TOPOS TÜTE Anna Sinofzik über Jac Leirner in der Galerie Esther Schipper, Berlin
In der Großstadt sieht man den Horizont selten, meist ist er von Gebäuden verstellt. Aus dem Fenster des fünften Stocks der Berliner Galerie Esther Schipper fällt der Blick in einen Innenhof, in dem sich Besucher*innen der hier ansässigen Galerien mit Kund*innen der Modeboutique von Andreas Murkudis während jedes Gallery Weekend so eng die Schultern reiben, wie es Kunst und Lifestylebranche immer häufiger tun. Verweise auf die vertraute Liaison ließen sich auch in Jac Leirners Arbeit Us Horizon (1985–2022) ausmachen, der die erste Einzelausstellung der Künstlerin bei Esther Schipper ihren Titel verdankte. Die Installation erstreckte sich über nahezu 50 Meter und drei Wände des großen Galerieraums und bestand aus 220 Plastiktüten aus Museumsshops und anderen Läden. Leirner hatte sie nach einem System arrangiert, dessen Logik kaum inhaltlicher Natur sein konnte. Neben Tüten vom MoMA und der National Gallery of Art in Washington war nicht etwa eine des Musee d’Orsay, sondern die der Fast-Fashion-Kette Orsay platziert. Logos und Schriftzüge kleiner Plattenläden mischten sich mit denen von Entertainmentriesen, Kunstbuchhandlungen und Flaggschiffen einer florierenden Kulturindustrie.
Den Boden des Raums durchkreuzte die Arbeit Prisms (2022) – eine etwa zehn Meter lange Stahlstrebe, auf der bunte Sandsäckchen aufgereiht waren. Wie der Begleittext erklärte, wurden sie ursprünglich von Parkwächter*innen in Leirners Heimatstadt São Paolo genutzt, um Fahrzeuge zu markieren. In Verbindung mit den Tüten an den Wänden wirkten die nummerierten Objekte wie Stellvertreter von Personen, die vor Läden und Blockbuster-Shows Schlange stehen. Vor allem aber – und das ist typisch für Leirner – bildeten sie eine Sequenz von Farbe und Form, die kein kompositorisches Muster erkennen ließ und doch rhythmisch erschien, wie ein metrisch ungebundener Vers. Zwei weitere Arbeiten – Expressive Line (2020) und My Unstable Way (2022) – waren im Eingangsbereich der Galerie installiert, von einer Zwischenwand zur anderen hatte man hier zwei Drahtseile gespannt. Am oberen waren, dicht an dicht, Reifen von Spielzeugautos aufgefädelt; am unteren Gehäuse zahlreicher Kugelschreiber und Füllfederhalter. Ähnlich lang (doch deutlich diverser) ist die Reihe an Namen, die die Künstlerin nennt, wann immer sie nach Einflüssen gefragt wird: Josef Albers, Eva Hesse, Paul Klee, Donald Judd, Sol LeWitt, Agnes Martin, Cildo Meireles, Bruce Nauman, Max Bill, Lygia Pape, Fontana, Tunga, Duchamp. Leirner verbindet das Readymade mit dem Remix und recycelt nicht nur Dinge, sondern auch disparate Ideen, unter anderen die des Konstruktivismus, der Arte Povera, des objektiven Minimalismus, oder Elemente aus Pop Art und Punk.
In ihrer linearen Ordnung vermittelten die vier gezeigten Arbeiten den Eindruck von Zeitleisten, an denen Leirner Souvenirs festgemacht hat, die an (Einkaufs-)Erlebnisse erinnern und Momente markieren. Der Zeit eine Gestalt zu geben, das sei eines ihrer Ziele, erklärte sie einst im Gespräch mit der Kunsthistorikerin Adele Nelson [1] – und meinte damit explizit auch die Arbeitszeit: Der langwierige Akt des Akkumulierens, Sortierens und Arrangierens, der für gewöhnlich wenig gefeiert im Hintergrund stattfindet, schreibt sich in ihre Kompositionen ein, die weg vom Wert der Dinge an sich weisen und hin zum Wertbildungsprozess. Kraft ist bei Leirner Weg mal Arbeit, der Gang der Dinge (im Fall der Museumstüten verlassen sie die Institution als Wegwerfartikel, um viele Jahre später als Kunst zurückzukehren) multipliziert sich mit ihrem künstlerischen Eingriff – dem Sammeln, Strukturieren, Zum-Werk-Arrangieren.
