CHICKEN WIRE Anna Voswinckel über Sherrie Levine in der Galerie Buchholz, Berlin

„Sherrie Levine“, Galerie Buchholz, Berlin, 2024
Sie verstehe sich als Stillleben-Künstlerin, wird Sherrie Levine im Text zu ihrer Ausstellung in der Galerie Buchholz, Berlin, zitiert. Die Buchseite sei ihr Sujet, auf das sie mit ihren Bildern in einer anderen Materialität Bezug nehme. Es ist jene Materialität der Arbeiten, die im Folgenden genauer untersucht wird, und zwar auf die Fähigkeit, in ihrer Alterität, wie Levine sie beschreibt, „genau so interessant wie die Originale“ zu sein. [1] Buchholz zeigt zwei neue Serien, Nature Morte 1–12 (2023) und Covid (2023) der Künstlerin, die aus gefundenem (Bild-)Material entstanden sind, sowie vier Holzpaneel-Malereien, in denen sie auf charakteristische Weise kunsthistorische Werke durch Aneignung neu interpretiert.
Die Malereien After Piet Mondrian (2) (2024) und After Piet Mondrian (16) (2023) gehen auf Levines frühe fotografische Arbeit After Piet Mondrian 1–15 (1983) zurück, die als Index in unmittelbarer Nähe zu diesen neuen Arbeiten gehängt ist. Indem sie ihr Werk durch die Aneignung ihrer eigenen Appropriationen erweitert, spitzt Levine die Infragestellung künstlerischer Originalität gleichsam zu. Die insgesamt 15-teilige Serie besteht aus Reproduktionen von Mondrians abstrakten Rasterkompositionen, die sie aus einem Kunstkatalog abfotografiert hat. Die gerahmten C-Prints sind in einem engen 3 × 5-Raster gehängt, wodurch eine großflächige Gesamtkomposition entsteht. Dass es sich nicht um Originale handelt, legt der gelbliche Farbton der Prints nahe. After Piet Mondrian 1–15 steht für die Anfangsphase von Levines Karriere, in der sie durch ihre Appropriationsarbeiten, die sich mit Fragen von Produktion und Reproduktion, Original und Kopie auseinandersetzten, große Bekanntheit erlangte. Nun fertigte sie, basierend auf den Werken der Serie, jeweils drei Malereien an, die auf unterschiedliche Weise die Farbigkeit des Originals weiter verfremden. Zwei Exemplare dieser Appropriation der Appropriation werden bei Buchholz übereck präsentiert.

Sherrie Levine, „After Piet Mondrian: 1–15“, 1983
Eine weitere Malerei spielt mit einer Komplementarität, die an die binäre Struktur der analogen Fotografie angelehnt ist: After Francis Picabia Inverted: 3 (2024) simuliert die Invertierung eines (farb-)fotografischen Negativs, während After Piet Mondrian Black and White: 2 (2024) auf die Schwarz-Weiß-Reproduktion farbiger Kunstwerke zu referieren scheint, wie sie in Kunstkatalogen bis in die 1960er Jahre üblich war. Vielleicht lässt sich die Bezugnahme auf die technischen Bedingungen der optischen Medien auch als Untersuchung verstehen, die spielerischen Möglichkeiten der Unterwerfung unter den Apparat (gewissermaßen als Umkehrung von Vilém Flussers Aufforderung, „gegen den Apparat zu spielen“) in die Malerei zu übersetzen. Alle vier mittelgroßen, ungerahmten Malereien der Ausstellung sind in Öl auf Mahagoniholz ausgeführt. Levine übermalt die Tafeln deckend, sodass das Edelholz optisch nicht mehr zu identifizieren ist. Durch die Verwendung des geschützten Tropenholzes als einfachen Malgrund stört sie bewusst das Bedeutungsgefüge von Materialqualität, Kostbarkeit und Wert.
Die Serie Nature Morte 1–12 (2023), die im Hauptraum den Mondrian-Appropriationsarbeiten gegenüber gehängt ist, umfasst zwölf in hellem Holz gerahmte Wandarbeiten, die aus grünlichem Strukturglas und einem darüberliegenden Maschendrahtgeflecht bestehen, was ihm den Anschein von Drahtglas gibt. Der Titel Nature Morte verweist auf das malerische Genre des Stilllebens, mit dem die ungegenständlichen Readymade-Arbeiten auf den ersten Blick nicht in Verbindung gebracht werden können. Um auf das Eingangszitat der Künstlerin zurückzukommen, in dem sie sich selbst als Stillleben-Künstlerin bezeichnet: Levine versteht die Darstellung ihres Sujets als Übersetzung in eine andere Materialität. Dabei sind ihr sprachliche Kontexte wichtig. Die titelgebende Materialbezeichnung „chicken wire“ (die deutsche Übersetzung wäre Hühner- oder Kaninchendraht) legt den Einsatz des Maschendrahts für die Kleintierhaltung nahe. In diesem Zusammenhang kann Nature Morte auch als Anspielung auf die Einhegung und Ausbeutung von Lebewesen interpretiert werden. Die wabenartige Oberfläche der Glastafeln evoziert wiederum Assoziationen zu Hühnerhaut. Auch in dieser Arbeit sind es die physisch-sinnlichen Qualitäten des Materials, die im Zusammenspiel mit dem Werktitel Ambivalenzen erzeugen und die Interpretation durch Einbeziehung divergierender Bedeutungen [2] erweitern.

