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TRANCE, TRAUMA, TRIEB Beate Söntgen über Emmelyn Butterfield-Rosens Untersuchung der Visualisierung menschlicher Disposition in der Moderne

Vaslav Nijinsky, „L’Après-midi d’un faune“ (The Afternoon of a Faun / Der Nachmittag eines Fauns), 1876

Vaslav Nijinsky, „L’Après-midi d’un faune“ (The Afternoon of a Faun / Der Nachmittag eines Fauns), 1876

Um 1900 wandelt sich die menschliche Figur in der europäischen Kunst. Plötzlich nehmen Körper vermehrt ausdrucklose, frontale Haltungen ein. Die Kunsthistorikerin Emmelyn Butterfield-Rosen ergründet diese Entwicklung in ihrem Buch Modern Art and the Remaking of Human Disposition und führt die neuen Posen auf ein grundlegend verändertes Menschenbild zurück. Ihre Thesen zu dieser historischen Transformation entwickelt sie unter anderem in Bezug auf drei Werke, die um die Jahrhundertwende entstanden. Wie die Kunsthistorikerin Beate Söntgen in ihrer Rezension argumentiert, ist Butterfield-Rosens Studie insbesondere durch ihren umfassenden theoretischen Rahmen für die Gegenwart des kunstgeschichlichen Feldes und darüber hinaus relevant.

Schon das Inhaltsverzeichnis von Emmelyn Butterfield-Rosens Buch Modern Art and the Remaking of Human Disposition (2021) ist verheißungsvoll. Es zeigt eine unerwartete Konstellation von künstlerischen Arbeiten um 1900 in verschiedenen Genres und Medien an, von Georges Seurats Gemälden über die Beethoven-Ausstellung der Wiener Secession bis zu Vaslav Nijinskys Tanz L’Après-midi d’un faune (Der Nachmittag eines Fauns, 1912). Thematische Klammer des Buches ist die Haltung, die gemalte oder lebendige Figuren in künstlerischen Werken und Darbietungen annehmen. Diese durch Frontalität, Gestenarmut und Ausdruckslosigkeit geprägte Haltung liest Butterfield-Rosen als visuelle Artikulation einer neu verstandenen menschlichen Disposition. Nicht mehr Denken und Empfinden, sondern automatisierte Regungen und das nicht kontrollierbare Unbewusste kommen in diesen Darstellungen zur Geltung – Darstellungen, in denen das Menschliche und das Tierische in einer Weise vermischt werden, die auch die damals zeitgenössische Philosophie, die szientistische Psychologie wie die Psychoanalyse betonen.

Die darin liegende Kränkung, dass der Mensch eben nicht die geistreiche Krönung der Schöpfung und auch nicht, wie es um 1900 so sprechend hieß, „Herr“ im eigenen Hause ist, spiegelt sich auch in den zeitgenössischen Kritiken zu den Werken: Beklagt wird, dass anstelle von Rationalität und Empfindsamkeit eine stumpfe, starre, animalische und eben gar nicht intellektuelle Daseinsform zur Anschauung gebracht würde. Das künstlerische Mittel par excellence, so Butterfield-Rosen, ist die Frontalität der Figuren, und zwar nicht im Sinne einer modernistischen Lesart, die frontale Figurendarstellung als Zeichen des guten Weges zur Abstraktion betrachtet. Butterfield-Rosen sieht Frontalität vielmehr als künstlerische Antwort auf den Anspruch, die Darstellung psychischer Innerlichkeit auf den Stand der damaligen Einsichten und Theorien zu bringen.

Dies vertieft die Autorin mit Blick auf den rhetorischen Figurbegriff: Dieser bezeichnet im heutigen Gebrauch eine Gestalt, in der ein Gedanke zum Ausdruck kommt und steht damit in Einklang mit der Vorstellung, dass das menschliche Subjekt sich durch intellektuelle Fähigkeiten auszeichne. Die jahrhundertelangen Bemühungen in der europäischen Kunst um Varianz und Lebendigkeit in dessen Darstellung werden um 1900 in ihr Gegenteil verkehrt, nämlich zu solchen Bemühungen um steife, unbewegte, frontale Haltungen, wie sie in der griechischen Archaik verwendet wurden. Damit werden die Figuren figurae im ursprünglichen rhetorischen Sinne, nämlich Ausdruck einer Abweichung von der Norm, in diesem Fall von der Forderung nach kunstvoller Lebendigkeit, die wiederum als Ausdruck spezifisch menschlicher Fähigkeiten, insbesondere geistvoller Schöpfungskraft galt. Wortbedeutungen in ihrem Wandel nachzuspüren, gehört zu den ertragreichen, die Historizität der Gegenstände erkundenden Verfahren der Autorin.

