FULL BLEED Alexandra Karg über Sung Tieu in der Kunsthalle Bern
„Sung Tieu: Bleed“, Kunsthalle Bern, 2025
Im Englischen beschreibt ein bleed in verschiedenen Zusammenhängen das Übertreten von Grenzen, das Überlaufen, sich Vermischen; in der Tontechnik das ungewollte Eindringen von Klängen in eine Soundaufnahme, die das eigentliche Klangbild zu verunreinigen drohen; in der Drucktechnik die Schnittzugabe, um beim Schneiden farblose, unbedruckte Kanten und damit ein Eindringen der Ränder in den Entwurf zu vermeiden. [1] „Bleed“, der Titel von Sung Tieus aktueller Ausstellung, lässt sich auch als Überlaufen von zeitlichen, räumlichen und formalen Bezügen in ihrer künstlerischen Praxis begreifen.
Die Ausstellung in der Kunsthalle Bern erstreckt sich über vier Räume, die durch eine Lichtinstallation visuell miteinander verbunden sind: Durch das Anbringen von Farbfolien an Fensterscheiben und Oberlichtern sowie den Einsatz von Wachstumslampen taucht Tieu die gesamte Ausstellung mit ihrer Arbeit Yellow Line (2025) in künstliches gelbes Licht. Die Künstlerin erzeugt damit einen diffusen Schleier, der sich über die gezeigten Arbeiten legt, die Grenzen der einzelnen Räume fluide werden lässt und ihre Werke visuell und konzeptuell miteinander verbindet. Die Farbe Gelb, laut Ausstellungstext ein Symbol kaiserlicher Autorität und Souveränität in Vietnam, verweist auf deren Bedeutung im Kontext kolonialer Rassifizierung und bestehender Diskriminierung asiatischer Körper. Mit den Wachstumslampen, die zur Beleuchtung und Zucht von Pflanzen dienen, knüpft Tieu an die für sie typische Verwendung von Industrieobjekten an, [2] während sie in Bern mit der scheinbar neutralen Ästhetik des White Cube bricht, die ihre früheren Ausstellungen bestimmt hat. In dieser räumlichen Intervention resonieren auch die Kunstgeschichte sowie die jüngere Ausstellungsgeschichte der Kunsthalle Bern. [3] Anhand der genannten werkimmanenten Referenzen, jedoch auch auf formaler Ebene – etwa wenn die gelben Ränder des Baumwolltuchs aus der Arbeit French Inferiority (2025), einer monochromen Flagge, die als einziges Objekt in einem der Räume von der Decke hängt, mit der Umgebungsfarbe verschmelzen – erzeugt die Künstlerin selbst zeitliche, räumliche und kontextbezogene bleeds.
Im Kontext früherer Ausstellungen Tieus betrachtet, fällt auf, dass Vieles von dem, was sie hier zeigt, so oder so ähnlich schon einmal da war. Die Künstlerin setzt ihre Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte Vietnams sowie konkret ihre Projekte The Ruling (2023) und Perfect Standard (2024) zur Einführung metrischer Systeme in Vietnam während der französischen Kolonialherrschaft im 19. Jahrhundert fort, die sie bereits in Mailand, Berlin und Siegen gezeigt hat. In Bern nimmt diese die Form einer Serie von Aluminium-Skulpturen an, Corrective Measures (2025), die über die Ausstellung hinweg verteilt sind: kleinere stufenförmige Alublöcke, flach an der Wand angebracht und nur wenige Zentimeter in den Raum hineinragend, meterlange Alustangen mit handgelenkförmigen Einkerbungen, die im zentralen Raum auf dem Boden liegen, sowie in einem dritten Raum an die Wand gelehnt andere mit fingergroßen Löchern.
