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Nina Power: Vom Einen zum Vielen

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Wenn heute die medialen Echoräume ebenso bedrohlich erscheinen, wie die bestehenden Ungerechtigkeiten, die sie adressieren, ist Nina Powers Kritik gegenseitiger Zuschreibungen und Ausschlüsse, auch innerhalb der linken Diskurse zu denen sie sich selbst zählt, besonders wichtig. In ihrem Buch „Die eindimensionale Frau“ prangerte sie das nicht-systemische Denken des Konsumentinnen-Feminismus an. Hier betrachtet Power für uns, wer heute eigentlich Individuum werden kann, während nationalistische, xenophobe Stimmen sowohl in Europa als auch in den USA an Macht gewinnen.

Es ist nie so, dass wir direkt von einer festen Ordnung zur anderen übergehen. Daher wäre es falsch zu sagen, wir hätten die einstigen disziplinären Herrschaftssysteme (mit sichtbarer und autoritärer Gewaltanwendung) hinter uns gelassen und befänden uns jetzt in einer Kontrollgesellschaft (mit unsichtbaren Formen der Fremd- und Selbstüberwachung). Verschiedene Systeme können sich überlagern. Aus diesem Grund gibt es heute beides, Gefängnisse und Shitstorms, Überwachungskameras und Gesundheitsapps. Das Individuum, das alleinstehende, privat-besitzende und gefühlsarme männliche Totem – weder geboren noch in Abhängigkeitsverhältnisse oder Beziehungen eingebunden – und sein neoliberaler Cousin, das sich unablässig selbst vermarktende Subjekt, ein stolpernder Lebenslauf auf Beinen, eine Nullstelle mit Schulden, männlich oder weiblich, können durchaus mit langsameren, älteren Kreisläufen der Identifizierung koexistieren: mit Nationalismus in erster Linie. Wir leben in einer Zeit, in der es offenbar möglich ist, frei nach Wahl verschiedene Identitäten anzunehmen. Wie eng die Grenzen dieser Wahlfreiheit jedoch gesteckt sind, wird allerdings schnell deutlich, wenn man versucht, sie als politische Taktik anzuwenden: Geflüchtete können beispielsweise nicht einfach damit aufhören, sich als Geflüchtete zu identifizieren, da sich sofort der Chor derer erhebt, die ihnen entgegenrufen: „Nein, du kannst nicht einfach britisch sein“, selbst wenn der oder die Geflüchtete Asyl oder die Staatsbürgerschaft erhalten hat (was immer seltener geschieht). Unüberwindbare Hindernisse trennen viele vom Status eines „Individuums“ in bestimmten geografischen Gegenden, wo ganze Gruppen im selben Atemzug als Opfer und als Sicherheitsrisiko stigmatisiert werden. Jüngste Forderungen in Großbritannien, zahnärztliche Röntgenaufnahmen zur Altersbestimmung von Geflüchteten heranzuziehen, basierten implizit auf der Annahme, dass es zwei Klassen von Neuankömmlingen gibt – solche, die Hilfe verdienen, und „die anderen“ – und dass sich diese beiden Klassen anhand von biologischen „Fakten“ unterscheiden lassen. [2]

Identitäten innerhalb von Identitäten stehen also offenbar nicht jedem zur Verfügung. Derweil herrscht im Netz ein sich ständig verschärfender, wenn auch weitgehend uneingestandener Freudianismus: Die Urinstinkte des Es, insbesondere die Aggression, können sich unter dem Deckmantel der Anonymität ungezügelt ausleben. „Nette“ Männer werden zu geifernden Frauenhassern, und besonnene, zuvorkommende Diplomaten entpuppen sich als unbarmherzige Trolle. Der virtuelle Ring des Gyges macht uns alle zu Arschlöchern. Das Über-Ich meldet sich erst dann zu Wort, wenn man erschöpft dem Bildschirm den Rücken kehrt, um vor der Arbeit doch noch schlafen zu gehen – sofern man das Glück (oder Unglück) hat, einen Job zu haben. Den Hyper­individuen mit der Sichtbarkeit einer 360-Grad-Markenidentität stehen die anderen gegenüber, die ein Schattendasein als Datendronen führen, kaum unterscheidbar von Netbots, unbemerkt in ihren Nischen bis auf ein paar Likes. Kollektivität im Netz ist ausschließlich und ausdrücklich anonym (oder „Anonymous“). DDoS-Angriffe wie jener, der vor Kurzem den Internetdienstleis­ter Dyn lahmlegte (sodass Twitter, Soundcloud, Spotify und viele andere Plattformen längere Zeit nicht erreichbar waren), nutzen „intelligente“ Produkte und mobilisieren das Internet der Dinge für ihre Zwecke – gemeint sind hier die scheinbar lose verknüpften Programme und Geräte, die im Hintergrund vor sich hin surren und obskure Dinge mit Daten machen. Natürlich war bei dem Angriff auch menschliches Handeln im Spiel. Ein Avatar mit dem Namen einer Anime-Figur hatte den Code des Schadprogramms (Mirai) auf einem Hackerforum gepostet – ein Schritt, der es den Behörden schwer machen wird, den oder die Schuldigen zur Verantwortung zu ziehen.