Die drei Teile der Arbeit, die je einer der eingangs genannten künstlerischen Positionen gewidmet sind, lassen sich auch unabhängig voneinander lesen. Doch in der Konstellation wird der Facettenreichtum der neuen Einsichten in die Conditio humana sowie ihrer künstlerischen, wissensgeschichtlichen und sozialen Folgen deutlich. Butterfield-Rosen betrachtet das Posieren – die Haltungen, die sich im Umgang mit Posen zeigen – unter der Überschrift der Disposition; ein Begriff, der bewusst die Nähe zur rhetorischen Figur der dispositio sowie zum Foucault’schen Dispositiv sucht. Posen sind, so die Arbeitshypothese, formale Mechanismen, durch die die diskutierten Werke verschiedene Wissenstypen über die innere Verfassung des Subjekts an ihr Publikum vermitteln. Die Autorin versteht die künstlerischen Arbeiten, mit Hubert Damisch gesprochen, als theoretische Objekte, die ihre Betrachter*innen zum Griff zur Theorie verpflichten und sie zugleich mit den Mitteln ausstatten, dies zu tun.

Wie dies zu verstehen ist, führt Butterfield-Rosen auf brillante Weise vor. Sie entfaltet ihre Thesen aus konzisen Werkbetrachtungen, vor allem aus der Beobachtung von häufig übersehenen Details, in Verbindung mit der Analyse zeitgenössischer Kunstkritiken und wissenschaftlicher sowie philosophischer Ansätze. So erhellt die Studie den Zusammenhang historischer Konzepte der Psyche und der formalen Logik künstlerischer Arbeiten.

Geores Seurat, „Les Poseuses“ (Models / Die Modelle), 1886/88

Geores Seurat, „Les Poseuses“ (Models / Die Modelle), 1886/88

Georges Seurat ist ein idealer Auftakt. Kaum ein anderes Werk der Zeit kehrt die neue Auffassung menschlicher Disposition so deutlich hervor wie Les Poseuses (Die Modelle, 1886/88) – zumindest wenn der Blick geschärft ist durch die Autorin. Mit Giorgio Agamben konstatiert sie einen „Verlust der Gesten“ um 1900, der mit einer obsessiven Befassung mit selbigen korrespondiert, wie etwa in Aby Warburgs Bilderatlas Mnemosyne. Den Umschlag von sprechenden Gesten in unlesbare Haltungen markiert bereits Édouard Manets Le Dejeuner sur l’herbe (Das Frühstück im Grünen, 1862/63), dessen leere Körpersprache vor allem die Untauglichkeit tradierter Formen innerbildlicher Kommunikation wie auch der Ansprache von Betrachter*innen bezeugt. Es wäre erhellend gewesen, die spezifische Form des Frontalen, wie sie auch schon Manet zur Geltung bringt, als ein Mittel, dem Lebendigkeitspostulat der akademischen Kunstauffassung entgegenzutreten, mit der Frontalität in der Kunst um 1900 zu vergleichen.

Das Repertoire klassischer Posen ruft auch Seurat auf, jedoch in einer selbstbezüglichen Atelierszene, die das Posieren zum Thema hat. Und nicht nur das. Seurat antwortet mit Les Poseuses auch auf die Kritik an seinem Gemälde Un Dimanche à la Grande Jatte – 1884 (Ein Sonntag auf la Grande Jatte – 1884, 1884/86), dem man das Starre, Unlebendige vor allem der Figuren vorgeworfen hatte. Ein Stück des Bildes ist auch auf Les Poseuses zu sehen, und zwar genau der besonders harsch kritisierte Ausschnitt, der die im harten Profil dargestellte Dame mit Cul de Paris und Äffchen zeigt. Affe und Frau spiegeln ihre Haltung wechselseitig und verschleifen, derart aufeinander bezogen, die imitatio in der Kunst mit der Mimikry in Mode und Konsumwelt – eine Verschleifung, die auch die Ähnlichkeit menschlicher und tierischer Verhaltensweisen suggeriert. Denn Affen zeigen, so zum Beispiel in Karikaturen, das Nachahmungsgebot in der Kunst an, ein Gebot, das auch die meist durch Frauen repräsentierte Mode regiert.