Sung Tieu, „Corrective Measures“, 2025
Mit Titeln wie Body rulers, Finger rulers, Toe rulers, Sung’s Elle und Sung’s Foot orientieren sich diese im Auftrag der Kunsthalle Bern entstandenen Arbeiten in ihren Maßen an Körperteilen der Künstlerin, lassen die Vorlage in ihrer kantigen Form und kühlen Materialität jedoch höchstens erahnen. Sie deuten die Beliebigkeit kolonialer sowie biopolitischer Vermessungslogiken kritisch an, was wiederum auch die scheinbare Neutralität einer reduzierten, kühlen Formensprache des Minimalismus, der einen Gegensatz zu der als universell begriffenen anthropomorphen Form der Betrachter*innen zu bilden behauptet, in den Blick rückt. Ein lokales Publikum erinnern diese Skulpturen an den berühmten Berner Zytglogge-Turm, unter dem sich metallene Längenmaße aus dem 17. Jahrhundert finden, die den lokalen Kaufleuten als Maßstab dienen sollten. Historisch gehen derartige Längenmaße auf die Einführung metrischer Systeme zurück, die über Europa hinaus auch in Kolonien eingeführt wurden, wo sie als Corrective Measures, als Tools zur Standardisierung und Kontrolle eingesetzt wurden. Die in der Kunstgießerei St. Gallen produzierten Skulpturen Tieus stehen formal und konzeptuell auch der Arbeit Berliner Elle (2025) nah, die vor einigen Monaten in der Ausstellung „1992, 2025“ im KW Institute in Berlin gezeigt wurde, wo von Pfeilern waagerecht die Längen einer Elle in den Raum hineinragten.
In „Bleed“ treffen diese neu produzierten auf frühere Werke der Künstlerin bzw. deren Weiterentwicklung oder Umformung: Yeasts and Spirits (2023), eine Installation aus mit Alkohol injizierten Broten, ist nach Stationen in Mailand und Siegen auch in Bern zu sehen. Die auf dem Boden verteilt liegenden Sauerteigbrote sind ähnlich wie bereits in Siegen zusammen mit einer Wandarbeit, einer Edelstahlplatte mit Siebdrucken von Schwarz-Weiß-Motiven, installiert. Das Werk Views from a Sedan Chair (End) (2025) [4] ist eine Umformung der Arbeit The Opposite of Good is Good Intentions (2024) [5] . Auf den ersten Blick unterscheiden sich die Arbeiten kaum, die Drucktechnik und auch die Pop-Art-ähnliche Wiederholung von Filmstills aus der früheren Arbeit bleiben auch in Bern bestehen, jedoch stammen die Motive aus einer anderen Quelle. Die Siebdruckarbeit reproduziert eine kurze Sequenz eines Films von Gabriel Veyre, 1896 im kolonialen Indochina gedreht, die Tieu in serielle, abstrahierte Drucke auf Edelstahl übersetzt. Die Arbeit erinnert stark an das Werk Unspeakable Compromise (2025), einer Serie aneinandergereihter Motive mit ähnlicher Drucktechnik auf Edelstahl aus der Berliner Ausstellung „1992, 2025“, für die Tieu Archivfotografien von Vertragsarbeiter*innen, etwa beim illegalen Handel mit Zigaretten, nach der Wiedervereinigung abstrahierte.
„Sung Tieu: Perfect Standard“, Trautwein Herleth, Berlin, 2024
Neben dieser selbstreferenziellen Weiterführung bestehender Auseinandersetzungen thematisiert „Bleed“ unsichtbare Verflechtungen mit kolonialen Ökonomien, zum Beispiel in der zweiteiligen Videoarbeit Michelin* (2025) und Michelin** (2025). Tieu führt das koloniale Erbe des französischen Reifenherstellers Michelin in Form von archivalischen Aufnahmen vom Konzern betriebener Kautschukplantagen in Indochina, der größten im Gebiet des heutigen Vietnams, mit dem zeitgenössischen Image des Konzerns eng. Sie stellt dazu Archivbilder der gerodeten Flächen aus der Zeit des Vietnamkriegs, als die Plantagen von der US-Armee als Militärstützpunkte genutzt wurden, neben aktuelle Aufnahmen, die dokumentieren, wie die Künstlerin und Mitarbeitende der Kunsthalle Bern in einem Michelin-Sternerestaurant gemeinsam essen. Bereits seit 1900 setzt der Konzern seinen „Guide Michelin“ als Marketinginstrument ein. Der Reiseführer, der ab 1920 auch Sternebewertungen für Restaurants enthielt, sollte Autofahrer*innen zu Fernreisen animieren und dadurch die Nachfrage für Reifen vergrößern. Michelin-Sterne stehen heute nicht nur symbolisch für eine zeitgenössische Bewertungslogik, hinter der sich auch das koloniale Fundament in Form von ausbeuterischen Arbeitsbedingungen und gewaltsamer Extraktion verbirgt, auf dem wiederum der Erfolg von Michelin beruht.