Zwar sind es primär ästhetische Kriterien wie Farbe und Form, die einen Gegenstand für Leirner bedeutsam und bewahrenswert machen, doch geht es ihr dabei weniger um das isolierte Objekt als vielmehr um das Konvolut, das damit ergänzt werden kann. Ihr Ansatz, jedes Produkt als potenziellen Baustein zu begreifen, setzt der Fetischisierung von Objekten eine Fokussierung auf jene strukturelle Ordnung entgegen, die den Dingen zugrunde liegt. Man kommt nicht umhin, den biografischen Bezug herzustellen: Als Tochter des Sammlerpaars Adolpho und Fulvia Leirner wuchs sie umgeben von Schlüsselwerken des brasilianischen Konstruktivismus auf, der ihre Kunst offenkundig geprägt hat, dessen formalistische Selbstbezüglichkeit sie jedoch früh mit profanen Werkstoffen konterkarierte, die auf ihr eigenes Leben und Konsumverhalten verweisen. Für ihre Arbeit Lung (1987) reihte Leirner Zigarettenschachteln aneinander, die sie allesamt selbst geleert hatte. Us Horizon zeugt mit zahlreichen Tonträgertüten von ihrer Liebe zur Musik. (Leirner war mal Teil einer Punkband und verehrt klassische Komponisten wie Mahler.) Weltlich und lebensnah wie ihr Material sind auch ihre zentralen Themen: zum Beispiel Zirkulation, Serialisierung und Wiederholung.
Erste Installationen aus Plastiktüten entwickelte die Künstlerin in den späten 1980er Jahren. Auf die Arbeit Nomes, für die sie verschiedenste gewerbliche Einkaufstaschen vernähte und als Wandteppich installierte, folgte Nomes (Museums), eine Werkreihe, die ausschließlich aus Tüten internationaler Museumsshops bestand. Über die Jahrzehnte wurden beide Werke immer wieder erweitert und ortsspezifisch rekonfiguriert, sodass sie sich eher als künstlerische Verfahren denn als fertige Arbeiten fassen lassen. Im Fall von Us Horizon hat Leirner Museumstüten mit denen klassischer Unternehmen und Duty-Free-Shops kombiniert. Deutlicher noch als Nomes (Museums) verwies die neue Installation damit auf die Kommerzialisierung des Ausstellungswesens – nicht zuletzt auf exhibitionary enterprises wie die São Paolo Biennale, auf der Nomes 1989 erstmals gezeigt wurde. In den 1950er Jahren nach europäischem und US-amerikanischem Vorbild gegründet, wurden die großen Institutionen Brasiliens zunächst von Industriellen geführt, die mithilfe von Künstler*innen und intellektuellen Eliten neue Erfolgsgeschichten für ihr Land, das vom Westen lange marginalisiert worden war, schreiben wollten. Adele Nelson, die außer zu Leirners Werk auch zur Entwicklung brasilianischer Kulturmetropolen nach dem Zweiten Weltkrieg geforscht hat, attestiert den so entstandenen Narrativen eine Engführung von Kunst und Lifestyle: Letztere sollte zur Strahlkraft der Metropolen beitragen. In der Fusion von „wealth, whiteness, and the consumption of abstract art“ hat sie die Kluft zwischen privilegierten und marginalisierten Gruppen dabei jedoch weiter verschärft. [2]
Leirner gehört zu einer Generation von Künstler*innen, die eine zu Beginn der 1990er Jahre neue Institutionskritik prägten; international bekannt wurde sie zu einer Zeit, als sich der westliche Blick allmählich für die zeitgenössische Kunst des sogenannten globalen Südens weitete. Ihre Arbeit Corpus Delicti (1993), für die sie vom Aschenbecher bis zum Besteck unterschiedlichste Gegenstände auf Flügen entwendete, wirkt heute wie eine Zeitkapsel, die Relikte des jungen Kunst-Jetsets der 1990er Jahre dokumentiert. Typisch für Ansätze der Institutionskritik, wie sie damals zum Beispiel von Künstlerinnen wie Andrea Fraser entwickelt wurden, ist der Versuch, die eigene Involviertheit zum Thema zu machen, anstatt Distanz zu deklarieren. Bei Leirner wird dies in der Arbeit Nice to meet you (1993) besonders deutlich, einer Sammlung von Visitenkarten, die ihr von Kurator*innen und Galerist*innen zugesteckt wurden. Während sie sich hier im inner circle der Kunstwelt verortet, präsentiert sich die Künstlerin mit Us Horizon als Globetrotterin, die gern mal den „exit through the gift shop“ nimmt.
