OUT OF PLACE: FOREIGNERS EVERYWHERE Burcu Dogramaci über die 60. Biennale in Venedig
Als Daseinsform mit grenzübergreifenden Wechseln des Wohn- und Arbeitsortes kann Migration die Kunstproduktion prägen und Ausdruck in einer spezifischen migratorischen Ästhetik finden. Ein Außerhalb-von-etwas-Sein ist Vorbedingung sowohl der Kunst der Migration als auch der Migration der Kunst. Der Soziologe Zygmunt Bauman hat dies 1998 mit Referenz auf das Exil, das heißt, einen politisch erzwungenen Ortswechsel, auf eine grundlegende Formel gebracht: „To be in exile means to be out of place; also, needing to be rather elsewhere; also, not having that ‚elsewhere‘ where one rather would be. Thus, exile is a place of compulsory confinement, but also an unreal place, a place that is itself out of place.“ [1] Out of place waren 1999 auch die Memoiren des Literaturtheoretikers Edward Said betitelt, die ihren Ausgang in seiner Kindheit und Jugend in Palästina nehmen. [2] Seitdem Bauman (ein jüdischer Emigrant) und Said (ein christlich-palästinensischer Emigrant) ihre Texte schrieben, haben Fluchtbewegungen weltweit zugenommen, und Migration ist längst zum affektiven Kampfbegriff rechter und rechtsextremer Parteien geworden. Dies negiert, dass Migration mit der Existenz des Homo sapiens einhergeht und eine Grundkonstante menschlichen Lebens ist, die wesentlich zur Ausbildung der Spezies und seinen (urbanen) Umwelten beitrug.
Von daher lässt sich der aktuellen Kunstbiennale in Venedig unter ihrem Kurator Adriano Pedrosa große Aktualität und gesellschaftspolitische Relevanz bescheinigen. Pedrosa wählte für seine Ausstellung eine Arbeit des Künstlerduos Claire Fontaine als Titelgeberin: Stranieri Ovunque – Foreigners Everywhere. Dieser Werktitel impliziert, dass jede*r überall ein*e Fremde*r ist, und ruft dazu auf, den Begriff der Fremden oder der Zugewanderten kritisch zu hinterfragen. Denn sind nicht alle Menschen, die sich über die Grenzen ihres Lebensortes, Heimat- oder Herkunftslandes hinweg bewegen, sofort Fremde – und damit potenziell Ziel von Abwehr und Xenophobie? Pedrosa öffnet sein Thema „Foreigners Everywhere“ in vielfältige Richtungen: hin zu queeren, Indigenen, dekolonisierenden Positionen, zu Autodidakt*innen, „Outsidern“ und mit einer Emphase auf dem Textilen. Pedrosa begründet diese Erweiterung über die Semantik von „queer“ als „strange“ und das Fremdsein – in heteronormativen Gesellschaften, in Kunstsystemen, in Nationalstaaten, in denen First Nations oftmals als Fremde stigmatisiert oder exotisiert werden.
Aus Adriano Pedrosas Arbeit als Direktor des São Paulo Museum of Art (MASP) ergibt sich diese thematische Zusammenführung fast unweigerlich, beschäftigte sich sein Museum doch 2017 mit „Histories of Sexuality“, 2018 mit „Afro-Atlantic Histories“, 2019 mit „Women’s Histories, Feminist Histories“ und schließlich 2023 mit globalen „Indigenous Histories“. Venedig ist also Klimax und Summe dieser enzyklopädischen Ausstellungsserie. Ohne dieses Vorwissen jedoch wirkt Pedrosas zentrale Ausstellung additiv und verliert sich in einer Pluralität des Diversen. Zugleich bleiben die Konfliktlinien zwischen diesen verschiedenen Formen des Fremdseins unsichtbar. Migrant*innen, „Outsider“-Künstler*innen, First Nation und queer Artists haben unterschiedliche Ausgangspunkte für das Fremdsein, für das Place-making, für Community-Building, für Akzeptanz und Toleranz in den Gesellschaften – ohne dass das Fremdsein tatsächlich ein gemeinsamer Nenner sein muss.