Mit der Rückkehr zur anspruchsvollen, großformatigen Figurenmalerei restauriert Seurat die anthropozentrische akademische Tradition, um im selben Zug deren Vorstellung vom höchsten Grad an Leben, nämlich geistvolle Lebendigkeit, zu leugnen, und zwar nicht nur durch die Analogie von Affe und modischer Frau. La Grande Jatte ist geprägt von einer rigiden, repetitiven, kruden Darstellungsweise, die von der Kritik entsprechend herabgesetzt wurde. Die hieratischen Gestalten wurden von den wenigen Anhängern als neuer „Primitivismus“ gefeiert, der auch das Kreatürliche im Menschen zur Geltung bringe. Die Starre der Figuren auf La Grande Jatte konterkariert Seurat in Les Poseuses mit Zitaten klassischer Posen, die Sanftheit, Anmut und Kontemplation suggerieren.

Die zentrale Figur in Les Poseuses nimmt die Haltung des Demosthenes ein, einer berühmten klassischen griechischen Statue, die als das erste psychologische Porträt, als Inbild intellektueller Aktivität eines denkenden Subjekts schlechthin galt. Die geschlechtliche wie mentale Inversion der gemalten Figur liest Butterfield-Rosen vor dem Hintergrund der Frauenbewegung, dem Bild der neuen Frau und der Experimente zur Hysterie: Die zentrale Figur, nun eine penseuse, wird in ihrer tranceartigen Haltung zur Persiflage des höchsten Wesens. Ob jedoch eine feministische Lesart trägt, bezweifelt die Autorin selbst. Denn der weibliche Körper wird nicht nur in der Pariser Psychatrie Hôpital de la Salpêtrière, sondern auch im Atelier zum männlich dominierten Spektakel eines unbewussten Automaten. Mit einer Untersuchung semantischen Wandels, in dem Fall der Katalepsis, zeigt Butterfield-Rosen eine Les Poseuses prägende Ambivalenz auf. Katalepsis bezeichnet tranceartige Zustände, in einer alten Bedeutung jedoch Verstehen und Ergreifen. Diese Doppelbedeutung zwischen aktivem Erfassen und unbewusstem Dämmer sieht die Verfasserin auch im Schillern des Blicks der zentralen poseuse. In der Haltung des Demosthenes zeigt sie, was sie ist – ein Modell im Atelier, ermüdet vom langen Posieren und wissend um ihre soziale wie ökonomische Situation –, und zugleich geht ihr Blick ins Leere, bleibt ausdruckslos und verschlossen. Die um 1900 so vehement gestellte Frage, was das Denken, also das, was in der Perspektive der Zeit die höchste Spezies, den Menschen, auszeichnet, denn sei, wird hier mit einer Kippfigur beantwortet: Denken erscheint nicht als souveräner Akt, wie er in den seit der Antike tradierten Posen des sinnierend aufgestützten Kopfes oder der von der Anstrengung des Denkens gerunzelten Stirn anschaulich wird, sondern changierend zwischen Bewusstem und Unbewusstem.

Gustav Klimt, „Beethoven Frieze / Beethovenfries (The Hostile Powers / Die feindlichen Gewalten)“, 1901

Gustav Klimt, „Beethoven Frieze / Beethovenfries (The Hostile Powers / Die feindlichen Gewalten)“, 1901

Die Rolle des neuen psychologischen und psychoanalytischen Wissens wird prägnant an der Beethoven-Ausstellung in der Wiener Secession 1902 herausgearbeitet. Hier wird noch einmal, in Max Klingers Denkmal des Komponisten, das ganze Aufgebot an Schöpfermythen aufgefahren: Männlich, geistvoll, genial thront Beethoven in einer Haltung, die zwischen hieratisch und klassisch schillert. Zersetzt werden die Haltung und die mit ihr verbundene Vorstellung des kreativ-gedankenvollen Genies vom Wandschmuck, der die zentrale Figur durch wuchernde Ornamentik entmächtigt. Vor allem in Gustav Klimts Beitrag werden statt Intellektualität nun Erotik und Sexualität als buchstäbliche, nahezu tierische Triebkraft vor Augen gestellt, wie die spermienförmigen Ornamente und die goldenen Affenköpfchen anzeigen. Es handelt sich aber nicht, wie Butterfield-Rosen im Vergleich mit Auguste Rodin zeigt, um eine ejakulatorisch verstandene Verbindung von Schöpfungsakt und Sexualität, die fruchtbare Gedanken gebiert und die Körperlichkeit auch des Denkens hervorkehrt. Im Beethoven-Denkmal herrscht der von Friedrich Nietzsche bespottete „Geist der Schwere“ vor, der durch die Sitzposition der Figur bekräftigt würde. Klimts Darstellung hingegen vermittelt Erfahrungen des Fließens und der Leichtigkeit und evoziert einen unbewussten Bereich des Lebens. Auch hier arbeitet die Verfasserin wieder mit der buchstäblichen und der metaphorischen Bedeutung von Wörtern, die Kritiker*innen verwenden, und genauen ikonografischen Beobachtungen, so im Themenfeld von Ergreifen und Gravitas. Es sind die Fingerstellungen der Klimt’schen Paradiesengel, die der Faust des skulptierten Beethoven mit buddhistisch konnotierter Offenheit begegnen.