Vor dem Hintergrund einer zunehmend entmaterialisierten Gegenwart hat Leirners obsessive Art, Objekte zu akkumulieren und mit archäologischer Sorgfalt zu arrangieren, eine leicht nostalgische Note. Hinzu kommt die Tatsache, dass in der Ausstellung „Us Horizon“ ausschließlich Alltagsgegenstände verarbeitet waren, deren Tage als gezählt gelten dürften; Plastiktüten sind bereits vielerorts ein No-Go. Die innerstädtischen Parkplätze, denen die Sandsäcke in Prisms entstammen, werden mit der Mobilitätswende schwinden. Wo PKW in Verruf geraten, wird es bald auch weniger Spielzeugautos mit Miniaturreifen geben, wie Leirner sie für My Unstable Way so minutiös aufgereiht hat. Den Kugelschreibern und Füllfederhaltern, deren Gehäuse My Expressive Line bildeten, haben Touchscreens und Keyboards längst den Rang abgelaufen. Die Art und Weise, in der Leirner Dingen einen bleibenden Platz gibt, indem sie sie kompositorisch festschreibt und institutionalisiert, ist bemerkenswert konsequent. Im Lauf der vergangenen, bewegten Jahrzehnte hat sie jedoch ein wenig an politischer Kraft verloren.
Leirners Werk wird häufig als Gegenentwurf zur oftmals hypertrophen Objektkunst der 1980er Jahre gelesen. Als sie ihre vernähten Plastiktüten 1989 in São Paolo präsentierte, wurde von den einen anerkennend behauptet, sie „verweibliche“ das Material des Minimalismus [3] , andere verwirrte ihr Vorname, und man hielt ihre Arbeit für die eines Mannes [4] . Die Künstlerin selbst wehrt sich gegen Lesarten, die ihre Identität einbeziehen [5] , und vertritt heute eine autotelische Auffassung von Kunst im Sinne der L’art pour l’art – was dem radikalen Realitätsbezug entgegenzustehen scheint, den ihre Praxis einst so eindrucksvoll proklamierte. Das mindert jedoch nicht den poetischen Wert eines Werkes, dessen Vielschichtigkeit die vier in der Ausstellung gezeigten Arbeiten allenfalls andeuten konnten.
„Jac Leirner: Us Horizon“, Galerie Esther Schipper, Berlin, 12. März bis 14. April 2022.
Anna Sinofzik ist Bild- und Onlineredakteurin von Texte zur Kunst.
Image credit: Courtesy the artist and Esther Schipper, Berlin, photos: © Andrea Rossetti
Anmerkungen
[1] | Adele Nelson/Robert Storr, Jac Leirner in conversation with/en conversación con Adele Nelson, Málaga 2011, S. 66. |
[2] | Vgl. Adele Nelson, Forming Abstraction: Art and Institutions in Postwar Brazil, Oakland 2022, S. 6f. |
[3] | Robin Cembalest, in: Artnews, Sommer 1993. |
[4] | Michael Hübl, „Werkstoff Welt“, in: Kunstforum, Bd. 109, Köln 1990, S. 262–291. |
[5] | Marlon de Azambuja, „Neither Objects nor Colors: Experiences. A Conversation with Jac Leirner“, in: Jac Leirner, Pesos y medidas, Las Palmas de Gran Canaria 2014, S. 8. |