Und dennoch bietet diese Öffnung für möglichst viele Facetten des Fremdseins auch neue Präsenzen, die in der Ausstellung stets mit dem Proklamatorischen „This is the first time the work of […] is presented at Biennale Arte“ auf den Objektschildern herausgestellt werden. Einige dieser noch nie in Venedig gezeigten Künstler*innen sind starke historische Positionen, darunter Aloïse, Madge Gill und Erica Rutherford. Aber auch die Arbeiten von Greta Schödl und Anna Zemánková sowie – als eine der jüngeren ausgestellten Künstlerinnen – Güneş Terkol bleiben besonders nachdrücklich im Gedächtnis. Das Mit- und Nebeneinander von historischen und aktuellen Werken macht deutlich, dass eine zeitgenössische Kunstausstellung stets auch an den Vorbedingungen der Kunstgeschichtsschreibung arbeitet. Dies meint, dass die Voraussetzungen und Vorläuferschaften neu perspektiviert, nivelliert und anders gerahmt werden.
Zugleich weist Pedrosas Ausstellung kaum auf die Zukunft hinter der eigenen Gegenwart. Die letzte von Cecilia Alemani geleitete Kunstbiennale 2022 verfolgte einen explizit feministischen Ansatz, der sich in verschiedenen Schwerpunkten auch an eine zukünftige Kunst- und Kunstgeschichtspraxis wandte: Nuklei zum antiheldischen Sammeln oder zum feministischen Enchantment in seinen technologischen Aspekten waren als Aufforderungen zu einem radikalen Perspektivwechsel zu verstehen – auch für Zukünftiges. Adriano Pedrosa setzt zwar auch bei einer kritischen Überschreibung kanonischer Kunstgeschichte an, doch gibt er kaum etwas an die Hand, wie sein Konzept des „Foreigners“ etwa methodisch oder theoretisch für die Kunstpraxis und die Historiografie von Kunst zu fassen wäre.
Vielleicht hätte er dem Konzept des Fremden in Gestalt des Migrantischen mehr Vertrauen schenken sollen. Denn dass Migration eine produktive Kategorie für Kunstpraxis und -theorie sein kann, wurde zugunsten einer Diversität und Heterogenität nicht ausbuchstabiert, sondern leuchtete aus einzelnen Arbeiten hervor: Performative Praxen wie jene von Ahmed Umar basieren auf einem durch Migrationserfahrung entstandenen Körperwissen und entgrenzen Kunstgattungen, geschlechtliche Identitäten und Sexualitäten. Korrespondenzen hat Umars Arbeit im Beitrag des Theaterkünstlers Ersan Mondtag, der sich im Deutschen Pavillon seiner familialen Migrationserfahrung widmet. Auf der Basis persönlicher Dokumente seines Großvaters formuliert sich in Mondtags Installation eine Erinnerungsarbeit, die das Material – Lehm, Dreck, Staub – als Rekurs auf die körperliche Höchstleistung einbezieht, mit der Migrant*innen die BRD mit-„gebaut“ haben. Diese und weitere durch Migration bedingte künstlerische Praktiken hätten in Pedrosas Ausstellung akzentuiert werden können. Stattdessen bilden einschlägige kunsthistorische Genres wie das Porträt oder Strömungen wie die Abstraktion die energetischen Zentren der Schau, die „Nucleo Storico“. Die Abteilung mit Porträts von Künstler*innen des sogenannten Globalen Südens zeigt Berückendes wie die Porträts von Semiha Berksoy, Inji Efflatoun und Raquel Forner. Dennoch bleibt offen, welchen Beitrag zu einer Re-evaluation von Kunstgeschichte gerade das kanonische Genre Porträt jenseits von Repräsentationsfragen tatsächlich bietet. Zumal sich Adriano Pedrosa für eine Hängung in Gruppen entschied, in dem ein eher kollektiver Eindruck äußerst unterschiedlicher künstlerischer Zugänge entsteht. Eine dritte „Nucleo Storico“ im Arsenale widmet sich dann „Italians Everywhere“, was auch als Reaktion auf die Anti-Migrationspolitik unter der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni gedeutet werden kann. So lässt sich dieses Kapitel der zentralen Ausstellung, wenngleich nicht explizit im Katalog oder Saaltext erwähnt, durchaus vor dem Horizont aktueller politischer Haltungen lesen: Während Geflüchteten die Einreise in die „Festung Europa“ verwehrt werden soll, flohen und migrierten moderne Künstler*innen einst aus Italien in die Welt, darunter Juan del Prete, Simone Forti oder Lina Bo Bardi, von der die Ausstellungsarchitektur dieser „Nucleo Storico“ stammt.