Sherrie Levine, „Nature Morte 1–12“, 2023
Im unteren Raum der Galerie – einem schmalen Ladenlokal zwischen hochwertigen Antiquariaten und Möbelgeschäften auf der Fasanenstraße – ist die Serie Covid (2023) ausgestellt, die die Künstlerin hier zum ersten Mal zeigt. Wie in Nature Morte arbeitet Levine bei Covid mit gefundenem Material und somit unmittelbaren gesellschaftlichen Bezügen, was beide Serien von ihren bekannteren Appropriationsarbeiten unterscheidet. Originalseiten aus dem Werbekatalog eines Einrichtungshauses, ohne die textliche Rahmung als Bild rezipierbar, erstrecken sich in einem zweireihigen Raster aus 36 Diptychen in die Tiefe des Raums. In den Aufnahmen stehen Teppiche im Fokus. Das asymmetrische Raster der Hängung sowie vereinzelte Seitenverkehrungen innerhalb der Sequenzierung lenken die Aufmerksamkeit auf Details im Bild, wie etwa scheinbar beiläufig auf Couchtischen oder vor Sesseln aufgeschlagen liegende Kunst- und Auktionskataloge. In dem Luxus-Möbelkatalog fungieren diese als Garant für die Hochwertigkeit der abgebildeten Ware, attestieren sowohl deren ästhetische als auch Fertigungsqualität, die sich mittels Fotografie nicht abbilden lässt. Für Covid wählte Levine den Teppich als Untersuchungsobjekt aus, der sich traditionell zwischen Kunstwerk und Mobiliar bewegt und ein Indiz für den sozialen Status seiner Besitzer*innen sein kann. Mit dem Titel ihrer Arbeit erinnert die Künstlerin zu einem Zeitpunkt an die Covid-19-Pandemie, an dem weite Teile der Gesellschaft des Themas überdrüssig sind. Durch die Wahl des beworbenen Produkts verweist sie auf genau jene Klassenunterschiede, die während des Lockdowns deutlich zu Tage traten und heute gerne verdrängt werden.

„Sherrie Levine“, Galerie Buchholz, Berlin, 2024
Die künstlerische Auseinandersetzung mit Werbeästhetiken ist für das Werk von Levine eher untypisch. Mit ihrer neuen Serie spannt sie einen Bogen zu einschlägigen Arbeiten von Vertreter*innen der Pictures-Generation, die ihren Ausgangspunkt in der Untersuchung der visuellen Kultur des Postfordismus in den 1970er Jahren nahmen. Mit der seitdem fortgeschrittenen Finanzialisierung weiter gesellschaftlicher Bereiche und der damit einhergehenden Entkoppelung von realwirtschaftlichen Produktionsprozessen rücken Fragen zur (Im-)Materialität in der bildenden Kunst, insbesondere zum Verhältnis von Produktion und Präsentation sowie zu Wechselwirkungen zwischen Kunstwerk und Künstler*in [3] ,heute wieder stärker in den Fokus. Auch dies mag die Künstlerin dazu bewogen haben, mit vorgefundenem (Bild-)Material zu arbeiten und ihren Malgründen besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Gerade in der Gegenüberstellung ihrer frühen und aktuellen Werke in der Ausstellung setzt Levine den für ihr Werk typischen Dialog über Materialität, Wert und Gesellschaft fort.
„Sherrie Levine“, Galerie Buchholz, Berlin, 25. Oktober bis 21. Dezember 2024.
Anna Voswinckel ist Kuratorin für zeitgenössische Kunst mit Schwerpunkt Lens-based Media. In den letzten zwei Jahren leitete sie als Kuratorin das Ausstellungsprogramm bei Camera Austria in Graz. Sie lebt in Wien und Berlin.
Image credit: courtesy Galerie Buchholz
ANMERKUNGEN
[1] | „I consider myself a still-life artist – with the bookplate as my subject. I want to make pictures that maintain their reference to the bookplates. And I want my pictures to have a material presence that is as interesting as, but quite different from the originals.“ Zit. im Ausstellungstext nach: Sherrie Levine, in: October Files: Sherrie Levine, Cambridge 2018, S. 166f. |
[2] | „I try to make art which celebrates doubt and uncertainty. Which provokes answers but doesn’t give them. Which withholds absolute meaning by incorporating parasite meanings. Which suspends meaning while perpetually dispatching you toward interpretation, urging you beyond dogmatism, beyond doctrine, beyond ideology, beyond authority.“, Ebd. |
[3] | Richard Birkett, zit. im Ausstellungstext: and Materials and Money and Crisis, mumok, Wien, 8. November 2013 bis 2. Februar 2014. |