Indem Tieu die Filmaufnahmen formal an die nüchterne Schwarz-Weiß-Ästhetik der Archivbilder anlehnt, impliziert sie koloniale Kontinuitäten und die Verschleierung historischer Wahrheiten: Bis heute gehören die Länder Südostasiens zu den weltweit führenden Produzierenden von Naturkautschuk, deren Hauptabnehmer wiederum die Reifenindustrie und europäische Konzerne wie Michelin sind. Indem Tieu die Mitarbeitenden der Kunsthalle Bern in ihren Film einbezieht, verweist sie auch darauf, dass Kulturinstitutionen selbst an der Produktion und Reproduktion kulturellen Prestiges beteiligt sind. Der Besuch eines Berner Michelin-Restaurants stellt eine Verbindung zwischen kultureller Produktion, globalem Konsum und kolonialen Ökonomien her und zugleich die politische Neutralität eines Landes wie der Schweiz, das offiziell nie Kolonialmacht war, infrage. Tieu entwickelt mit ihrer zweiteiligen Videoarbeit eine Form der Institutionskritik aus postkolonialer Perspektive, die die Verflechtungen von extraktiver Kolonialgeschichte, globalem Marketing und den symbolischen Ökonomien kultureller Institutionen offenlegt.
„Sung Tieu: Bleed“, Kunsthalle Bern, 2025
Insgesamt richtet die Ausstellung den Fokus stärker als bisherige museale Präsentationen der Künstlerin auf das Ineinandergreifen und Vermischen verschiedener Elemente als Teil einer größeren Erzählung und macht damit die Sicht frei für die Arbeitsweise Tieus, die das Verhältnis ihrer Werke zueinander im Ausstellungsraum und darüber hinaus bestimmt. Dieser kuratorische Fokus zeigt sich nicht zuletzt in der Kombination von früheren Werken und neuen Auftragsarbeiten, aber auch in der Anordnung der Werke über die einzelnen Ausstellungsräume hinweg. Neben deren postkolonialer und institutionskritischer Dimension tritt dadurch in Bern ein zentraler Aspekt von Tieus künstlerischer Praxis hervor: eine kritische Aneignung der Methode der Postproduction. Nicolas Bourriaud bezeichnete so künstlerische Strategien der 1990er Jahre, die nicht mehr primär neue Werke ex nihilo schaffen, sondern sich bestehende kulturelle Produkte aneignen, sie kombinieren und in neue Kontexte überführen. [6] Künstler*innen übernehmen die Rolle sogenannter „semionauts“ [7] , die das vorhandene Feld kultureller Zeichen durchqueren, neue Bedeutungszusammenhänge herstellen und neue Kartografien des Wissens produzieren.
Auch bei Tieu ist das Kunstwerk nicht länger Endprodukt eines kreativen Prozesses, sondern vielmehr temporäres Gefüge in einem größeren Netz aus verbundenen Elementen. Diese Arbeitsweise stellt nicht nur traditionelle Formen der Wissensproduktion kritisch infrage, sie verändert auch die Form und Funktion der Ausstellung selbst: „The exhibition is no longer the end result of a process […] but a place of production“, so Bourriaud. [8] Tieu hatte zehn Einzelausstellungen in den vergangenen zwei Jahren, für die ein Großteil der Werke als Auftragsarbeiten realisiert wurde, was die jeweiligen Ausstellungshäuser – insbesondere mit Blick auf ihre ortsspezifische Arbeitsweise – per se zum Ort der Produktion machte. Indem die Künstlerin auch auf eigene Formen und Methoden, sowohl in der künstlerischen Produktion als auch in der Ausstellungsgestaltung, zurückgreift, schreibt sie Praktiken der Postproduction aus den 1990er Jahren fort; Tieu macht sich diese für eine Kritik aus postkolonialer und machtkritischer Perspektive zunutze und nimmt so soziohistorische Diskurse ebenso wie die Kunstgeschichte selbst, beispielsweise die Ästhetik des Minimalismus, in den Blick. Angesichts der großen Menge an Ausstellungen auf Basis von Auftragsarbeiten sowie der prozessorientierten Arbeitsweise Tieus stellt sich in Bezug auf künftige Präsentationen die Frage, ob die von ihr entwickelte künstlerische Praxis ihr kritisches Potenzial in dieser Weise aufrechterhalten kann oder ob die diskursive Qualität einzelner Arbeiten droht, in einem Netz aus inhaltlichen und konzeptuellen Bleeds zu verschwinden.