Jenseits von besonders eindrücklichen Positionen, die sich eigentlich in allen Räumen der zentralen Ausstellungen fanden, lassen sich von dieser Biennale zwei Beobachtungen mitnehmen. Erstens sollte bei dem sozialkritischen Ausstellungsthema „Foreigners Everywhere“ ein gewisser Anspruch an die eigenen Strukturen vorhanden sein: Wenn aber die Reste und der Verpackungsmüll des Mittagessens vom Schwarzen Küchenpersonal entsorgt werden, dann könnte dies Rückschluss auf eine fehlende kritische Durchdringung der Infrastrukturen der Biennale geben. Das heißt, es wird auf einer Ausstellungsebene auf Missstände wie soziale Ungleichheit in Migrationsgesellschaften verwiesen, die aber in der eigenen Institution vorhanden sind (und nicht thematisiert werden). Eine zweite Beobachtung: Der terroristische Angriff der Hamas auf Israel im Oktober 2023 und die anhaltende Bombardierung Gazas durch die israelische Regierung brachten auch die Biennale in politisches Fahrwasser. In den Vorbesichtigungstagen war das Palästinensertuch (Kufiya) ein sichtbares Attribut von Solidarität und Protest. Der Boykott israelischer Kunstschaffender und des israelischen Pavillons wurde von Demonstrant*innen eingefordert, fand sich aber auch in der Videoausstellung „Disobedience Archive“ (The Zoetrope) im Arsenale. Zugleich war der israelische Pavillon auf Wunsch der Künstlerin Ruth Patir und der Kuratorinnen Mira Lapidot und Tamar Margalit ohnehin geschlossen und sollte erst nach Waffenstillstand und Freilassung der israelischen Geiseln geöffnet werden.
Leider vermochte die Biennale kaum, Räume des Dialogs in einer komplexen Gemengelage zu öffnen. Dabei hätte gerade die mehrsprachige titelgebende Arbeit von Claire Fontaine diese Öffnung bieten können. Ihre Lichtinstallation „Fremde überall“ ist auch an der Fassade des Jüdischen Museums in Wien angebracht. Warum sich das Jüdische Museum nach außen mit dieser Arbeit positioniert? Weil Jüdinnen und Juden gleich, wo sie leb(t)en und ihren Beruf ausüb(t)en zu Fremden gemacht werden und wurden. Sie waren nie nur Österreicher*innen oder Deutsche, sondern deutsche oder österreichische Juden. Die Gelegenheit, das eigene Ausstellungsthema als Möglichkeit zu nutzen, um das Gemeinsame und/oder Widersprüchliche des Fremdseins oder Migrantisch-Seins zu betonen, wurde zu wenig genutzt. Auch andere Arbeiten in der Ausstellung hätten ein Ausgangspunkt sein können. Die zu Recht ausgezeichnete Installation des feministischen Māori Mataaho Collective, zu erleben gleich am Beginn der zentralen Ausstellung im Arsenale, betont die Versammlung als Grundfigur gemeinschaftlicher Produktion und Arbeit, Kreativität und Debatte. Es bleibt die Hoffnung, dass diese gewobene Architektur noch innerhalb der Laufzeit der Biennale bis November als Obdach für Dialoge innerhalb der politisch zerrissenen Kunst-Community verwendet werden kann.
„La Biennale di Venezia“, Venedig, 20. April bis 24. November 2024.
Burcu Dogramaci ist Kunsthistorikerin, lehrt an der Ludwig-Maximilians-Universität München und ist Direktorin des Käte Hamburger Kollegs global dis:connect.
Image credits: Courtesy of La Biennale di Venezia, Fotos Marco Zorzanello