Wir haben somit einerseits echte Menschen, die auf irreale (oder unrealistische, Instagram-artige) Weise berühmt werden, und wir haben andererseits Avatare, deren Art, berühmt (oder berüchtigt) zu werden, rein gar nichts mehr mit ihrer „wahren“ Identität zu tun hat. Die Gesetzgebung bewegt sich im Schneckentempo vorwärts, aber wenn sie irgendwann einmal aufholt, reduziert sie die ganze Bandbreite der Identitäten auf einen einzigen Punkt, fixiert in Zeit und Raum: Du bist dein Herkunftsland, du bist deine Zähne.

Viktoria Binschtok, „Garage“, aus der Serie "World of Details", 2011/12

Unsichtbar sein zu wollen nach eigenen Regeln (versteckte IP-Adresse, Gesicht maskiert mit Sturmhaube), ist eine Sache. Einer gesichtslosen Masse zugeordnet zu werden, als bloße Menge behandelt zu werden (in Zeltlagern festsitzend, staatenlos), ist etwas ganz anderes. Die Entscheidung, nicht als Individuum aufzutreten oder ein Pseudonym zu benutzen, setzt eine gewisse Flexibilität voraus, die diejenigen, die nicht auf verschiedene Subversionsstrategien zugreifen können, kaum vorzuweisen haben. Ein Individuum (als Arbeiter/in, Konsument/in, Kreditnehmer/in usw.) hat eine – wenn auch oft negative – Beziehung zur Zukunft. Wird das Band zur Zukunft durchschnitten, bleibt das reine Potenzial ohne feste Anhaltspunkte zurück. Der kommunistische Internationalismus wurde durch neu erstarkte Nationalismen ersetzt, die Individualität zu verhindern suchen, die behaupten, es bestände eine inhärente Verbindung zwischen der Identität einer Person, die zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort lebt, und der namengebenden politischen Geografie – eine beschränkte, angst- und hasserfüllte Form der Subjektivierung, die dem Anderen jede Chance auf Individualität abspricht und damit zugleich die Notwendigkeit von Solidarität und den Handlungsspielraum als Gruppe verneint.

Niemand weiß, was es bedeutet, ein voll entfaltetes Individuum zu sein – das heißt, voll und ganz Teil der Menschheit zu sein und frei entscheiden zu können, was man mit seiner Zeit und seinen Fähigkeiten anfangen will. Trotzdem nehmen wir uns das Recht heraus zu bestimmen, wer als Individuum zählt und wer nicht, während wir weiter „unsere“ existenziellen Nöte beklagen. Teju Cole antwortete 2011 mit einer Reihe von Tweets auf das Hashtag #firstworldproblems:

Ich mag diesen Ausdruck nicht: „Erste-Welt-Probleme“. Er ist falsch und herablassend. Ja, die Menschen in Nigeria leiden unter den vielen Überschwemmungen, und die Kindersterblichkeitsrate ist hoch. Aber die Nigerianer werden genau wie wir von scheinbaren Luxusproblemen geplagt. Verbindungsprobleme mit dem BlackBerry, die teure Autoreparatur, wie synchronisiere ich das iPad, welche Nudelmarke soll ich kaufen: Dritte-Welt-Probleme. Die Tücken des Alltags lösen sich nicht in Luft auf, nur weil du schwarz bist und in einem ärmeren Land lebst. Die Menschen in den reicheren Nationen müssen ein besseres Bild davon bekommen, wie man in den dunkleren Nationen lebt. Da haben wir ein echtes Erste-Welt-Problem: die Unfähigkeit zu sehen, dass andere genauso rundum menschlich und genauso heiß auf Vergnügen und Technologie sind wie wir.

Wir leben in einem Zeitalter neuer Nationalismen und konstruierter Identitäten, die gezielt die Funktion haben, die Lebensrealität anderer Menschen auszublenden. Anstatt das hervorzuheben, was uns „besonders“ macht, sollten wir uns all das in Erinnerung rufen, was wir mit anderen gemeinsam haben, nicht zuletzt die Zeit und die Mittel, die uns allen gestohlen und stückweise einigen wenigen zurückgegeben wurden. Wie können wir jene, die uns entzweien und beherrschen wollen, unsererseits entzweien und beherrschen? Nur eine strategische Identität der Masse kann uns jetzt retten.

Übersetzung: Bernhard Geyer

https://www.textezurkunst.de/104/

Anmerkungen

[1]Viktoria Binschtok, „Sitzecke“, aus der Serie „Die Abwesenheit der Antragsteller“, 2006
[2]Übrigens hat die British Dental Association, nicht gerade für ihr politisches Rückgrat bekannt, den Vorschlag als unethisch und nicht praktikabel abgewiesen.