In ihrem recherchebasierten Werk spürt Tieu kulturelle und kunsthistorische Bezüge auf, verfolgt diese und verwebt sie in formaler Zurückhaltung zu einem fortlaufenden Netz an diskursiven Knotenpunkten. Jedes Objekt, jede Form und Methode Tieus kann künftig in einer neuen Produktion schon mal da gewesen sein, in diese überlaufen und so zu einem weiteren Glied in einem Netzwerk an Beiträgen zu einer größeren Erzählung werden, in die mit der Ausstellung „Bleed“ nun auch die Stadt Bern und ihre Kunsthalle eingeschrieben sind.
„Bleed“, Kunsthalle Bern, 12. September bis 23. November 2025.
Alexandra Karg ist Kunsthistorikerin und Autorin. Sie promoviert zu (post-)migrantisch-feministischen Praktiken in der deutschen Gegenwartskunst.
Image Credits: 1 + 2 + 4: Courtesy Sung Tieu, Fotos David Aebi; 3: Foto Jens Ziehe
ANMERKUNGEN
| [1] | Dieser Beschnitt richtet sich in der Regel nach dem metrischen Einheitensystem, das Ende des 18. Jahrhunderts in Frankreich eingeführt wurde, von wo aus es sich über Europa und infolge von Kolonialherrschaften auch global ausbreitete. |
| [2] | Bereits in einer ihrer ersten Arbeiten Subnational MP3 (2015) griff Tieu auf MP3-Player und LED-Leuchtkästen aus dem Don Xuan Center in Berlin-Lichtenberg zurück, die die Künstlerin selbst mit Audiodateien und Schrift bespielte und vor Ort als Produkte installierte. |
| [3] | In seiner Arbeit Room for one color aus dem Jahr 1997 tauchte der Künstler Olafur Eliasson einen weißen Raum in gelbes Licht. Im selben Jahr entwickelte David Hammons seine Ausstellung „Blues and the Abstract Truth“ (1997) für die Kunsthalle Bern, wobei er ganz ähnlich wie Tieu in Bleed die Fenster und Oberlichter der Ausstellungsräume mit Lichtfilterfolie bespielte, nur dass er die Räume in Blau einfärbte. |
| [4] | Tieu arbeitet sowohl in The Opposite of Good is Good Intentions (2024) als auch in Views from a Sedan Chair (End) (2025) mit Filmmaterial von Gabriel Veyre, jedoch jeweils mit Stills aus verschiedenen Filmen. |
| [5] | Präsentiert in der Ausstellung „Perfect Standard“ bei Trautwein Herleth, Berlin, 27. April bis 1. Juni 2024, und „Without Full Disclosure/Ohne Offenlegung“ im Museum für Gegenwartskunst, Siegen, 30. Juni bis 10. November 2024. |
| [6] | Künstlerische Beispiele aus den 1990er Jahren sind u. a. Pierre Huyghe, Philippe Parreno oder Dominique Gonzalez-Foerster, deren Arbeiten auf Sampling, Re-Inszenierung und Bezug zur Alltags- und Popkultur beruhen. Bourriaud entlehnt den Begriff aus dem audiovisuellen Vokabular von Fernsehen, Film und Video und leitet seine Bedeutung für die bildende Kunst aus der DJ-Kultur sowie neuen durch das Internet geprägten Denkweisen ab. Vgl. Nicolas Bourriaud, Postproduction: culture as screenplay ; how art reprograms the world [Repr.], hrsg. von Caroline Schneider, New York 2010, S. 16. |
| [7] | Ebd., S. 19. |
| [8] | Ebd., S. 69. |