künstler/innen teils selbst nahestehen? Philipp Ekardt beleuchtet Beispiele von Wu Tsang bis Mark Leckey und findet einen neuen Geschmack für das Generische, der mit der fortlebenden Sehnsucht nach der Bohème koexistiert.

Auch zwischenmenschliche Beziehungen, so könnte man annehmen, werden in Zeiten absoluter Vernetzung nicht unkomplizierter. Der systemische Rand rückt näher; doch zum Glück, versichert uns der in Berlin lebende Künstler Daniel Keller (Mitglied des ehemaligen Kollektivs AIDS-3D), sind wir in dieser Situation nicht gänzlich auf uns allein gestellt. Um TzK-Leser/innen wohlbehalten durch das unerforschte Neuland zu geleiten, präsentiert er, begleitet von einem Glossar von Ella Plevin, seine „Hottest NEW ALT Marriage Stacks Solutions“.

Zu guter Letzt beinhaltet die Ausgabe einen neuen Text des kanadischen Schriftstellers und Künstlers Douglas Coupland. Seit Coupland – beginnend mit dem nihilistischen Popklassiker „Generation X. Geschichten für eine immer schneller werdende Kultur“ (1991) – das erste Vokabular zur Verfügung stellte, um die Jahrtausendwende zu beschreiben, hat er immer wieder treffsicher kommende Entwicklungen prognostiziert. Sein Essay führt uns erneut die Utopien vergangener Zeiten vor Augen und betrachtet die Slacker-Bohème der 90er durch die satirische Linse der hyperverlinkten Gegenwart.

Caroline Busta, Hanna Magauer

Übersetzung: Bernhard Geyer