Eine Zuspitzung des Sexuellen als regressive Triebkraft, die auch in den Künsten regiert, findet sich in Vaslav Nijinskys choreografischer Adaption von Claude Debussys Prélude à l’après-midi d’un faune (Vorspiel zum Nachmittag eines Faunes, 1894), einer Vertonung des entsprechenden Gedichts von Stéphane Mallarmés, und zwar gerade durch starre Posen in Frontal- oder scharfer Profilansicht, die eine Stillstellung von Bewegung ausgerechnet im Tanz bedeuten. Auch hier wimmelt es von Zitaten, diesmal von griechischen Vasen. Leitmotiv ist die erektile Haltung von Arm und Hand des Fauns, die dessen Penetrationsbegehren der zurückweichenden Nymphe wie dem geschockten Publikum unmissverständlich anzeigen. Sexuelle Vereinigung findet nicht statt, der Faun muss sich mit sich selbst begnügen. Dass Nijinsky, wie eine späte autobiografische Schrift bezeugt, bewusst an das zeitgenössische, durch Sigmund Freud genährte Interesse an der gerade entdeckten infantilen Sexualität anschließt, zeigt sich in seinen Regieanweisungen: Die Nymphe soll deutlich größer sein als der zierliche Faun, dessen geschecktes Kostüm seine tierische Natur überwiegen lässt.

Durch die Verbindung präziser ikonografischer und diskursgeschichtlicher Analysen kehrt Butterfield-Rosen das Zusammenspiel von Masturbation, Exhibitionismus und Schaulust hervor, das Nijinsky durch seine Mise en Scène nicht nur sichtbar macht, sondern damit auch das Publikum spiegelt. Alle tun es, ist die in ihrer Sichtbarkeit unerträgliche Botschaft, die das Stück übermittelt. Traumarbeit und künstlerische Darstellung treffen sich, so Butterfield-Rosens These, in dem Versuch, das Unbewusste, die Psyche als einen Apparat zum Ausdruck zu bringen, der menschliche Disposition dominiert.

Nicht alle Aspekte der facettenreichen Studie lassen sich hier wiedergeben. Die Autorin verbindet in intelligent gesetzten theoretischen Rahmungen auf erhellende Weise Sozial- und Diskursgeschichte, Rezeptionsästhetik und Bildwissenschaft. Überzeugend werden die Thesen aus der intensiven Auseinandersetzung mit dem Material entwickelt. Dass der Fragehorizont der historischen Studie aus der Gegenwart gewonnen ist, zeigt sich gleichermaßen in der Diskussion von „Primitivismen“ wie in der Aufmerksamkeit für die problematischen Implikationen des Begriffs Posthumanismus, der in seiner kritischen Perspektive den Bezug auf den europäischen Humanismus bewahrt. Die Studie lässt in ihrem intellektuellen Zugriff, in der Präzision der Beobachtungen wie der Argumentation und in der anschaulichen, klaren Darstellung nichts zu wünschen übrig.

Emmelyn Butterfield-Rosen, Modern Art and the Remaking of Human Disposition, University of Chicago Press, 2021, 352 Seiten.

Beate Söntgen ist Professorin für Kunstgeschichte an der Leuphana Universität. Sie ist Sprecherin des DFG-Graduiertenkollegs „Kulturen der Kritik“ und leitete mit Susanne Leeb das Projekt „PriMus – Promovieren im Museum“. Derzeitig forscht sie zur „Künstlerischen Lebensform als Intervention“ im Rahmen des SFB „Intervenierende Künste“ der Freien Universität Berlin. Ihre Forschungsgebiete sind Kunst, Kunsttheorie und Kunstkritik der Moderne und der Gegenwart. Zuletzt hat sie mit Julia Voss den Reader Why Art Criticism? (Hatje Cantz, 2022) herausgegeben.

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